„Frühsexualisierung“: Was ist dran am Kampfbegriff?
In Kitas werden Schutzkonzepte für den Umgang mit kindlicher Sexualität formuliert, manche „besorgten“ Eltern fürchten eine „Frühsexualisierung“ ihrer Kinder. Was ist dran?
Erinnert sich noch jemand an die Diskussionen über den Baden-Württembergischen Bildungsplan? Damals schlossen sich sogenannte „besorgte Eltern“ zu „Demos für alle“ zusammen, um gegen genau diesen Plan aufzubegehren. Der Grund dafür war, dass jener Bildungsplan vorsah, dass sowohl unterschiedliche Lebens- und Familienformen als auch altersgerechte Aufklärung, die schon früh beginnen sollte, Teil dieses bildungspolitischen Vorhabens waren. Die Gegner:innen des Bildungsplans fürchteten damals die „Frühsexualisierung“ unserer Kinder.
Nun, fast 10 Jahre später, arbeiten kirchliche Kitas an Schutzkonzepten gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch. Teile dieser Konzepte beschäftigen sich mit der Frage nach dem Umgang mit kindlicher Sexualität und kindgerechter Aufklärung. Und es dauerte nicht lange, bis der Vorwurf der Frühsexualisierung wieder im Raum stand. Höchste Zeit, sich einmal damit zu befassen, wo dieser Begriff eigentlich herkommt, was er bedeutet, was ein altersgerechter Umgang mit kindlicher Sexualität eigentlich ist und vor allem, wo unsere Kinder überall einem nicht altersgerechten Umgang mit sich selbst, ihren Gefühlen, ihrem Körper und ihrer Sexualität ausgesetzt sind.
Beschäftigt man sich mit dem Begriff „Frühsexualisierung“, findet man – abgesehen von Wikipedia – eigentlich fast nur auf einschlägige Seiten von Gegner:innen sexueller Vielfalt oder Genderthemen in Schulen und Kindergärten. Oder aber man landet auf den Websites derer, die auf diese Gegenargumente antworten. Oft wird der Begriff auf beiden Seiten verwendet, als sei er ein feststehender psychologischer Begriff – also irgendwas, unter dem man sich in Fachkreisen etwas vorstellen kann. Dem ist aber gar nicht so.
Frühsexualisierung taucht als Schlagwort immer mal wieder in Diskussionen über einen offeneren Umgang mit Sexualität oder Aufklärung von Kindern und Jugendlichen auf und nimmt dort die Rolle eines Kampfbegriffes ein, mit dem vor etwaigen negativen Folgen für Heranwachsende gewarnt wird. Der einzige andere Kontext, in dem der Begriff in der Vergangenheit offenbar unrühmliche Bekanntheit erlangt hat, war im Zusammenhang mit rassenhygienischen Konzepten im Nationalsozialismus.
Furcht vor der Überforderung von Kindern
Wir können also schon einmal festhalten, dass es kein anerkanntes Konzept von „Frühsexualisierung“ gibt. Es gibt keine Kriterien, an denen man festmachen könnte, wann diese vorliegt oder ob es sich dabei überhaupt um etwas handelt, an dem Kinder Schaden nehmen könnten.
Schaut man sich an, in welchen Kontexten der Begriff „Frühsexualisierung“ verwendet wird, kann man vor allem zwei Bereiche ausmachen: Einmal immer dann, wenn vor der sogenannten „Genderideologie“ gewarnt wird (die als Begriff ein ähnliches Definitionsproblem hat) und darüber hinaus, wenn Eltern Angst haben, dass ihre Kinder im Kindergarten oder in der Schule mit etwas konfrontiert werden, was sie überfordern könnte und wofür die Eltern sie noch nicht für reif genug halten.
Mit der ersten Gruppe muss ich mich heute nicht auseinandersetzen. Mit der zweiten aber, mit Eltern, die wirklich Ängste und Befürchtungen haben, schon. Denn zum einen bin ich selbst Mutter von drei Kindern und als solche auch immer froh, wenn mir jemand zuhört, wenn ich mir Sorgen mache und diese auch ernst nimmt. Zum anderen arbeite ich viel mit Familien und weiß, dass es oft schlicht an Informationen fehlt, wenn neue Dinge, die man nicht gut greifen kann, Ängste und Sorgen schüren.
