ForuM-Studie: Ein guter Tag?
Die Ergebnisse der „ForuM-Studie“ zur sexualisierten Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie belegen, wie Missbrauch gedeihen konnte und verdrängt wurde – und kratzen am evangelischen Selbstverständnis.
„Es ist ein rabenschwarzer Tag für die Kirche und die Diakonie, eigentlich sollten heute alle Glocken läuten und die Fahnen auf Halbmast gesetzt werden“, sagt Detlev Zander, einer der Betroffenensprecher:innen des Beteiligungsforums der EKD (BeFo), gleich zu Beginn der Vorstellung der „ForuM-Studie“ zu sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und der Diakonie. Zander hat auch im Beirat des Forschungsverbundes mitgewirkt, der die „ForuM-Studie“ verfasst hat. „Für die Betroffenen ist heute ein guter Tag“, ist er sich ebenso sicher. Ihrer Beharrlichkeit und ihrer Mitwirkung sei es zu verdanken, dass die Studie überhaupt abgeschlossen werden konnte.
Über 100 Betroffene – darunter auch Personen, die sich zuvor nicht bei Kirche oder Diakonie gemeldet hatten – haben an der Studie zumeist als Interviewpartner:innen mitgewirkt. Wegen ihrem „analytischen Scharfsinn und ihrer Resilienz“ enthalte die Studie beachtenswerte Erkenntnisse über Umfang, Strukturen und Auswirkungen des Missbrauchs in evangelischen Tatkontexten, die unbedingt zu würdigen sind, erklärt auch Katharina Kracht. Sie war bis zuletzt Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes, zeitweise auch des zwischenzeitlich eingerichteten EKD-Betroffenenbeirats (wir berichteten).
Die Betroffenen standen als Zeug:innen zur Verfügung für das, was die amtierende EKD-Ratsvorsitzende, Bischöfin Kirsten Fehrs (Sprengel Hamburg und Lübeck, Nordkirche), bei der Präsentation der „ForuM-Studie“ am Donnerstag in Hannover die „perfide Gewalt“ der Täter nannte: Den tausendfach verübten, erduldeten und nicht gesühnten Missbrauch in der Evangelischen Kirche und Diakonie. Sie habe, so Fehrs weiter, „vieles erwartet“, sei aber angesichts der Schilderungen des Missbrauchs und des „eklatanten Versagens“ von Kirche und Diakonie, wie sie von der Studie aufgezeichnet werden, „doch wieder erschüttert“. Die Ergebnisse der Studie müsse man nun „in Demut annehmen“.
Zu diesen Ergebnissen gehören neben Betroffenen- und Täterzahlen Erkenntnisse über die Spezifika evangelischer Tatkontexte, eine Untersuchung des Umgangs der Kirche mit den Betroffenen, eine Teilstudie, die die (im Untersuchungszeitraum liegenden) bisherigen Aufarbeitungsbemühungen unter die Lupe nimmt – und zuletzt Handlungsempfehlungen an Kirche und Diakonie. Insgesamt umfasst die Studie gut 870 Seiten. Eine erste kursorische Lektüre zeigt: Hier ist den evangelischen Kirchen und Christ:innen sowie der Diakonie eine große Haufaufgabe aufgegeben. Mit der Veröffentlichung ist die Arbeit mit der Studie längst nicht erledigt.
Die „ForuM-Studie“
Die komplette Studie steht als PDF zum Download auf der Website des Forschungsverbundes zur Verfügung. Dort findet sich außerdem eine 37-seitige „Zusammenfassung der Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Empfehlungen für Prävention, Intervention und Aufarbeitung“ als PDF zum Download.
Die Zahlen
Besondere Aufmerksamkeit erhalten in den ersten Stunden seit der Veröffentlichung der Studie die in ihr enthaltenen Fallzahlen – und eine Hochrechnung, die vom Heidelberger Professor Harald Dreßing noch auf dem Podium vorgenommen wurde.
Aufgrund der disparaten Datenlage in den Kirchenakten (wir berichteten) konnten „nur“ 1.259 Beschuldigte und 2.225 Betroffene ermittelt werden – zumeist in den Disziplinarakten der evangelischen Landeskirchen. Weil nicht – wie eigentlich erwünscht – alle Personalakten der Kirche „systematisch untersucht“ werden konnten, können diese Zahlen laut Projektleiter Prof. Martin Wazlawik nur als „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ gedeutet werden. „Ein Desiderat bleibt die Durchsicht aller Personalakten“, stellte Wazlawik klar. Die Datengrundlage der Teilstudie E der „Forum-Studie“ sei eine „hoch selektive Stichprobe“.
