Frauen und Kinder zuerst – Die #LaTdH vom 26. Juni

Das Urteil des US-Supreme Court zu „Roe vs. Wade“ wird die Debatte um Abtreibungen neu anheizen. Außerdem: Multiple Skandal-Aufarbeitungen, eine Frechheit und ein Ausrutscher.

Herzlich Willkommen!

Gesetze sollten halten, was sie versprechen. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Das ist für das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen zentral. Wenn ein Gesetz, wie der am Freitag vom Deutschen Bundestag abgeschaffte §219a des Strafgesetzbuches „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“, Folgen nach sich zieht, die in den Augen weiter Teile der Bevölkerung ungerecht sind und eben nicht dem „Geist des Gesetzes“ entsprechen, muss es geändert oder abgeschafft werden.

Keine Schwangere hat zuletzt durch den §219a besonderen Schutz ihrer Entscheidung im Schwangerschaftskonflikt erfahren, im Gegenteil. Das Werbeverbot wurde dazu gebraucht, Ärzt:innen zu sanktionieren, die ihrem Beruf nachgingen. „Das ist absurd, das ist aus der Zeit gefallen, das ist ungerecht und deshalb beenden wir diesen Zustand“, erklärte vor dem Bundestag der Bundesminister der Justiz, Marco Buschmann (FDP).

Dass das Grundgesetz dem Schutz des ungeborenen Lebens nach wie vor einen hohen Stellenwert zumißt, bleibt davon unberührt. Lebensschutz braucht Vertrauen in die professionell handelnden Ärzt:innen und Schwangerschaftskonfliktberater:innen und vor allem in die Schwangeren und werdenden Eltern. Wem es um das Wohl von Kindern, auch der noch nicht geborenen, geht, dem muss die fachlich hoch-qualifizierte Information und umfassende Unterstützung von werdenden Eltern ein Anliegen sein.

Auf dem Weg dahin ist auch in Deutschland, trotz Abschaffung von §219a, noch ein weiter Weg zu gehen. Der Blick in die USA lehrt uns: Über die schwierigen ethischen und moralischen Fragen, die sich am Lebensanfang stellen, muss und darf in einer Demokratie gestritten werden. Eine Grundbedingung dafür sind Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit – auch und gerade beim Formulieren von Gesetzen. Ob man ihnen zustimmt oder nicht, müssen sie doch durch ihre Redlichkeit überzeugen. Sonst steht neben dem Wohl von Frauen, Ungeborenen und Familien auch das unserer Demokratie auf dem Spiel.

Eine gute Woche wünscht
Philipp Greifenstein

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Debatte

Seitdem der Oberste Gerichtshof der USA am Freitag das Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ gekippt hat, nehmen die Proteste nicht ab, inkl. der dazugehörigen Polizeigewalt. Dass nun wieder die einzelnen Bundesstaaten schrankenlos für die Abtreibungsgesetzgebung zuständig sind, kommt nach einem Leak der entsprechenden Entscheidung vor ein paar Wochen nicht überraschend, schockiert aber dennoch abertausende US-Amerikaner:innen – und auch Menschen hierzulande.

Oberstes US-Gericht kippt Abtreibungsrecht (tagesschau.de)

Zutreffend, wenn auch nicht sonderlich detailliert, berichtet die „Tagesschau“ in diesem Artikel über die Entscheidung des Supreme Court. Die sozialen Netzwerke, allzumal Twitter, sind hingegen voll von hot takes, Befürchtungen, Selbstgerechtigkeit, Wut und Zorn.

Mit dem neuen Urteil liegt die Entscheidung über ein Abtreibungsrecht nun bei den einzelnen Bundesstaaten. In 26 konservativ geführten Bundestaaten könnte es damit zu Gesetzesänderungen kommen – in 13 von ihnen sind schon jetzt Gesetze vorbereitet, die Schwangerschaftsabbrüche stark einschränken.

