Ernst genommen – Die #LaTdH vom 17. Januar

Die Debatte um die Sterbehilfe ist in der Kirche neueröffnet. Außerdem: Sterben in der Corona-Pandemie, mangelnde Professionalität und ein predigender Politiker.

Debatte

Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen – Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie (FAZ, zeitzeichen.net)

In der Frankfurter Allgemeinen (€) (wieder-)eröffnen die TheologieprofessorInnen Reiner Anselm und Isolde Karle sowie der Präsident der Diakonie Deutschland Ulrich Lilie die Debatte um den assistierten Suizid. Mitten in der Corona-Pandemie, während so viele Menschen wie nie zuvor an Covid-19 sterben, mag das Anliegen der drei AutorInnen zynisch wirken, über das selbstbestimmte Sterben diskutieren zu wollen. Der Deutsche Bundestag wird sich mit einer gesetzlichen Neufassung des vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Verbots der „geschäftsmäßigen“ Suizidbeihilfe wohl auch nicht mehr in dieser Legislatur befassen. Aber!

Bei diesem wichtigen und zugleich emotional belastenden Thema ist jeder Zeitpunkt so gut wie ein anderer. Und um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Karlsruher Urteil haben sich die christlichen Theolog:innen und Kirchen eh schon zu lange gedrückt (mit Ausnahmen). Der Debattenbeitrag nimmt das Urteil in seiner Stoßrichtung absolut ernst und flüchtet sich nicht in die üblichen Abweisungen.

Karle, Lilie und Anselm, immerhin auch Vorsitzender der Kammer für öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), ist mit ihrem Debattenbeitrag, den das Magazin zeitzeichen für alle interessierten Leser:innen ohne FAZ-Abo eingekauft und zugänglich gemacht hat, Erstaunliches gelungen:

Sie haben eine Grundlage geschaffen für die weitere ernsthafte und sachorientierte Debatte. Sie haben den Knoten des Schweigens über Alternativen zur bisherigen Totalablehnung des assistierten Suizids in der verfassten Kirche weiter gelockert (wie es vor einem halben Jahr der Hannoversche Landesbischof Ralf Meister unternommen hat). Der Beitrag der Drei ist voraussetzungsreich und keine leichte Lektüre – aber leicht kann und sollte man es sich bei diesem Thema nicht (mehr) machen.

Suizid mit Hilfe der Kirche? – U. Rödle / C. Kirsch (heute journal, ZDF)

In einem kurzen Beitrag widmet sich das „heute journal“ des ZDF der Debatte. Neben Ulrich Lilie kommen auch ein Palliativmediziner und Heinrich Bedford-Strohm (@landesbischof), der Ratsvorsitzende der EKD, zu Wort. Bedford-Strohm wiederholt, etwas ausführlicher noch in einem kurzen Text auf Facebook, seine bekannte Position der Ablehnung des assistierten Suizids im Allgemeinen und der kirchlichen Begleitung desselben im Besonderen.

Der Mann hat darüber schließlich schon ein ganzes Buch geschrieben. Zum Buch schrieb ich damals lobend, dass „mir ein Theologe und Kirchenmann lieber [ist], der als sich selbst überprüfendes und darum vorsichtiges Subjekt auftritt, als einer, der Glaubenssätze einfach wiederkäut“. Das gelingt ihm in der aktuellen Debatte zunächst allerdings nicht. Den kurzen Facebook-Post empfinde ich tatsächlich als Rückschritt. Dort schreibt er:

Als Kirche stehen wir selbstverständlich auch an der Seite derer, die aufgrund von Erkrankung oder einer anderen Notsituation keinen anderen Ausweg als die Selbsttötung sehen. Aber wir sind dem Schutz des Lebens verpflichtet. Wir setzen deswegen alles daran, Menschen beim Sterben so zu begleiten, dass es ein Sterben in Würde sein kann, ohne dass sie sich das Leben nehmen. Dazu gehört etwa eine gute palliative Begleitung, so dass niemand mit Schmerzen sterben muss.

Es gehört nicht dazu, dass wir mit organisieren, dass menschliches Leben aktiv beendet wird. Es ist aus meiner Sicht ein Missverständnis von Selbstbestimmung, wenn ihre höchste Erfüllung darin bestehen soll, dass Menschen sich das Leben nehmen. Suizid ist immer etwas Tragisches, immer eine Niederlage.