In einer der 20 EKD-Gliedkirchen wurden allerdings alle ca. 800 Personalakten aus dem Untersuchungszeitraum tatsächlich tiefergehend untersucht. (Ergänzung 27.1.2024, 19 Uhr: Nämlich in der Reformierten Kirche. Mehr zum Problem der Zahlenerhebung hier in der Eule.) Aus einem Vergleich der vorgenommenen Personalaktenuntersuchung zum Befund aus der Prüfung der Disziplinarakten in dieser Landeskirche ergibt sich, dass 57,1 % der Beschuldigten und 73,9 % der Betroffenen nur aufgrund einer Analyse der Disziplinarakten nicht identifiziert hätten werden können. Dies beweist zunächst einmal, wie wichtig eine systematische Untersuchung der Personalakten ist.
Harald Dreßing stellte auf Grundlage dieser Überlegungen bei der Präsentation der Studie am Donnerstag eine Hochrechnung an, die dieses Ergebnis auf alle Landeskirchen extrapoliert. Demzufolge könnte sich die Zahl der Beschuldigten auf 3.497 und die der Betroffenen auf 9.355 im Zeitraum von 1946 bis 2020 belaufen. Damit würden sie sich auf dem Niveau einpendeln, das für die Katholische Kirche in der „MHG-Studie“ angenommen wurde (Dieser Befund von 2018 ist durch neuere Forschungen inzwischen auch überholt). Solche Rechenspiele kann man vornehmen – wie hier in der Eule. Tatsächlich gibt es keinen Anlass, für die Evangelische Kirche niedrigere Fallzahlen anzunehmen als für die Katholische Kirche. Dreßing selbst aber betonte, es handele sich um eine „spekulative Hochrechnung“, die wissenschaftlichen Standards nicht genüge.
Dass der Nachweis valider Betroffenen- und Täterzahlen durch die „ForuM-Studie“ nicht erbracht werden konnte, liegt gleichwohl nicht allein daran, dass die meisten der bei den Landeskirchen lagernden Personalakten nicht – wie eigentlich notwendig – einbezogen werden konnten, sondern auch daran, dass ein Großteil des Missbrauchsgeschehens überhaupt nie Eingang in Akten gefunden hat, weil Betroffene, Täter, Kolleg:innen, Amtsbrüder und mögliche Zeugen schwiegen.
Bei den Landeskirchen liegen zentral zudem nur die Akten der Pfarrerschaft vor. Personalakten anderer kirchlicher Beschäftigter, auch der als TäterInnen-Gruppe von erheblicher Größe identifizierten ErzieherInnen in kirchlichen Heimen und Kindergärten, wurden (und werden) hingegen in den Einrichtungen selbst, in Kirchgemeinden und Kirchenkreisen verwahrt. Von diesen Tätern und ihren Taten weiß man nur in Einzelfällen, vermittelt über andere kirchliche Meldewege. (Mehr zum Wirrwarr um die Datenerhebung für die Teilstudie E bald in der Eule.)
Die Pfarrerschaft ist also in der Teilstudie E überrepräsentiert im Vergleich zu anderen Statusgruppen, neben anderen kirchlichen und diakonischen Beschäftigten zählen hierzu auch die Ehrenamtlichen, die an vielen Stellen in Kirche und Diakonie eingesetzt sind. Die Diakonie rühmt sich heute ihrer 700.000 ehrenamtlich Mitarbeitenden. Eine Zahl, die sogar die der hauptamtlich Beschäftigten (ca. 620.000) übersteigt. In den vergangenen Jahrzehnten haben Millionen von Menschen in Kirche und Diakonie Dienst getan – ein unübersichtliches Feld, das die „ForuM-Studie“ nicht erschließen konnte.
Typisch evangelisch?
Trotzdem, so sind sich die Forscher:innen einig, könne man sehr wohl einiges über Täter und Betroffene sagen: Unter den 1.259 Beschuldigten finden sich 511 Pfarrer, das entspricht 40,7 % der Stichprobe. Soweit es sich um Pfarrer handelt, handelt es sich auch um Männer. Die Täter waren „bei der Ersttat“ durchschnittlich 43 Jahre alt. Bei fast jedem zweiten Beschuldigten konnten mehrere Betroffene identifiziert werden. Das deutet auf langanhaltende Täterbiografien hin: „Im Durchschnitt kamen auf eine mehrfachbeschuldigte Pfarrperson fünf Betroffene sexualisierter Gewalt“.
