Ein neuer Typus von Kirche?

„Steinreich“ ist die Kirche, doch viele Kirchgebäude werden nicht mehr (nur) für Gottesdienste genutzt. Der Podcast „Aufgeschlossen – Ein neuer Typus Kirche“ geht der Um- und Weiternutzung von Kirchen nach.

„Warum blieb die Kirchenorgel von Halberstadt vom 5. September 2001 bis zum 5. Februar 2003 mit voller Absicht stumm?“ – Im Oktober 2004 sorgte diese Frage für einen Eklat in meiner Lieblingssendung „genial daneben“, weil Bernhard Hoëcker die ziemlich verblüffende Antwort für sich behielt (YouTube).

Gerade als Moderator Hugo Egon Balder nach der vergeblichen Raterei der anderen Teilnehmer*innen zur Auflösung ansetzen wollte jedoch erklärte Hoëcker, dass in Halberstadt das langsamste und damit auch längste Stück überhaupt aufgeführt wird: John Cages „ORGAN²/ASLSP“ (eben: as slow as possible, so langsam wie möglich). Die Halberstädter Aufführung begann im genannten Zeitraum mit einer Pause, während der kein Ton zu hören war. Die anderen vier Comedians im „genial daneben“-Panel sind außer sich. Es folgt ein verbales Handgemenge. Hella von Sinnen ruft: „Dieser kleine Giftzwerg hat es die ganze Zeit gewusst!“

Fast 20 Jahre später hätte Hoëcker mit seiner Aktion vielleicht keinen Erfolg mehr. Die Zahl der Kirchen, die ausschließlich für Kunstprojekte oder Konzerte genutzt werden, ist enorm gestiegen. ­ Nicht nur im ländlichen Raum, nicht nur im Osten, sondern auch in Städten mit großer Kirchenmitgliedschaft wie Münster oder Passau.

Unter dem Titel „Aufgeschlossen – Ein neuer Typus Kirche“ ist nun ein Podcast am Start, der sich genau solcher Umnutzungen annimmt. Aline Ott, Eule-Leser*innen vielleicht von #Theoversity und aus dieser „WTF?!“-Podcast-Episode bekannt, interviewt verschiedene Stimmen rund um ein Projekt in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Dort hat sich, so der Tenor, viel getan in letzter Zeit. In den vergangenen zehn Jahren richtete Thüringen eine Internationale Bauausstellung (IBA) aus. Einer der gewählten Schwerpunkte war – welch‘ ein Glück für die EKM! – das Thema Leerstand unter dem Titel „LeerGut umbauen“.

So wurden unter dem Motto „500 Kirchen – 500 Ideen“ öffentlich Impulse für Gotteshäuser gesammelt. Einige von ihnen wurden im Laufe des Projektzeitraums umgesetzt. Längst geht des dabei nicht mehr nur die eingangs geschilderten Konzerthäuser. Mehrere so genannte „He(e)rbergen“ für Pilgernde und Wandernde sowie ein Restaurant wurden in einer Kirche eingerichtet. Stets zwei Beteiligte sprechen im Podcast im Schnitt 45 Minuten über einen Aspekt des Projekts: Etwa Theorien zur Nutzung von Kirchen oder konkrete Fallbeispiele. Als Einstieg empfehle ich die Folge 1 zur grundsätzlichen Überlegung „Haben Kirchengebäude eine Zukunft?“.

Aufforderung zum kreativen Freidrehen

Man sei „kein elitärer Zirkel […], sondern wir sind Teil der Dorfgemeinschaft, Teil der Stadtgemeinschaft“, schildert Elke Bergt die ideale Wahrnehmung eines Kirchengebäudes. Sie ist Leiterin des Baureferats der Landeskirche. Nicht nur getaufte Kirchensteuerzahlende mit Vorliebe für Johann Sebastian Bach und Margot Käsmann, sondern alle Anwohner*innen sind aufgerufen, sich einzubringen. Mit ihrem „Steinreichtum“, wie der Überschuss an unbeweglichem Eigentum im Slang der EKM genannt wird, tritt die Kirche an die Öffentlichkeit. Alle sind eingeladen, Ideen zu entwickeln. Gesprächspartner Oberkirchenrat Christian Fuhrmann ruft sinngemäß zum kreativen Freidrehen auf.

Von „parasitärer Nutzung“ ist an anderer Stelle die Rede. Gemeint sind sakrale Räume, die keine mehr sind, bei denen die neue Verwendung aber mit dem kirchlichen Charakter spielt. Kerstin Menzel von der Theologischen Fakultät in Leipzig (s. „Frau Doktor“ Nr. 13 „Gemeinsam weiter als alleine“) kennt ein Beispiel, wo anstelle eines Bibelwortes ein Lob auf das Bier in Szene gesetzt wurde. Gemeinsam mit Jürgen Willinghofer wird unter anderem die Gleichzeitigkeit von Spiritualität und Profanem diskutiert. Nicht alles davon passt im Engeren Sinne auf Mitteldeutschland, wenn etwa von überlaufenen Kirchen in Urlaubsorten die Rede ist.

