True Crime über Missbrauch und Joseph Ratzinger: Geht das gut?

Im Podcast „Seelenfänger“ sprechen Betroffene über die Verbrechen der Katholischen Integrierten Gemeinde, die unter dem Schutz Joseph Ratzingers stand. Kann man über Missbrauch mit einem True-Crime-Podcast aufklären?

„Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.“

(Apostelgeschichte 2, 46.47)

Auf der Suche nach einem Leben in der Nachfolge Jesu haben schon viele Christ:innen versucht, Gemeinschaften nach dem Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde zu bilden. Die Apostelgeschichte malt ein utopisches Bild, in dem die Gemeindeglieder in Harmonie und Gütergemeinschaft zusammenleben. In der 2000-jährigen Geschichte des Christentums sind ihre Nachahmer:innen aber nicht immer erfolgreich gewesen.

Ein solches Projekt war auch die Katholische Integrierte Gemeinde (KIG), die als Reformprojekt der römisch-katholischen Kirche in den 1960er Jahren begann und erst vor Kurzem ihr Ende fand. Ihre Geschichte ist das Thema der zweiten Staffel des Podcasts „Seelenfänger“ aus dem Bayerischen Rundfunk. Nomen est omen: Die KIG war ganz und gar kein Idyll.

Protagonist der Sendung ist der heute 66-jährige Thomas. Während des Studiums lässt er sich vom Konzept der Integierten Gemeinde begeistern. Er trifft intellektuelle und überzeugende Vertreter:innen der KIG und lässt sich für das beeindruckende Programm der Gruppe begeistern. Ganz auf das Wohl der Gemeinde richten sich die Mitglieder aus. Diese versteht sich aber nicht als asketischer Orden, sondern als eine moderne Elite. Die Kirche wieder groß zu machen und sich das Versagen von Christ:innen während der Shoah zur Mahnung zu nehmen, so beschrieb KIG-Gründerin Traudl Wallbrecher ihre Vision.

Nachdem Thomas zunächst voll in seiner neuen Familie aufblüht und sein Herz an Ästhetik und Liturgie in geschmackvoll eingerichteten Räumen verliert, gerät er nach seinem Diplomabschluss in erste Probleme. Weil er nicht als Psychologe arbeiten möchte, schlägt „die Gemeinde“ verschiedene Berufe vor, bis sich Thomas schließlich darauf einlässt, Lehrer zu werden. Wie andere wird er bald zu einer zölibatären Lebensform genötigt, die unter falschen Vorzeichen immer wieder neu verlängert wird. Anderen, die als Paar in der Gemeinde leben, wird der Kinderwunsch verwehrt. Jede persönliche Veränderung, die den vollen Einsatz für das Kollektiv einschränken könnte, wird von oben mit aller Kraft zu verhindern gesucht. Kontakte zu Familie und Freunden außerhalb der KIG sollen möglichst eingefroren werden.

Eine neue Form der Gemeinschaft in der Kirche

Neben Thomas kommen weitere Ehemalige zu Wort. Redaktionell gelingt es dem Team um Sprecherin Sabine Winter, die Perspektiven der Betroffenen in den Vordergrund zu stellen. Darüber hinaus gehende Recherchen und Archivmaterial runden alles ab. Einige der kritischen Einordnungen der Journalist:innen spitzen die Vorwürfe gut zu, ohne dass der Eindruck einer Vereinnahmung der Interviewten entsteht. So formt sich ein fürchterliches Bild: Mit dem Versprechen, Teil einer ganz neuen Form christlichen Lebens zu werden, trieb die Integrierte Gemeinde Menschen in soziale, finanzielle und spirituelle Abhängigkeit.

In Vollversammlungen der KIG wurden Bußbriefe einzelner Mitglieder vorgelesen und diskutiert. Diese Bloßstellung, die sich in keiner Weise mit dem klassischen Beichtsakrament vereinbaren lässt, war eines der Instrumente, mit denen die Schäfchen auf Linie gebracht wurden. Auch eine Art Sippenhaft, bei der Familienmitglieder von auffällig gewordenen Mitgliedern mit zur Verantwortung gezogen wurden, gehörte nach Angabe der Interviewten dazu. Alle Protagonist:innen haben große Teile ihres Lebens bei der KIG verbracht und leiden bis heute darunter, sei es finanziell oder durch psychische Belastung.

Für das Fortbestehen der KIG spielte die Freundschaft Joseph Ratzingers, des späteren Papst Benedikt XVI., eine entscheidende Rolle. Noch als Erzbischof von München und Freising war er der erste, der der KIG die kirchliche Anerkennung zusprach. Seinem Beispiel folgten andere Diözesen, vor allem Paderborn war ein weiterer wichtiger Standort. Auch aus dem Vatikan heraus hält Ratzinger den Kontakt zur Gemeinde, bei der er Urlaub machte oder seine Geburtstage feierte.