Die über Jahrzehnte hinweg existierende mangelnde Meldepraxis und fehlende Informationsweitergabe zwischen Gemeinden und den unterschiedlichen Ebenen der Kirche, auch zwischen den Diakonischen Werken und der verfassten Kirche sowie das Schweigen der Verantwortlichen und Glaubensgeschwister hat im erheblichen Maße dazu beigetragen, dass sich Täter im Raum der Kirche zu sicher fühlen konnten – und weitermachten.
Bemerkenswert sind obendrein das niedrige Durchschnittsalter der Betroffenen bei der Ersttat von ca. 11 Jahren und die Geschlechterverteilung: „Bei den bekannten Fällen war der Anteil der männlichen Betroffenen (64,7 %) höher als der Anteil der weiblichen Betroffenen (35,3 %).“ Beide Befunde stellen gängige Vermutungen über den Charakter evangelischen Missbrauchs in Frage, nachdem ein „typisch evangelischer Missbrauch“ sich zwischen „verliebten“ jugendlichen Mädchen und ihren charismatischen Jugendleitern oder Pfarrern abspielte.
Insgesamt habe man in der „ForuM-Studie“ eine Vielzahl unterschiedlicher Tatkontexte zeigen können, erklärte Wazlawik, eine „klassische Tatkonstellation“ gebe es in Diakonie und Evangelischer Kirche nicht. Sexualisierte Gewalt lasse sich nicht auf ein kirchliches Handlungsfeld reduzieren, „sondern lässt sich in allen Einrichtungen und Handlungsfeldern finden“. Klar sei, dass „machtasymmetrische Verhältnisse“ Missbrauch begünstigten. Solche Umstände fänden sich in allen evangelischen Frömmigkeiten und Milieus, man sei „überall“ auf „Legitimierungserzählungen“ gestoßen.
Die Evangelische Kirche sei geübt darin, den Missbrauch in die Vergangenheit zu projizieren und somit zu „externalisieren“ (vulg. von sich zu weisen). Solche Erzählungen, wie die von der sexualpädagogischen Liberalisierung ab den 1960er Jahren, hätten sehr wohl einen Wahrheitskern, weil die „Progressivität“ der Evangelischen Kirche sie dazu brachte, an den Moden der Zeit Anteil zu nehmen, dienen aber auch als „ein Mittel der Verharmlosung“, haben die Forscher:innen herausgefunden. Für die weitere Auseinandersetzung mit den Studienergebnissen und die kommende Aufarbeitungsarbeit bedeutet dieser Befund eine Warnung davor, sich zu schnell auf Deutungsmuster festzulegen. Die Kirche solle „weniger in der idealisierten Selbstbeschreibung verbleiben“, sondern mit „Realitätssinn“ auf sich selbst schauen, erklärte Wazlawik.
„Bei uns doch nicht!“
Einige gängige Spezifika evangelischen Missbrauchs werden durch die „ForuM-Studie“ jedoch ausdrücklich bestätigt (auch durch ihren Bias hin auf das Pfarramt aufgrund der Datenlage): So ist das evangelische Pfarrhaus, dieser Kulturort und Lebensraum von hoher gesellschaftlicher Prägekraft, in der Tat ein Risikoort, sowohl für Kinder und Erwachsene, die der Pfarrfamilie angehören, als auch für Gäste und Schutzbefohlene (z.B. auch Pflegekinder).
Zwar hat sich hier aufgrund einer fortschreitenden Profilierung und Professionalisierung des Pfarrberufs und veränderter gesellschaftlicher und beruflicher Ansprüche an Pfarrer:innen und ihre Familien in den vergangenen Jahren sicher einiges geändert, trotzdem: Wo „berufliche Aufgaben und private Lebensführung verwischt werden“, wird es gefährlich. Täter unter den Pfarrern konnten sich als Respekts- und Vertrauenspersonen sicher fühlen. Dazu gehört laut der Studie auch, dass ihr rhetorisches Geschick und ihre theologische Deutungskompetenz – auch als Zuschreibung durch Betroffene und ihren Familien – den Tätern dabei geholfen haben, sexualisierte Gewalt anzubahnen und sich gegen kritische Nachfragen zu immunisieren. Das bleibt auch trotz allen Kulturwandels in den Pfarrhäusern und Dienstgemeinschaften eine Anfrage an die Pfarrer:innenschaft, die gehört werden sollte.