Texas etwa verbietet Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche. In Oklahoma gilt das „Herzschlag-Gesetz“, das Schwangerschaftsabbrüche verbietet, sobald ein vermeintlicher Herzschlag bei der Untersuchung hörbar ist. Diese Gesetze können nun in Kraft treten, nachdem die einheitliche Regelung wegfällt.

Anders als die „Herzschlag“-Bundesstaaten scheinen die Befürworter:innen von „Roe vs. Wade“ und die Pro-Choice-Bewegung geradezu gelähmt zu sein vom Entscheid des Gerichts – trotz Vorwarnung.

Eine Kontextualisierung von Deutschland aus muss auch klarstellen, dass Abtreibung in den USA keineswegs überall verboten ist bzw. sein wird, sondern es gerade in den bevölkerungsreichen Bundesstaaten an den Küsten und im Nordwesten bei den herkömmlichen Regeln bleiben wird, weil sie von der Demokratischen Partei regiert werden. Demgegenüber ist die Abtreibung sowohl in Deutschland als auch in weiteren europäischen Ländern keineswegs „legalisiert“.

Die Entscheidung des Supreme Courts steht am Ende einer langen Reihe des Versagens der demokratischen Institutionen und vieler Akteur:innen. Die USA, das Land der Checks & Balances, haben ein multidimensionales Demokratieproblem: Bevölkerungsmehrheiten werden in den Parlamenten nur unzureichend repräsentiert, das Verhältnis von Bundesstaaten und Bundesregierung ist aus dem Lot geraten, die Gewaltenteilung durch eine politisierte Judikative bedroht, die Meinungsbildung durch milliardenschweres Campaigning und Polarisierung der Medien eingeschränkt. Liberale Pro-Choice-Vertreter:innen haben es obendrein versäumt, die Rechte von Schwangeren umfassend gesetzlich zu schützen. Das alles ist wahr und bedrückend.

Und doch tragen für diesen Clusterfuck der Demokratie und die Bedrohung der Gesundheit von tausenden Frauen vor allem jene Verantwortung, die für eine Beschränkung der Frauenrechte eintreten. Das sind in den USA vor allem weiße Evangelikale und Katholiken. Ob sie in einen Topf mit Islamisten – im Licht des vermutlich LGBTQ*-feindlichen Angriffs in Oslo letztlich mit Terroristen – geworfen werden müssen, wie es der Soziologe Armin Nassehi tut, ist eine andere Frage.

Vielleicht ist eine solche schnelle Einordnung eben auch ein Symptom einer entgleisten Debatte, die sich wenig am Wohl von Frauen und des ungeborenen Lebens orientiert, sondern eigene politische Überzeungen priorisiert. Der Kampf für Frauenrechte ist ein politischer Kampf, doch verlangt er wie andere nach mehr Aufklärung und Differenzierung, nicht nach Selbstgerechtigkeit und Polarisierung.

For life, always – Andrea Tornielli (Vatican News, englisch)

Um Differenzierung bemüht sind auch die vatikanischen Stellungnahmen zur Gerichtsentscheidung. Natürlich loben sie, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass Abtreibungen keinen unmittelbaren Verfassungsschutz genießen. Doch geht es ihnen merklich auch um eine Versachlichung und Beruhigung der Debatte. Und um eine Reihe von Themen, die gerade jene traditionalistischen und konservativen Katholik:innen herausfordern dürften, die das Urteil in den sozialen Netzwerken geradezu abfeiern.

Sowohl die päpstliche Akademie für das Leben als auch der Chefredakteur des Kommunikations-Dikasteriums, Andrea Tornielli (@Tornielli), halten fest, dass zum „Lebensschutz“ mehr gehört als eine restriktive Abtreibungs-Gesetzgebung. Die Widersprüche gerade im katholischen Lager, sind offensichtlich.