Über die Absolutheit seines letzten Satzes sind wir spätestens seit dem Merkur-Beitrag von Friedrich Wilhelm Graf eigentlich drüber hinaus. Und: Eine tragische Situation ist nicht mit einer „Niederlage“ identisch.

Man fragt sich auch, für wen ein Suizid immer eine „Niederlage“ darstellen soll: Für den Toten? Die Angehörigen, Freunde, die Gesellschaft? Soll damit ein Versagen der sozialen oder medizinischen Unterstützungssysteme angedeutet werden? Dokumentiert wirklich jede Suizidabsicht ein Versagen von Seelsorger:innen, Ärzt:innen, palliativer Versorgung, Familien und sozialem Umfeld? Ist es am Ende eine „Niederlage“ des Patienten, in freier, selbstbestimmter Entscheidung den Wunsch nach Hilfe beim Suizid zu formulieren?

Mir scheint es, die AutorInnen des FAZ-Beitrages sind an dieser Stelle den entscheidenden Schritt weiter, indem sie nicht nur die Betonung der Selbstbestimmung am Lebensende durch das Verfassungsgericht, sondern auch die positive Kompetenz der Einzelnen zur Entscheidung vor Gott und den Menschen vollumfänglich – aber nicht unkritisch (!) – ernst nehmen.

Diskussion innerhalb der Diakonie

In den diakonischen Werken und Einrichtungen werden der FAZ-Beitrag und seine Stoßrichtung jedenfalls jetzt schon intensiv diskutiert. Im Vordergrund stehen Bedenken, ob eine Abgrenzung des assistierten Suizids von einer Tötung auf Verlangen, die der Arzt im ZDF beschreibt, in der Praxis durchzuhalten ist, vor allem aber die Sorge, wie bisher in der „Grauzone“ weiterarbeiten zu müssen. Ulrich Lilie betont auf seinem Blog in einem guten Beitrag:

Wir haben – das ist mir bewusst – ein breites Meinungsspektrum im Verband. Das wird jetzt noch sichtbarer und hörbarer werden, was ich ausdrücklich begrüße. Und ich setze darauf, dass wir uns in unserer Unterschiedlichkeit wahrnehmen und den anderen Positionen mit Respekt begegnen. So können wir miteinander lernen. Das ist auch eine Qualität von Kirche.

Mich fröstelt – Ralf Frisch (zeitzeichen.net)

Auf zeitzeichen.net antwortet Ralf Frisch auf den FAZ-Artikel. Der Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg muss wohl seinen inneren Rhetorikzensor verlegt haben. Ich hoffe sehr, dass der Herr Professor sich nach Abfassung dieses Textes nicht zufrieden zurückgelehnt hat, um sich ob der eigenen Finesse zu feiern. Es steht zu befürchten.

Von einer „Suizidagentur Kirche“ schreibt Frisch. Davon, ihn würde bei der Lektüre des FAZ-Beitrags „frösteln“, nicht nur weil es draußen Winter ist. Was die drei AutorInnen schreiben, mutet ihm „theologisch pikant und putzig“ an. Natürlich darf auch ein mahnender Hinweis auf Dietrich Bonhoeffer nicht fehlen. Frisch erlaubt sich gar – „mit Verlaub“ – die Zuschreibung „heimtückisch“ gegenüber den AutorInnen.

Soll das ernstlich der Stil sein, in dem man von berufener, im Sinne von bestallter, Theologie gedenkt, diese nicht nur durch die aktuelle Gesetzgebungsnotwendigkeit dringende, sondern aufgrund ihrer Implikationen für die christliche Ethik notwendige Debatte zu führen? Unter dem rhetorischen Blingbling vergräbt Frisch jedenfalls alle sinnvollen Einsprüche und Einwände, die man zu Karles, Anselms und Lilies Text haben kann.

Anders sprechen

Man kann in dieser Sache anders denken, man sollte es vielleicht, wie es die AutorInnen des FAZ-Beitrags nahelegen, aber man muss nicht. Aber wir müssen in dieser Sache anders sprechen. Wenn die Debatte, wie sich leider andeutet, im Stile eines theologischen Infights geführt werden soll, dann verlieren alle.