Ursächlich für die schweren seelischen Verletzungen bei den Betroffenen in evangelischen Tatkontexten sei, so die Forscher:innen, dass sie ursprünglich sehr positiv in die Kirche und ihre Einrichtungen „hineingegangen sind“. Die „besondere Attraktivität“ kirchlicher Angebote habe die Fallhöhe erhöht, nur vor diesem Hintergrund sei der immense „Vertrauensverlust“ durch die erlebte Gewalt zu erklären. Dieser wirke im Leben der Betroffenen über Jahrzehnte nach und mache sich in allen Lebensbereichen – besonders bei der Gestaltung eigener Partner:innenschaften – bemerkbar.
Umgang mit Betroffenen
Es ist auch diese spezifische Aura der Vertrauenswürdigkeit und moralischen Reinheit, die Missbrauch in den Kirchen zum gesellschaftlichen Skandal macht. Sexualisierte Gewalt geschieht in unserer Gesellschaft jeden Tag tausendfach. In den 80 Jahren seit dem 2. Weltkrieg waren Millionen von Menschen in Pflegeeinrichtungen, Heimen, in Sportvereinen und vor allem in Familien und ihrem Umfeld von sexualisierter Gewalt betroffen. Der Missbrauch in den Kirchen – auch in der Evangelischen Kirche und in der Diakonie – stellt keinen gesellschaftlichen Ausnahmefall dar.
Am evangelischen Selbstbild müssen daher die Erkenntnisse aus der „ForuM-Studie“ besonders kratzen, die den entsetzlichen Umgang mit den Betroffenen im Nachgang von Missbrauchstaten betreffen. Missbrauch kann überall geschehen, aber die Kirchen sehen sich aus guten Gründen in der besonderen Verpflichtung, Betroffenen Glauben zu schenken, sie zu unterstützen, ihnen wiedergutmachend zu helfen. Die Evangelische Kirche will keine „Täterorganisation“ sein, auch nicht nur Beschuldigte, sondern auch noch Seelsorgerin der Versehrten.
Wie sehr dieses Selbstbild mit der Realität kollidiert, die Betroffene erleben, zeigt die „ForuM-Studie“ in aller Deutlichkeit: Den Betroffenen und Zeug:innen wurde nicht geglaubt. Dort wo sich Betroffene auf den beschwerlichen Weg gemacht haben, bei der Kirche um Anerkennung ihres Leids nachzusuchen, „bricht die Unterstützung ab, wenn sie sich nicht an die von der Kirche vorgegebenen Pfade halten“. Betroffene erlebten Pathologisierung ihres Leids durch die Verantwortlichen – auch durch jene Mitarbeiter:innen, die mit der Befassung mit den Missbrauchsfällen betraut sind. Die Kirche verharre außerdem in „juristischen Argumentationen“. Viele Betroffene erleben sich als Objekt des Handelns einer Kirche, die mehr „abarbeiten als aufarbeiten“ will.
Auch das ist – wie viele Befunde der „ForuM-Studie“ – nicht neu: Betroffene klagen darüber seit Jahren öffentlich und noch viel häufiger hinter verschlossenen Türen und in vertraulichen Gesprächen, um die ohnehin prekären kirchlichen Anerkennungsprozesse nicht zu gefährden. Mit der „ForuM-Studie“ erhalten die Evangelischen „schwarz auf weiß“, wie ihre „Bemühungen um Aufarbeitung“ bei den Betroffenen tatsächlich wahrgenommen werden. Das sollte jenen zu denken geben, die reflexhaft davon sprechen, Betroffene stünden selbstverständlich „im Zentrum“.
Die „ForuM-Studie“ entlarvt dieses Reden als hohles Geschwätz oder mindestens als uneingelöste Willensbekundungen (fast) einer ganzen Generation von evangelischen Kirchenleitenden und Verantwortungsträger:innen. Die „ForuM-Studie“, wie die amtierende Ratsvorsitzende Fehrs es empfiehlt, „mit Demut“ entgegenzunehmen, bedeutet, sich solcher übergriffigen Selbstdarstellungen zu enthalten.
Evangelische Kirche – was nun?
