Feminismus heißt Solidarität mit BIPoC

Feminismus kann nicht nur bedeuten, gegen Unrecht zu kämpfen, das eine*r selbst widerfährt. Wir müssen das Gemeinsame in unseren unterschiedlichen Erfahrungen entdecken.

„Du bist doch Feministin, dann hast Du bestimmt einen Minderwertigkeitskomplex, oder?“ Ich gebe zu, auf diese Frage wäre ich nie gekommen, wenn sie mir nicht (indirekt) gestellt worden wäre. Einen Minderwertigkeitskomplex? Weil Feministin? Bin ich etwa Feministin, weil ich „zu kurz gekommen bin“ oder mich so fühle?

Minderwertigkeitskomplex suggeriert in der küchenpsychologischen Variante: „Du hast nicht genug Selbstbewusstsein!“ und „Du fühlst dich zu kurz gekommen!“ und pathologisiert dies. „Komplex“ ist in diesem Fall eine Steigerung von Minderwertigkeitsgefühl, die pseudopsychologisch Grundprobleme einzelner Menschen ermittelt. Habe ich also ein Minderwertigkeitsgefühl oder gar einen Minderwertigkeitskomplex, weil ich Feministin bin?

Erstmal denke ich: Nein, natürlich nicht! Denn dieser Vorwurf versteht zwei Grundanliegen von Feminismus nicht: Es geht nicht nur um Individuen, sondern auch um (Macht-)Strukturen. Und: Eben weil ich keinen Minderwertigkeitskomplex habe, bin ich Feministin!

Der Kampf für verbesserte Strukturen

Feminismus beginnt mit der Betrachtung individueller Lebensvollzüge, aber bleibt dabei nicht stehen. Klassisches Beispiel dafür ist die unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen, der Gender Pay Gap. Es sind selbstverständlich einzelne Frauen, die weniger verdienen als gleich qualifizierte oder mit gleichen Aufgaben betraute Männer. Aber dabei handelt es sich um ein strukturelles Problem: Die im Verhältnis minder bezahlte Frau ist kein Einzelfall, sondern statistisch gesehen verdienen Frauen fast ein Fünftel weniger als Männer.

Darauf macht der Equal Pay Day aufmerksam, ab dem sich Arbeit von Frauen für sie „lohnt“ – nächstes Jahr kurz vor dem Frauen*kampftag ab dem 6. März. Dass überhaupt um gleiche Bezahlung gekämpft werden kann oder sich Parlamentarierinnen dafür einsetzen können, ist wiederum Folge bisheriger feministischer Kämpfe, zum Beispiel um das Frauenwahlrecht und Frauenbildung.

Intersektionaler Feminismus verbindet die Betrachtung verschiedener Identitätsaspekte miteinander, wegen derer vor allem Frauen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Die Bezahlung von migrantischen bzw. migrantisierten Frauen (und Männern) oder überhaupt Zugänge zum Arbeitsmarkt unterliegen zusätzlichen Herausforderungen im Vergleich zu weiß und deutsch gelesenen Frauen. Dafür sind auch Fragen der Anerkennung von Studien- oder Berufserfahrungen relevant. In jedem Fall zeigt sich hier Rassismus. Die Überschneidung mit sexistischer Diskriminierung ist dann aber nur eine Variante. Wie steht es um den Umgang mit und die Bezahlung von Erstakademiker*innen, welche extra Barrieren stehen Menschen mit Behinderungen im Weg – auch und insbesondere in den Kirchen?

Es geht um Einzelschicksale und Feminist*innen kämpfen darum, dass es Einzelnen besser geht. Aber Feminist*innen ist klar, dass dafür strukturelle Verbesserungen zu fordern und erkämpfen sind. Ich kämpfe nicht nur für mich individuell, wenn ich mit Mitkämpfer*innen am 8. März auf die Straße gehe – wie dieses Jahr mit den Worten „Jin, Jiyan, Azadi“. Ich kämpfe nicht nur für mich, wenn ich mich mit FLINTA* vernetze, um Erfahrungen auszutauschen mit dem Ziel, strukturelle Probleme zu beheben. Das verbindet, darin liegt Stärkung und ganz klar die Forderung für Verbesserung der Lebensverhältnisse von FLINTA* weltweit!

Feminismus: Mehr als Klagen!

Wenn ich tatsächlich von einem küchenpsychologischen Minderwertigkeitskomplex befallen wäre, also dächte „Ich bin zu kurz gekommen!“ oder „Mir wird nichts zugetraut!“, dann würde ich vermutlich im Klagen verharren. Bitte nicht falsch verstehen: Klagen ist wichtig und nötig, weil durch die Klage deutlich wird, wo Probleme liegen. Im Klagen und Sich-Gewahr-Werden darüber, was schlecht oder schief läuft, ist schon der erste Moment eines Veränderungsprozesses enthalten. Wenn ich klage, erkenne ich einen Zustand als ungerecht. Je nachdem, was ich beklage, und wen ich dafür anklage, kann daraus dann eine erste Aktivität entstehen. Wenn ich realisiere, dass das, was mich an diesen Punkt des Klagens gebracht hat, nicht allein mich als Individuum betrifft, sondern ich von anderen weiß, denen es genauso geht, können wir gemeinsam in Aktion treten.