So setzen sich die konservativen Bischöfe der USA weiterhin zu großen Teilen und entgegen der Weisung des Heiligen Stuhls für die Todesstrafe ein, entziehen Pro-Choice-Politiker:innen die Genehmigung zur Eucharistie, investieren in die Diskriminierung von LGBTQI* und scheren sich wohl caritativ, aber eben nicht politisch um das Wohl von Armen und Minderheiten. Franziskus lässt ausrichten: Freut euch nicht zu früh!

Being for life, always, means asking how to help women welcome new life. According to one statistic in the United States, about 75 per cent of women who have abortions live in poverty or have low wages. And only 16 per cent of employees in private industry have access to paid parental leave, according to a study published in the Harvard Review of Psychiatry on 9 March 2020. Almost one in four new mothers who are not entitled to paid leave are forced to return to work within ten days of giving birth.

Being for life, always, also means defending it against the threat of firearms, which unfortunately have become a leading cause of death of children and adolescents in the US.

Dass sich Franziskus nicht so richtig mitfreuen kann, wird den Graben zwischen den radikalisierten Katholik:innen in den USA und ihm noch weiter vertiefen. Ich würde meinen: Eine sachgerechte Spaltung, die so unvermeidlich wie notwendig ist, auch wenn sie die Gefahr eines Schismas weiter erhöht. Es ist halt wirklich so, wie es der Berliner katholische Theologieprofessor Georg Essen (@audacity_g) in anderem Zusammenhang zusammenfasst:

Essen äußerte die Vermutung, „die hartnäckige Weigerung der Kirche, dem Freiheitsbewusstsein der Moderne in ihrer inneren Verfassung angemessen Rechnung zu tragen“, sei ein Indiz dafür, „dass sie in Zeiten der Krise jene liberale Demokratie nur halbherzig unterstützen wird, die ihr Gestaltungsräume eröffnet“. Es gebe auch im Katholizismus Kräfte, „die für eine illiberale Demokratie, die für sie die wahrhaft christliche ist, eintreten und deshalb die antimodernistische Verschärfung suchen“.

The Kingdom Heresy – Diana Butler Bass (The Cottage, englisch)

Der Erfolg der christlichen Rechten ist auch der von evangelikalen Christ:innen, die seit Jahrzehnten gegen „Roe vs. Wade“ mobilisieren. Ihr Erfolg wäre nicht denkbar ohne ihre (bleibende) Unterstützung für Donald Trump, der als US-Präsident die Mehrheitsverhältnisse im Supreme Court ganz nach ihrem Willen verändert hat. Doch gibt es inzwischen auch prominente evangelikale Akteur:innen, die weg wollen von der immer schärferen Politisierung, die dazu geführt hat, dass die Mehrheit der weißen Evangelikalen einem Pop-Faschisten die Treue hält.

Diana Butler Bass erklärt entgegen der Absicht, „die Politik“ und „den Glauben“ im Sinne einer oberflächlichen „Zwei-Reiche-Lehre“ trennen zu wollen, wie es diese – konservativen, aber eben nicht-faschistischen – Evangelikalen vorschlagen, dass der christliche Glaube immer schon politisch war: Nur eben nicht in der Perversion, die ihm von Christ:innen aller Zeiten übergestülpt wurde. In vielerlei Hinsicht beschreibt sie, was auch im „Darf-Kirche-politisch-sein?“-Diskurs hierzulande immer wieder diskutiert wird. Allein: Was Evangelikalen fehlt ist eine ausdifferenzierte lutherische Zwei-Reiche-Lehre. Das würde vielleicht wirklich helfen.

The problem is not that evangelicals have gotten out of their lanes by being political. The problem is that white evangelicals — like so many other Christians throughout history — have wrongly interpreted the Kingdom of God, seeing it as a top-down hierarchy of power and authority, built on a rigid social order, and headed by godly men.

Of course, that’s a description of the Roman Empire — the world in which Jesus lived — and a description of all sorts of pyramid-structured political authorities. The great Christian heresy was believing that Jesus Christ would be a new Caesar.