Mit der „ForuM-Studie“ sind der Evangelischen Kirche und Diakonie zahlreiche schmerzhafte Reformvorschläge auf den Weg gegeben. Der evangelische „Föderalismus“, also der Kirchenaufbau von unten nach oben, steht zwar nicht grundsätzlich in Frage, aber doch, ob die unterschiedlichen Ebenen der Kirche überhaupt koordiniert handeln können. Mindestens steht die Frage im Raum, ob für die Befassung mit der sexualisierten Gewalt, die eine nicht-theologische Fachlichkeit in außerordentlichem Maße bedarf, eine viel stärkere Zentralisierung nötig ist.
Am Ende sei jeder Missbrauch auch ein Leitungsversagen, erklärte bei der Präsentation Projektleiter Wazlawik. Natürlich wird in der Evangelischen Kirche und in der Diakonie geleitet, gibt es Dienstvorgesetzte und Verantwortungstrukturen – diese müssen profiliert und gestärkt werden. Das erwarten nicht zuletzt jene Menschen, die heute ihre Kinder in evangelische Kindergärten und Schulen, in Gemeinden und in die evangelischen Verbände schicken – und die selbst Teil dieser evangelischen Kirche sind, in Diakonie und Kirche arbeiten und leben.
Dazu müsse, so die Forscher:innen, die Kirche ihre „Konfliktunfähigkeit“ überwinden, die man in vielen Schilderungen der Betroffenen immer wieder aufgespürt habe. In der Evangelischen Kirche herrsche „Harmoniezwang“ und – in den Worten einer betroffenen Person – ein „Milieu der Geschwisterlichkeit“. Genau das ermöglicht Tätern ihr missbräuchliches Verhalten und hernach das Unterschlüpfen im Kreise der Kolleg:innen, Amtsbrüder und -Schwestern, Kon-Synodalen. Typisch evangelisch. Und darin ist wohl auch einer der Hauptgründe dafür zu finden, warum die Evangelische Kirche sich erst 2018/2019 auch öffentlich wahrnehmbar auf den schwierigen Weg gemacht hat, das Problem der sexualisierten Gewalt und ihres verharmlosenden Verschweigens anzugehen.
Die Landeskirchen selbst haben den Forscher:innen für die „ForuM-Studie“ zurückgemeldet, dass sexualisierte Gewalt in ihren Reihen – insbesondere innerhalb der Pfarrerschaft – immer noch taubuisiert wird. Hat sich daran seit Beginn der Arbeit an der Studie vor drei Jahren etwas geändert? In ihrem (Nicht-)Handeln orientieren sich Ehrenamtliche wie Hauptamtliche am Verhalten der Leitenden. Auch an dem der Leitenden Geistlichen. Korrespondierend dazu bekräftigte die amtierende Ratsvorsitzende, Kirsten Fehrs, dass persönliche Verantwortung für das bisherige Scheitern, soweit es zurechenbar ist, auch übernommen werden muss.
„Wir Betroffenen sind sprachfähig geworden. Das gilt nicht für alle in Kirche und Diakonie“, erklärte Betroffenensprecher Detlev Zander. „Wer nicht sprachfähig ist, ist auch nicht handlungsfähig.“ Die „ForuM-Studie“ ist ein weiteres Dokument der Sprachfähigkeit, die sich Betroffene trotz aller Widrigkeiten bewahrt und erkämpft haben. Trotz mancher Mängel und aller nötigen Diskussionen über das Studiendesign und die -Durchführung, ist sie ein Anlass zum Lernen und zur Selbstreflexion für Kirche und Diakonie als Institutionen und für die in ihnen tätigen Menschen. Es sei „wichtig, hinter die Zahlen zu schauen“, bekräftigte Katharina Kracht: „Wer so tut, als ob die Studie nichts wert wäre, ignoriert die Betroffenen, als ob die Zahlen der Kirche wichtiger wären als die Betroffenen“.
Alle Eule-Artikel zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“.
Die „ForuM-Studie“ in der Eule
Eule-Redakteur Philipp Greifenstein wird von der Vorstellung der „ForuM-Studie“ am 25. und 26. Januar aus Hannover berichten. Am Donnerstag wird die Studie Kirche und Öffentlichkeit auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Am Freitag findet dann an gleicher Stelle eine Fachtagung zur Studie statt. Fragen und Hinweise zur Studie und zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“ nehmen wir gerne vertraulich per E-Mail (redaktion@eulemagazin.de), hier in den Kommentaren und auf Social Media entgegen.
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