Deshalb habe ich mir noch einmal angeschaut, was in diversen Schutzkonzepten eigentlich zum Thema kindliche Sexualität steht. Nehmen wir zum Beispiel eine Handreichung zum Bereichsbezogenen Schutzkonzept der evangelischen Kitas in Bayern. Dort wird ausführlich erklärt, was es mit kindlicher Sexualität auf sich hat und wie sie sich von der Sexualität Erwachsener unterscheidet. Daraus werden zum Beispiel folgende Handlungsempfehlungen für den Umgang in der Kita abgeleitet:
„Kinder erleben, dass Sexualität kein Tabuthema ist durch eine akzeptierende und sexualfreundliche Atmosphäre. Erwachsene verwenden für die Genitalien ausschließlich die Begriffe Scheide und Penis. Fragen von Kindern werden altersangemessen und wahrheitsgemäß beantwortet. Wichtige und immer wiederkehrende Themen sind u.a Fortpflanzung und Familienmodelle, Gefühle, Freundschaft und Liebe, Geschlechterrollen, Selbstbestimmung und gegenseitiger Respekt bei Berührungen. Materialien zur Körperwahrnehmung und Informationen stehen für Kinder bereit: Sensomotorische Materialien, Bücher/CDs, Puppen, Spiele.“
Es geht also darum, Sexualität nicht zum Tabuthema zu machen, sondern offen und zugewandt zu sein, wenn Kinder Fragen haben. Die richtige Benennung von Körperteilen ist tatsächlich ein wichtiger Schutzfaktor für Kinder – und zwar in mehrerlei Hinsicht: Zum einen fördern Kosenamen das Schamempfinden der Kinder im Hinblick auf ihren Körper. Wenn man Körperteile nicht richtig benennt, entsteht der Eindruck, dass es irgendwie nicht in Ordnung sei, über sie zu sprechen. Zum anderen ist es wichtig, dass Kinder richtig über ihren Körper sprechen können sowohl, wenn es um Gesundheitsfragen geht („Wo tut es dir weh?“) als auch, wenn Grenzen der Kinder überschritten wurden. Gerade dann ist es sehr wichtig, dass Kinder Worte für das haben, was ihnen geschehen ist.
Der letzte Satz des Auszugs aus dem Konzept bezieht sich nicht etwa – wie von Gegner:innen solcher Konzepte manchmal absurderweise behauptet wird – auf Dildos oder Liebeskugeln, die auf einmal in der Puppenecke liegen könnten. Es geht schlicht um Spielzeug und Arbeitsmaterialien, die sowieso schon jetzt in Kitas vorhanden sind: Fühlkisten, Bücher wie das gute alte „Peter, Ida und Minimum“ oder Puppen zum Vater-Mutter-Kind spielen.
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Die ominösen „Doktorspiele“
Es geht im Konzept einfach um sehr viele Dinge, die für die gesamte Entwicklung von Menschen wesentlich sind: Gefühle wahrnehmen und benennen können, über Freundschaften sprechen, respektvoll mit Grenzen anderer umgehen und auch die eigenen kommunizieren können – all das sind Schlüsselqualifikationen für gesundes Aufwachsen.
Weiter unten geht es in dieser speziellen Handreichung dann um das Thema „Doktorspiele“. Abgesehen davon, dass ich mich frage, warum wir immer noch keinen besseren Begriff für kindliches Spielverhalten verwenden können, das die Entdeckung von fremden und eigenen Körpern einschließt, weiß ich als Mutter und Erziehungswissenschaftlerin, dass Spiele, in denen Kindergartenkinder nackt sein wollen, sich gegenseitig anfassen oder neugierig auf die unterschiedlichen Körper unterschiedlicher Kinder sind, vorkommen und völlig normal sind. Gleichzeitig ist es wichtig, für diese Art des Spiels Regeln zu haben, damit eben sichergestellt werden kann, dass kein Kind die Grenzen eines anderen Kindes überschreitet.