Zum Schluss: Im Zentrum der Debatte sollten die Gesundheit und Wohlfahrt von Frauen, Kindern und Familien stehen. In dieser Reihenfolge. Es ist unnötig, sich vom US-amerikanischen Debattenklima positiv inspirieren zu lassen, und religiöse und anti-religiöse Ressentiments noch mehr als ohnehin schon in die Diskussion einfließen zu lassen. Die allermeisten Gläubigen aller Religionen in den USA und Europa vertreten nämlich weder eine Extremposition in dieser Sache, noch haben sie sich die Frauenverachtung traditionalistischer Kreise zu eigen gemacht. Nur ein Beispiel:

nachgefasst I: Studien-Folgen

An dieser Stelle der #LaTdH wie so häufig ein zumindest kurzer Blick auf den Stand der kirchlichen Befassung mit den Missbrauchsverbrechen. Einiges ist im Sog der letzten Missbrauchsstudien in den (Erz-)Bistümern Köln, München und Freising sowie Münster in Bewegung geraten, u.a. und vor allem: Durch die Veröffentlichung sehen sich andere Betroffene und Zeug:innen ermutigt, sich mit ihren Geschichten zu Wort zu melden.

Eine Konsequenz daraus musste in dieser Woche das Bistum Münster ziehen, das seinen Offizial und Dompropst wegen neuer Vorwürfe beurlaubte. Nun ist die Staatsanwaltschaft am Drücker. Und ebenfalls im Nachgang der Münsteraner Studie hat das Kolpingwerk angekündigt, Missbrauch aufarbeiten zu wollen.

Missbrauchsopfer aus Bayern verklagt Ex-Papst Benedikt – Antje Dechert (BR)

Zum ersten Mal könnte ein Gericht zivilrechtlich über die Schuld kirchlicher Verantwortlicher wie des ehemaligen Erzbischofs und Papstes Benedikt XVI. in einem bereits verjährten kirchlichen Missbrauchsfall urteilen, berichtet Antje Dechert beim Bayerischen Rundfunk. Die Hintergründe der Klage, die sich einem „juristischen Kniff“ eines Betroffenen-Anwalts verdankt, hat auch Correctiv ausführlich dargestellt.

„Hier ermitteln wir“ – Interview mit Kay Schumacher von Georg Löwisch (Christ & Welt)

Für die Christ & Welt hat Georg Löwisch (@georgloewisch) ausführlich mit Kay Schumacher, dem neuen Chef des größten gesetzlichen Unfallversicherers, gesprochen. Er will die Kirchen notfalls dazu zwingen, sexuelle Übergriffe bei der Unfallversicherung zu melden, denn den Betroffenen stünde Entschädigung zu.

C&W: Aber wieso wurden Sie ausgerechnet jetzt beim sexuellen Missbrauch durch Geistliche aktiv?

Schumacher: Im Januar wurde in München das Gutachten über Missbrauch im dortigen Erzbistum vorgelegt. Der Tropfen brachte das Fass zum Überlaufen. Da haben wir intern abgefragt, wie viele Fälle eigentlich aus den Kirchen gemeldet wurden. Antwort: Die können wir an einer Hand abzählen. Ich bin erst seit Mai Hauptgeschäftsführer, war aber involviert, als meine Vorgänger gesagt haben: Wir tun jetzt was.

Das Engagement der Versicherer wirft auch ein Schlaglicht auf die weitgehende Tatenlosigkeit anderer gesellschaftlicher Akteure und insbesondere der Landes- und Bundespolitik, wo man sich angesichts der mangelnden Aufklärung und Entschädigung von Missbrauchsverbrechen in den Kirchen bisher einen schlanken Fuß macht.