Eine gewisse Wehmut über die nicht fortgesetzte Erstnutzung der Kirchen als Kirchen schwingt häufig doch mit, so mein Eindruck, da das Ideal eines vielfältig genutzten Raumes natürlich immer voraussetzt, dass an einer wie auch immer gearteten gottesdienstlichen Bespielung von Kirchen Interesse besteht. Es ist ja einer Dorfgemeinschaft nicht per se zum Vorwurf zu machen, wenn es keine Omas mehr gibt, die zum Kerzenanzünden kommen, damit die Kirche im Ortskern doch noch etwas Geist atmet. Im Ganzen teile ich aber den hier gezeichneten Wunsch nach bunten und für alle Menschen zugänglichen Kirchen. Insgesamt wird dieser Podcast durch seinen Optimismus getragen. Es wird im besten Sinne in Hoffnung gelebt und ohne Musik getanzt.

Die Abrechnung steht noch aus

In der Vielfalt der pfiffigen Namen, Titel, Projektbeschreibungen und Institutionen, die im Podcast Erwähnung finden, bin ich etwas untergegangen. „Neuer Typus Kirche“, „hybride Räume“, „Erprobungsräume“ und alle oben bereits  genannten Stichworte sind nur ein paar der Vokabeln die Hörenden um die Ohren fliegen. Ohne die zugehörige Website inklusive Bildern können Außenstehende nur begrenzt verstehen, was Sache ist.

Sicher ist „Kirche aufgeschlossen“ äußerst transparent darin, alle Beteiligten aus Beratungsagentur, Architekturbüro, Kirche und Wissenschaft zu Wort kommen zu lassen. Ich brauche aber wohl zum vollen Verständnis ein Organigramm. Wohl auch, weil der Versuch, die sehr lange und ereignisreiche Laufzeit des Projekts mit einem Podcast zu begleiten, erst zu dessen Abschluss unternommen wurde, fühlt sich „Kirche aufgeschlossen“ eher wie eine Sammlung freier Aussprachen in einer Synode an.

Eine abschließende Bewertung oder Abrechnung bleibt jedoch noch offen: Wenn nach Zahlen der EKM von 2021 auf 190 Mitglieder eine Kirchgebäude kommt, reichen dann Ideen, engagierte Menschen innerhalb oder außerhalb der Evangelischen Kirche und (last but not least) das Geld aus? Bleiben die Kirchen wirklich offen oder wird zumeist doch zugesperrt werden müssen? „Kirchen aufgeschlossen“ ist weit davon entfernt, überoptimistisch oder gar unehrlich zu sein. Der Fokus der bisherigen Folgen rückt aber von einer sehr globalen Schilderung des Problems in Einzelfälle. Oberkirchenrat Fuhrmann, Dezernent für Bildung und Gemeinde der EKM, betont, dass grade ältere Kirchen auch längere Zeit abgeschlossen bleiben können, wenn sie niemand mehr braucht.

Ein Schlussakkord

In der Burchardikirche zu Halberstadt steht übrigens in wenigen Tagen, am 5. Februar 2024, der nächste Klangwechsel an. In John Cages Komposition „ORGAN²/ASLSP“ steht eine Erweiterung des ohnehin schon dissonanten Akkords um ein d‘ auf dem Programm. Die Veranstaltung ist öffentlich und frei zugänglich. Wer allerdings ganz nah dran sein möchte, wenn in die speziell konstruierte Orgel eine weitere Pfeife eingeschraubt wird, kann für 200 € ein Sponsor-Ticket buchen. Mit dem Erlös wird der Fortbestand des Projekts finanziert. Bereits 29 von 200 buchbaren Tickets sind jetzt (Stand: 9. Januar 2024) verkauft. Das Projekt steht nicht im Zusammenhang mit Landeskirche oder Bauausstellung.

Meine Zeit mit der Podcast-Kolumne „abgehört“ geht mit dieser Rezension vorerst zu Ende. Nicht alle aktuell hörenswerten Audio-Unternehmungen rund um Theologie, Religionen und Kirche habe ich abbilden können. Ich hoffe aber, dass meine Empfehlungen dem einen oder der anderen eine Freude machen konnten. Ein vorläufiges Fazit haben Philipp Greifenstein und ich bereits vor einem halben Jahr versucht. Der Eule und ihrer Leser*innenschaft bin ich für Unterstützung und Interesse sehr dankbar.


„Aufgeschlossen“ findet ihr auf der Projektwebsite, wo auch weiteres Material zum Stöbern zu finden ist.


#abgehört: Podcast-Kritiken bei der Eule

In unserer Serie „#abgehört“ stellen wir seit 2017 Podcasts vor: Podcasts zu klassischen Kirchenthemen und solche, die Neuland betreten. Podcasts, die von Theolog:innen gemacht werden und sich um Bibel und Predigt drehen, und Podcasts zu (Rand-)Themen, die mehr Aufmerksamkeit verdienen. Von 2022 bis zum Januar 2024 hat Frederik Ohlenbusch für uns frische Podcast-Kritiken geschrieben.

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