Hätte ich einen Minderwertigkeitskomplex würde ich doch nicht dafür kämpfen, dass sich die Verhältnisse ändern, weil ich die Diskriminierung, die mir zu teil wird, für berechtigt hielte. Hätte ich einen Minderwertigkeitskomplex, hätten Feminist*innen per se Minderwertigkeitskomplexe, dann gäbe es jetzt noch kein Wahlrecht für Frauen. Läge die Begründung für feministische Aktivität nur darin, eigene Schieflagen als individuelle Gegebenheiten wahr- und hinzunehmen und das Strukturelle und Überindividuelle auszublenden, dann hätte es nie Frauenbewegungen gegeben.

Feminismus und Frauenbewegungen sind historisch immer dann entstanden und haben neue Kraft gewonnen, wenn Einzelne das Gemeinsame ihrer Erfahrungen erkannt haben und dann als Gruppe gemeinsam und gezielt gegen das vorgegangen sind, was sie persönlich erniedrigt hat. Wir müssen heute aber lernen, dass damit längst nicht allen geholfen ist.

Die eigene Position checken

Ganz deutlich und historisch erkennbar wird das an der Entstehung des Womanismus von Schwarzen Frauen im Gegenüber zum Feminismus weißer Frauen. Schwarze Frauen erkannten, dass vor allem weiße Frauen, insbesondere mit privilegierten Besitz- und Sozialverhältnissen, den Feminismus geprägt hatten. Erfahrungen und Herausforderungen Schwarzer Frauen wurden nicht miteinbezogen und/oder schlicht übergangen. Dass nach wie vor Personen, die sich als Feminist*innen bezeichnen, auch ihrerseits diskriminieren, zeigt sich zum Beispiel bei Alice Schwarzer, die trans* Personen verachtet oder nicht anerkennt, dass es auch religiöse Agency gibt und ein selbstgewähltes Kopftuchtragen von muslimischen Frauen.

Wie alle Menschen sind auch Feminist*innen nicht davor gefeit, eigene Privilegien nicht wahrzunehmen und so an Unterdrückung mitzuwirken. Eigentlich sollten Feminist*innen Expert*innen dafür sein, Macht- und Diskriminierungsstrukturen zu erkennen und gegen sie anzukämpfen. Wenn in Feministischer The*logie und Theorie darauf hingewiesen wurde, dass jede*r Forscher*in und alle Personen generell auf ihre Positionalität hin zu befragen sind, mit denen sie möglicherweise unbewusst malestream (re-)produzieren, wurde dieser Anspruch vornehmlich gegenüber anderen formuliert. Eine kritische Selbstbefragung stand und steht immer wieder aus.

Für jede*n Feminist*in bleibt es eine wichtige Aufgabe, auch die eigene Positionalität zu reflektieren und von dort aus eigene Begrenztheiten zu benennen. Darum ist es wichtig, miteinander zu sprechen und voneinander zu lernen. Von Sarah Vecera und Thea Hummel habe ich zum Beispiel in der „Stachel und Herz“-Episode zur diesjährigen Tagung der EKD-Synode gelernt, dass Empowerment ein emanzipatorischer Begriff von BIPoC ist. Der Begriff hat im Kontext des Schwerpunktthemas „Sprach- und Handlungsfähigkeit im Glauben“ eine große Rolle auf der Tagung gespielt. Die inflationäre und unreflektierte Verwendung des Begriffs durch weiße Menschen ohne Offenlegung seines Schwarzen Hintergrunds ist nicht nur übergriffig, sondern verschleiert Privilegien. Schwarzes Wissen wird so vereinnahmt, ja kolonialisiert.

Dass wie jüngst auf der Tagung der Landessynode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) BIPoC-Expert*innentum, in diesem Fall von Nathalie Eleyth, nicht anerkannt wird und trotz eines Vortrags zu Antirassismus direkt rassistische Stereotype reproduziert wurden, ist mehr als erschreckend und zeigt, wie eindeutig Kirche(n) am Anfang ihrer antirassistischen Arbeit sind.

Bildet Banden!

Die Reflexion der eigenen Positionalität und die anderer Menschen ist ein nie endender Prozess. Manchmal bleibt mir nur ein vages Gefühl für meine eigene Begrenztheit. Ein Bewusstsein, noch viel mehr lernen zu müssen. Ist es nicht ein zu hoher Anspruch, an alle und alles zu denken? Ich glaube, es gibt solche resignierenden Momente. Eine Ohnmacht darüber, dass bei allen Reflexionsbemühungen immer etwas offenbleibt.

Feminismus braucht den Austausch: klagenden und reflektierenden, lehrenden und lernenden. Die Lehre aus der Geschichte des Feminismus lautet: Bildet Banden! Sie gilt nach wie vor – insbesondere angesichts des grassierenden und wachsenden rechten Antifeminismus. Um Banden bilden zu können, braucht es aber deutliche Bemühung darum, (eigene) Privilegien nicht mehr zu verkennen. Das ist besonders für weiße Feminist*innen wichtig. Das ist besonders für männliche Feministen wichtig. Wichtig ist der ehrliche Versuch, nicht dass wir dabei perfekt werden. So wird dann der Schulterschluss möglich. Das eigene und fremde tatsächliche Zukurzgekommensein nicht zu pathologisieren, sondern dagegen anzukämpfen, dafür steht ein kämpferischer Feminismus ein.


Alle Ausgaben von „Sektion F“ hier in der Eule.


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