Schläge und sexueller Missbrauch im Evangelischen Kinderheim – Markus Kaiser, Diana Isabel Geier (BR)

In einem Bericht von Markus Kaiser (Mediathek) kehrt Klaus Spyra (@KSpyrs) an den Ort zurück, an dem ihm als Kind unfassbare Gewalt angetan wurde. Als Heimkind wurde er geschlagen und vom Leiter der Einrichtung, einem evangelischen Diakon, regelmäßig schwer vergewaltigt. Und er war nicht das einzige Kind, dem es so erging. Das müssen auch die anderen Erwachsenen gewusst haben, die im und um das Heim herum aktiv waren. Die bayerische Landeskirche (ELKB) bittet nun, Betroffene und Zeugen sich bei ihr zu melden. Viel zu spät.

Die Kirche, sagt Spyra, müsse mehr tun: „Ich hab meinen Frieden gemacht. Aber aufarbeiten müssen nicht die Betroffenen, aufarbeiten muss die Kirche.“

nachgefasst II: Skandal-Aufklärung

Der Streit um die Wittenberger „Luthersau“, das antisemitische Schmähbild an der Fassade der Stadtkirche in der Lutherstadt (s. #LaTdH von letzter Woche), geht in die nächste Runde. Der Kläger hat nun angekündigt, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.

Causa Locher: Die Reformierte Kirche macht reinen Tisch – Nicole Freudiger (SRF)

Bereits vor einigen Tagen wurde Daniel Reuter, Vizepräsident des Kirchenrates der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), von der Synode seiner Kirche abgewählt. Ein seltener Vorgang. Gemeinsam mit „dem Rücktritt der zweiten Vizepräsidentin, Esther Gaillard, ist der Weg nun frei für einen unbelasteten Rat – unter der neuen Präsidentin Rita Famos“, schreibt Nicole Freudiger (@NicoleFreudiger) beim SRF. Die „Causa Locher“ (wir berichteten) ist damit wohl tatsächlich „vom Tisch“, die EKS habe ihre Hausaufgaben erledigt.

Die EKS hat zudem Massnahmen beschlossen, um sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch künftig zu verhindern. So gibt es unter anderem eine externe Ombudsstelle, obligatorische Sensibilisierungskurse und klare Regeln für die Suspendierung eines Ratsmitgliedes. Die evangelisch-reformierte Kirche hat den Fall Locher also aufgearbeitet und Konsequenzen gezogen.

In der evangelischen Kirche in Deutschland hat in den Jahren der Missbrauchskrise allein die damalige Hamburger Bischöfin Maria Jepsen 2010 ihren Rücktritt erklärt, um dem Vorwurf zu begegnen, sie sei Vorwürfen sexuellen Missbrauchs nicht „energisch genug nachgegangen“. Seitdem sah sich keine kirchenleitende Person zu so einem Schritt veranlasst, noch hat irgendeine Synode der evangelischen Kirchen in Deutschland so durchgegriffen wie die schweizerischen Reformierten.

Die Aufklärung steht erst am Anfang – Heike Schmoll (FAZ)

In Folge von Vorwürfen sexueller Belästigung soll am Abraham-Geiger-Kolleg der Universität Potsdam, das als einzige Institution Kontinentaleuropas liberale Rabbiner ausbildet, aufgeklärt werden. Solange lässt der bisherige Direktor Walter Homolka seine Ämter am Kolleg und zahlreiche Funktionen innerhalb der jüdischen Institutionen in Deutschland ruhen (s. #LaTdH vom 8. Mai). Über die nun anstehenden Aufklärungsprozesse informiert in der Frankfurter Allgemeinen Heike Schmoll:

Ob die interne Aufklärungskommission der Universität Potsdam viel bewirken kann, ist ungewiss. Der Präsident hatte sie Anfang des Jahres eingesetzt, im August soll ihr Bericht vorliegen. Wer ihr angehört, ist nicht bekannt und wird streng geheim gehalten. Schorsch setzt deshalb eher auf die Kanzlei Gercke und Wollschläger in Köln, die der Zentralrat der Juden mit einer groß angelegten Untersuchung beauftragt hat. […] Diese Kanzlei hat auch die Missbrauchsfälle im Erzbistum Köln untersucht.