Wenn man, wie Frisch es am Ende seiner rhetorischen Entgleisung schafft, das Schicksal der Corona-Toten ins Spiel bringt, dann müsste einem doch geradezu ins Gesicht springen, dass rund um das Sterben in Corona-Zeiten ein eklatanter Mangel an Freiheit herrscht. Hat Frisch in seinem Furor jemals den Gedanken gewagt, was die vielen alten und mit schwerwiegenden Vorerkrankungen geschlagenen Pflegeheimbewohner:innen, bei einer anderen Gesetzeslage, in einer wachen Stunde in ihre Patientenverfügungen geschrieben hätten?

nachgefasst

Ganz nah bei den Corona-Kranken – Benjamin Lassiwe (Potsdamer Neueste Nachrichten)

Benjamin Lassiwe (@lassiwe) portraitiert Ulrike Döbrich, die Seelsorgerin im Johanniter-Krankenhaus in Treuenbrietzen ist und auch auf Corona-Stationen Patient:innen besucht. Eine schwierige Sache, bei ausreichen Vorsicht und gegebenenen Rahmenbedingungen (!) aber möglich.

Doch für die Patienten, die sie in der Klinik besucht, ist die Pfarrerin neben Ärzten und Ärztinnen sowie den Pflegekräften derzeit die einzige Besucherin. Im Krankenhaus herrscht Besuchsverbot, auf der Corona-Station sowieso. Nur Sterbende – etwa in der Palliativmedizin – dürfen noch Besucher empfangen. „Ich kann mit den Menschen sprechen, ihnen Zuhören“, sagt Döbrich. „Ich kann ihnen auch mal die Hand geben, Nähe und Geborgenheit vermitteln.“

Jeder stirbt für sich allein – Gerhard Wegner (FAZ)

Im Kontrast dazu: Gerhard Wegner, Gründungsdirektor und ehemaliger Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (@SI_EKD), meint in der FAZ „Jeder stirbt für sich allein“ und beklagt den Mangel an öffentlicher Trauer um die Toten der Pandemie, die von den Kirchen organisiert werden sollte. Bei diesem Text lohnt es sich, über die ersten Absätze hinwegzulesen, hintenheraus wird es sehr interessant.

In dem wohl besten religionssoziologischen Buch der letzten Jahre, „Religion in der Moderne“, zeigen Gergely Rosta und Detlef Pollack, warum es völlig falsch wäre, in dieser Situation Religion als nützlich anzubieten. „Die absichtslose, nur um ihrer selbst willen erfolgende Verinnerlichung ihrer Sinnformen ist (. . .) eine wichtige Voraussetzung ihrer Wirksamkeit.“

Ausgerechnet die Profis! – Natalie Grams (Spektrum.de)

Endlich ist ein Impfstoff gegen Covid-19 da. Doch ausgerechnet einige Menschen, die in Medizin und Pflege arbeiten, wollen ihn nicht haben. Wie kann das nur sein?, fragt sich die Ärztin Natalie Grams (@NatalieGrams). Ebenfalls bei Spektrum.de findet sich ein stets aktualisiertes Fact-Sheet zum Corona-Virus. Eine unverzichtbare Ressource in dieser Zeit.

Buntes

Munition für die Polarisierer – Katja Dorothea Buck (Welt-Sichten)

Katja Dorothea Buck setzt sich in den Welt-Sichten (@weltsichten) kritisch mit dem neuesten OpenDoors-Bericht zur Verfolgung von Christen weltweit auseinander. Die Debatte hat unter der Woche in der Eule breiten Raum eingenommen: In einem Interview erläuterte der Generalsekretär des Gustav-Adolf-Werks Enno Haaks Begriff und Phänomene sowie Probleme der Debatte und in einem weiteren Artikel habe ich den neuesten Bericht analysiert. Katja Dorothea Buck zu den Zahlen im Bericht:

Lange hieß es, 200 Millionen Christen weltweit seien verfolgt. Als Journalisten 2012 kritisch nachhakten, wo diese denn alle leben würden, korrigierte das Werk die Zahl nach unten und sprach nur noch von 100 Millionen verfolgten Christen. Ab 2016 waren es auf einmal wieder 200 Millionen, 2020 dann 260 Millionen und dieses Jahr sollen es 309 Millionen Christen sein, „die einem sehr hohen bis extremen Maß der Verfolgung ausgesetzt sind“. […] Natürlich seien das nur Schätzungen. Dass man bei der Darstellung gesellschaftlicher Phänomene wie Religion und Glaube keine exakten Zahlen vorweisen kann, ist normal. Die Soziologie spricht in diesem Zusammenhang von weichen Faktoren. Aus denen versucht Open Doors aber nun harte Fakten zu machen.