Über den siebenteiligen Podcast hinaus widmet sich auch eine gleichnamige Fernsehproduktion demselben Thema (ARD-Mediathek). Die historischen Aufnahmen von der Gründerin Traudl Wallbrecher oder der Villa Cavaletti, das mit dem von Mitgliedern eingetriebenem Geld renovierte Repräsentationsgebäude bei Rom, sind ein gutes Extra. Für das Audioformat, das mit viel mehr Anlauf und wesentlich entschleunigter erzählt, ist die Dokumentation aber kein Ersatz.

Joseph Ratzinger: Ein Freund der Sektierer?

Den Verstrickungen Joseph Ratzingers in den Missbrauch in sog. neuen geistlichen Gemeinschaften (NGG) wie der Integrierten Gemeinde geht Eule-Redakteur Philipp Greifenstein nach: Papst Benedikt XVI. träumte von einer entweltlichten Kirche. In den neuen geistlichen Gemeinschaften sah er dieses Ideal verwirklicht und war deshalb blind gegenüber deren Fundamentalismus und Verbrechen. Hier lesen.

Öffentlich-rechtlicher Take des True-Crime-Genres

True Crime ist im Großen und Ganzen eine nicht enden wollende Pest. Eine unübersichtliche Menge an Content des Genres schlachtet die Schicksale von Opfern aller denkbaren Verbrechen aus, Pressemeldungen der Polizei erhalten den gleichen Stellenwert wie Liveticker der Boulevardzeitschriften. Ich erinnere mich mit Gänsehaut daran, dass die Redaktion von ZEIT Verbrechen einmal den Titel „Das Kind im Kühlschrank“ für eine angemessene Episodenüberschrift hielt.

„Wenn professionelle Redaktionen grausame Taten nach Entertainmentkriterien aufbereiten und vermarkten, konsumieren die Leute sie halt auch als Entertainment“, gab im Anschluss daran Özge Inan auf Twitter zu bedenken. „Ob wir das als Gesellschaft akzeptabel finden, muss man (ohne Zeigefinger erheben zu wollen) echt mal diskutieren.“ Ist es angemessen, Fälle von geistlichem Missbrauch zu verhandeln, wenn zum Stimmungsaufbau Musik unterlegt wird, die auch aus einem Münchener „Tatort“ geklaut sein könnte? Philipp Greifenstein hatte hier in der Eule in seiner Besprechung der Netflix-Dokumentation „Keep Sweet. Pray and Obey.“ die Frage schon einmal gestellt, ob man Missbrauch in einer Sekte mit den Mitteln des True Crime-Genres erzählen kann.

Ein entscheidender Unterschied zu vielen True Crime-Produktionen ist sicher, dass im „Seelenfänger“-Podcast nicht vor allem über, sondern mit Betroffenen gesprochen wird: Das gesamte Skript der Reihe ist aus ihrer Perspektive geschrieben. Der hohe Redeanteil der Betroffenen, eine klare Kennzeichnung von allem Darüberhinausgehenden, eine eher sachliche statt allzu pathetische Kommentierung und kein einziges Wort, mit dem Zeug:innenaussagen in Frage gestellt werden – all das ist „Seelenfänger“ hoch anzurechnen. Wenn das True Crime-Genre schon bedient wird, zumal von öffentlich-rechtlichen Redaktionen, dann am ehesten so.

Hier wird deutlich auf Aufklärung und Information statt auf einen kurzen Unterhaltungswert abgezielt. Dahinter steht wohl auch ein aktivistischer Impuls. Denn die schnelle Abwicklung der Integrierten Gemeinde durch das Erzbistum München und Freising im Jahr 2020 hat zwar Fakten geschaffen, das durch die Visitation aufgedeckte Versagen Joseph Ratzingers hat bei den Diskussionen um seine sofortige Selig- und Heiligsprechung („Santo subito!“) nach seinem Tod aber bisher noch keine allzu große Rolle gespielt. Unfreiwillig lieferte der Bayerische Rundfunk Anfang Dezember 2022 mit „Seelenfänger“ dazu aber wichtigen Gesprächsstoff.

In einer nicht enden wollenden Flut von Amtsversagen in den Kirchen kommt Einzelfällen zu wenig Aufmerksamkeit zu. „Noch so was mit der Kirche“, hört man da das fiktive Redaktionsbüro einer überregionalen Zeitung genervt den Kopf schütteln. Da ist eine Berichtserstattung in Form eines True Crime-Podcasts natürlich einträglicher. Mit „Seelenfänger“ liegt aber auch eine gut zugängliche Art von Fallstudie darüber vor, wie unter dem Schirm einer großen Kirche geistlicher Missbrauch geduldet wurde. Allen, die in Kirchen unterwegs sind, ist der Podcast sehr zu empfehlen.


„Seelenfänger“ findet sich auf gängigen Podcast-Plattformen und in der ARD-Audiothek.


#abgehört: Podcast-Kritiken bei der Eule

In unserer Serie „#abgehört“ stellen wir seit 2017 Podcasts vor: Podcasts zu klassischen Kirchenthemen und solche, die Neuland betreten. Podcasts, die von Theolog:innen gemacht werden und sich um Bibel und Predigt drehen, und Podcasts zu (Rand-)Themen, die mehr Aufmerksamkeit verdienen. Seit 2022 schreibt Frederik Ohlenbusch für uns frische Podcast-Kritiken.

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