Auch wenn die Gedanken vor allem um Homolka, seinen Lebensgefährten und die Zustände am Kolleg kreisen, gibt es noch eine weitere Dimension, die nicht zu vernachlässigen ist: Die zahlreichen politischen und gesellschaftlichen Verbindungen der unterschiedlichen Institutionen und AkteurInnen, die den Eindruck erwecken, dass es nicht nur im inter-personalen Kontakt am Kolleg zu stickig zugegangen ist.

Pastor Prof. Dr. Jerry Pillay zum neuen ÖRK-Generalsekretär gewählt (ÖRK)

Bereits Ende vergangener Woche wurde Pastor Prof. Dr. Jerry Pillay aus Südafrika zum 9. Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) gewählt. Er tritt sein Amt zum Jahreswechsel 2022/2023 an. Der ÖRK, der gerne auch als Weltkirchenrat bezeichnet wird, trifft sich Ende August/Anfang September zu seiner 11. Vollversammlung erstmals in Deutschland.

Bereits im Vorfeld steht der ÖRK unter Druck: Neben dem aktuellen Streit um die zukünftigen Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK), der größten ÖRK-Mitgliedskirche, geht es auch um den Umgang mit israelbezogenem Antisemitismus, der einigen Akteur:innen aus Mitgliedskirchen des globalen Südens vorgeworfen wird. Im Lichte des Skandals um die Documenta in Kassel, zu dem sich der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen geäußert hat, darf man gespannt sein, ob der ÖRK ebenfalls in einen „Skandal mit Ansage“ reinrutscht oder die Probleme aktiv angeht.

Buntes

Staatsrat kippt Erlaubnis von Burkinis (ref.ch)

In einen Burkini gekleidet können muslimische Mädchen und Frauen am Leben in öffentlichen Schwimmbädern und am Schwimmunterricht teilnehmen, ohne dass sie und ihre Familien in ihrer Religionsfreiheit eingeschränkt werden. Das ist nun in Frankreich abermals nicht möglich:

Die Erlaubnis der Stadt Grenoble zum Tragen muslimischer Ganzkörperbadeanzüge in öffentlichen Schwimmbädern ist nun auch von Frankreichs Staatsrat gekippt worden. Der Staatsrat in Paris bestätigte am Dienstag die Entscheidung eines Verwaltungsgerichts, das die Änderung der Badeordnung in Grenoble bereits für unzulässig erklärt hatte. Nach Urteil des Staatsrats sei die Stadt Grenoble mit ihrer Erlaubnis sogenannter Burkinis vor allem auf Forderungen aus muslimischer Ecke eingegangen, um einen religiösen Anspruch zu befriedigen.

Im Jahre 2016 hatte das höchste Verwaltungsgericht des Landes sog. „Burkini-Verbote“ zwar aufgehoben, die Debatte erlebt seitdem aber regelmäßig ein Revival – auf dem Rücken vor allem von muslimischen Mädchen, deren gesellschaftliche Teilhabe eingeschränkt wird. Dahinter steht ein ordinäres Verständnis von Laizismus, das die freie Religionsausübung in der Öffentlichkeit von Wenigen zum vermeintlichen Wohl der Vielen einschränkt. Aufgeklärte Demokratien sollten weiter sein.