Jetzt auch offiziell: Lektorin, Messdienerin, Ministrantin – Interview mit Ute Leimgruber von Antje Dechert (BR)

Der Bayerische Rundfunk hat zum neuen „Motu Proprio“ aus dem Vatikan, das Frauen offiziell als Lektorin, Kommunion-Helferin oder Ministrantin zulässt, mit Ute Leimgruber, Professorin für Pastoraltheologie an der Uni Regensburg, gesprochen:

Der Streit darüber geht ins Jahr 1972 zurück. Papst Paul VI. hat damals die sogenannten „niederen Weihen“ abgeschafft und gesagt, diese Dienste sind nur Männern vorbehalten, weil sie in gewisser Weise eine Vorstufe zum Diakonen- und Priesteramt sind. Mit diesem neuen Motu Proprio ist klar, dass diese Dienste keine sakramentalen Dienste sind, also dass sie keine Weihe benötigen und auch keine Vorstufe zur Weihe sind. Frauen haben nun eine Rechtssicherheit, wenn sie solche Dienste im Alltag machen. Ob das ein echter Fortschritt ist für die Gleichberechtigung der Frauen, wage ich allerdings zu bezweifeln.

Auch Gudrun Sailer auf katholisch.de und ebenda die Kirchenrechtlerin Reinhild Ahlers im Interview mit Felix Neumann (@fxneumann) reagieren eher verhalten auf die neue päpstliche Regelung, die wenigstens zum Teil einholt, was in katholischen Gemeinden längst gängige Praxis ist.

Erzbistum lässt Vorwürfe gegen kritischen Pfarrer fallen – Keine Konsequenzen nach Kritik an Kardinal Woelki (Kölner Stadt-Anzeiger)

Ist das schon ein Zurückrudern der Leitung des größten deutschen (Erz-)Bistums oder zumindest der Versuch, zu einem vernünftigen pastoralen Umgang mit den eigenen Mitarbeiter:innen zurückzukehren? Jedenfalls muss ein Priester, der sich den Rücktrittsforderungen vieler Katholik:innen an Erzbischof Rainer Maria Woelki angeschlossen hatte, nun offenbar keine dienstrechtlichen Strafmaßnahmen mehr befürchten.

Predigt

Die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) hat einen neuen Bundesvorsitzenden gewählt. Armin Laschet, der durch die Corona-Pandemie multipel herausgeforderte Nordrhein-Westfälische Ministerpräsident, ist rheinischer Katholik. Er war sogar mal Ministrant. Da ist er, der vielbeschworene Kontrast zum kargen Protestantismus der Kanzlerin. Aber ist unsere Gesellschaft für solch feine konfessionelle Unterschiede noch empfänglich?

„Lass meinen Gang in deinem Wort fest sein!“ – Predigt im Trauergottesdienst für Bundespräsident a.D. Dr. Johannes Rau – Wolfgang Huber (ekd.de)

Gestern erinnerten vor allem Sozialdemokrat:innen an den 90. Geburtstag, den Johannes Rau gefeiert hätte. Der ehemalige Nordrhein-Westfälische Ministerpräsident und Bundespräsident war als „Bruder Johannes“ für seine Frömmigkeit oft bespöttelt worden.

YouTube ist allerdings auch voll von eindrücklichen Reden und Anekdoten des „bergischen Reformierten“, der sich nicht scheute, die guten Traditionen seines Glaubens für sich zum Maßstab zu erklären. In seiner Predigt zur Trauerfeier fasst Wolfgang Huber (@Prof_Huber), damals Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (@ekbo_de) und EKD-Ratsvorsitzender, dieses Leben an der Seite Jesu zusammen.

Ein guter Satz

„Aufklärung und Professionalität sind das Gebot der Stunde.“

– Natalie Grams (@NatalieGrams), in ihrem Artikel über Impfbereitschaft bei medizinischem Personal (s. nachgefasst)