Um nichts anderes geht es in diesem Abschnitt. Es geht also in keiner Weise darum, Kinder zu sexuellen Handlungen zu ermutigen oder ihnen Informationen über Sexualität aufzudrücken, die sie nicht haben wollen. Vielmehr geht es darum, ihrem Bedürfnis nach Informationen und Körperlichkeit altersgerecht entgegenzukommen. Von Schutzkonzepten, in denen sich Kindertagesstätten auf einen altersgerechten Umgang mit kindlicher Sexualität verständigen, geht für unsere Kinder also keine Gefahr aus. Sie werden dadurch nicht in irgendeiner Weise „sexualisiert“ oder mit unangemessenen Inhalten konfrontiert.
Worauf wir achten sollten
An vielen anderen Stellen im kindlichen Alltag kann man das übrigens nicht behaupten. Es vergeht kaum ein Tag, an dem mir nicht mindestens ein extrem geschminktes kleines Mädchen in Minirock und Bluse mit Ausschnitt aus irgendeinem Video auf Social Media entgegenlacht. Von Videos, in denen Kleinkinder sich aufdonnern, um mit ihren Vätern auf ein Date zu gehen, ganz zu schweigen.
Doch ich muss gar nicht ins Netz gucken, auch im Offline-Umfeld erlebe ich immer wieder, wie kindliches Verhalten völlig unangemessen anzüglich kommentiert wird: „Na, hast wohl schon eine Freundin“ (zu einem Fünfjährigen, der mit einem gleichaltrigen Mädchen spielt) „So stehen die Mädels/Jungs aber nicht auf dich“ (zu Kindergartenkindern) „Er ist schon ein richtig cooler Checker“ (über einen Sechsjährigen). Ich könnte die Aufzählung noch eine Weile fortsetzen. Auch Kleidungsstücke, die zum Teil für kleine Mädchen verkauft (und ihnen tatsächlich angezogen) werden, kopieren den Stil von Erwachsenen, die sich für einen Club-Besuch chic gemacht haben.
Und dann hätten wir noch die ganz große Baustelle der eindeutig nicht kindgerechten Sexualität, der Kinder oft bereits im Grundschulalter durch unregulierten und unkontrollierten Medienkonsum ausgesetzt sind. Es ist heute schon solche Kinder kein Problem mehr, einen Porno im Netz zu finden, die kaum des Lesens und Schreibens mächtig sind. Und wir wissen, dass gerade jene Kinder neugierig danach suchen, die von zuhause aus eher wenig aufgeklärt wurden und in deren Familien es beispielsweise große Scham oder Tabus gibt, was Nacktheit angeht.
Vereinfacht gesagt ist ein Sechsjähriger, der nicht mal die eigene Mutter oder Schwester nackt sehen durfte, sehr viel neugieriger als ein Gleichaltriger, für den die unterschiedliche Anatomie von Mann und Frau keine große Sache ist. Und genau diese Kinder haben im Fall der Fälle eben auch keine Worte, um das, was sie gesehen haben oder ihnen angetan wurde, Erwachsenen anzuvertrauen.
Nicht jedes Kind, das in frühen Jahren mit Pornografie in Berührung kommt, leidet später unter den Folgen. Aber gerade dann, wenn dies öfter vorkommt und es keinen familiären Rahmen gibt, innerhalb dessen gut gegengesteuert werden kann, sind hier tatsächlich negative Auswirkungen auf die sexuelle Entwicklung zu fürchten: Zu frühe eigene sexuelle Erfahrungen, ein falsches Verständnis von Sexualität und unrealistische Erwartungen an Parter:innen sind nur einige der möglichen Gefahren.
Ein zu früher, unangemessener Umgang mit Sexualität droht unseren Kindern also nicht durch Schutzkonzepte und kindgerechte Aufklärung, sondern eher im privaten Umfeld und gerade dann, wenn Kindern Aufklärung und schamfreies Sprechen über Sex vorenthalten wird oder wenn Erwachsene ihre eigenen Schablonen auf kindliches Verhalten anwenden, eigene Ängste auf Kinder projizieren.
Alle Ausgaben der Familienkolumne „Gotteskind und Satansbraten“.
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