Dass religionspolitischen Konflikte auf dem Rücken von Mädchen und Frauen ausgetragen werden, ist so wenig überraschend wie vielsagend: Niemand sollte Frauen und Mädchen Vorschriften machen, wie sie sich zu kleiden haben. Eben auch nicht staatliche Gerichte, Polizisten oder Bademeister. Mehr dazu in einem aufschlussreichen Artikel von Anna Neumaier (@anna_neumaier) aus dem Jahre 2016:

Das entlarvt das emanzipatorische Argument, das so gerne für das Kopftuch vorgebracht wird: Das Kopftuch (oder der Schleier) stünden für die Unterdrückung der Frau, das dürfe man nicht auch noch aus falsch verstandener Toleranz unterstützen, im Gegensatz müsse man die Frauen aus dieser patriarchalen Kultur befreien. Nur ist es, wie verschiedentlich bereits angemerkt, gerade kein Ausdruck von Befreiung, wenn man Frauen vorschreibt, wie sie mit ihrem Körper umzugehen haben und wem sie ihn zu zeigen haben. Freiheit ist, selbst entscheiden zu können, was man trägt.

Orientierungsloser Orientierungstext. Ein Zwischenruf zum Synodalen Weg – Hermann Häring (hjhaering.de)

Der emeritierte Theologieprofessor Hermann Häring lässt in dieser Analyse des „Grundlagentextes“ kein gutes Haar am Synodalen Weg. Man muss der Polemik nicht vollumfänglich zustimmen, um die Knackpunkte des Unterfangens in diesem Text (zu-)treffend dargestellt zu finden:

Selbstverständnis und Handeln der Bischöfe stehen im Zentrum der aktuellen Krise. Sie haben in massiver Weise einen Autoritätsverlust verschärft, der sich durch hierarchisches Reformversagen schon seit Jahrzehnten angebahnt hat. Deshalb ist nicht zu verstehen, dass ausgerechnet unsere Bischöfe als Wahrer ihrer eigenen Privilegien und Interessen die Beschlüsse des SW blockieren können.

Und die Kirche bewegt sich doch – Hubert Wolf (ZEITonline)

Hubert Wolf und die Redaktion von ZEITonline loben den Vatikan?! „Das ist so, als ließe man von jetzt auf gleich die Priesterweihe von Frauen zu.“ Nun ja, der Vergleich hinkt, trotzdem ist die Veröffentlichung von Bittbriefen verfolgter Juden aus der Nazizeit an den damaligen Papst durch Papst Franziskus ein Meilenstein der historischen Forschung.

Wenn das Orakel plaudert – Michael Schrom (Publik-Forum, €)

Das bemerkenswerte „Interview“ von Papst Franziskus mit den ChefredakteurInnen der europäischen Jesuiten-Magazine (s. #LaTdH von letzter Woche), kritisiert in der Publik-Forum (@publikforum) Michael Schrom recht scharf:

Das Interview, das Papst Franziskus fünf europäischen Jesuiten-Zeitschriften gegeben hat, ist empörend und entlarvend. Sowohl inhaltlich als auch in Stil und Form. Zur Form: Es ist schlichtweg unanständig, seine Mitarbeiter so demütigend vorzuführen. Das gilt in erster Linie mit Blick auf Bischof Bätzing, aber auch das Verhalten gegenüber Kardinal Woelki ist mehr als merkwürdig. Ersterer wird als Gefährder der katholischen Identität dargestellt, Letzterer als Lügner.

Wehe den Leichtfertigen! – Arnd Henze (zeitzeichen)

In den evangelischen zeitzeichen treibt der WDR-Journalist und EKD-Synodale Arnd Henze (@arndhenze) die Debatte um die „Neuformulierung“ der evangelischen Friedensethik (wir berichteten) voran. Er meint: Eine neue Denkschrift brauche es nicht, aber mehr Flexibilität.

Wir brauchen eine Friedensethik, die nicht nach unerschütterlichen Gewissheiten und Positionen sucht, sondern sich der schmutzigen Realität dieses Krieges und der ungewissen Zeit danach stellt. Die Waagschalen werden sich dabei immer wieder auf beiden Seiten bleischwer füllen. Das kann nur als kommunikativer Prozess gelingen, bei dem wir einander beharrlich fragen müssen, ob wir wirklich alle Argumente bedacht oder angemessen gewichtet haben.

Ein guter Satz