Generation Unerhört
Der Streit um die Corona-Impfungen offenbart, wie viele unerhörte Kinder in unserer Gesellschaft leben. Wenn wir nicht aufpassen, ziehen wir eine neue Generation Unerhört groß.
Was treibt Menschen dazu, sich in einer Pandemie eine Impfung zu erschleichen, obwohl sie noch nicht an der Reihe sind? Wieso klaut jemand Impfstoff in einem Impfzentrum? Und warum um alles in der Welt lehnen viele ältere Menschen den Impfstoff von AstraZeneca ab? Weil sie glauben, ihnen stände der „gute BioNTech“ zu? Das ist doch alles unerhört! Oder?
Medien und Politik haben einen großen Anteil daran, dass aus dem Thema Impfen mittlerweile ein Wettstreit geworden ist. Dabei fing alles so schön an. Ich erinnere mich noch gut an meine Freudentränen, als die ersten mobilen Impfteams ausrückten und BioNTech in die Altenheime brachten. Wie gerührt ich war, als ich meine Freundin, eine Pflegekraft, zum Impfzentrum brachte und erleben durfte, wie ein einziger Ort scheinbar die Hoffnung der ganzen Welt in sich vereinte.
Mittlerweile denke ich an die Impfzentren mit gemischten Gefühlen. Ich denke an Menschen, die dort Termine haben, ohne dass sich mir erschließt, warum sie vor meiner Mutter oder meiner Schwiegermutter drankommen müssen, weil die Prio Gruppe 3 mittlerweile völlig überladen ist. Ich denke an Menschen, die am Schalter Zeter und Mordio schreien, weil sie nicht den von ihnen gewünschten Stoff erhalten sollen. Und ich denke daran, dass politisch gewollt ist, dass diese Menschen trotzdem zuerst geimpft werden – wenn nicht mit Astra, dann halt mit BioNTech.
In Anbetracht der Tatsache, dass das nicht nur einer von zwei Impfstoffen ist, der uns Jüngeren zur Verfügung steht, sondern auch der Einzige, der in absehbarer Zeit für die Kinder zu haben sein wird, finde ich das wirklich unerhört!
Gescheiterte Vertrauensbildung
Während mein Mutterherz blutet, möchte die Erziehungswissenschaftlerin in mir Antworten finden. Einige sind offensichtlich. Der Impfstoff von AstraZeneca hat ein Imageproblem, herbeigeschrieben von Journalist:innen, denen kein Skandal zu klein war, um eine Story daraus zu machen und deren Hauptinformationsquelle offensichtlich Twitter ist.
Kräftig mitgearbeitet haben daran aber auch Politiker:innen und die StiKo, die mit ihren widersprüchlichen Empfehlungen auch nicht zur Vertrauensbildung beigetragen haben. Dass viele ältere Menschen angesichts dieser Lage schlicht überfordert sind, wenn sie vor der Entscheidung stehen, sich mit Astra impfen zu lassen, ist nicht unverständlich. Mit der Diskussion um Freiheiten für vollständig geimpfte Personen ist zudem noch mehr Druck entstanden.
Doch ich glaube, es gibt eine weitere Erklärung: Dass sich einige Menschen in dieser Notlage so extrem egoistisch verhalten und anderen Impfstoff wegnehmen, ist wirklich unerhört!
Unerhörte Kinder
Wir wissen heute, dass die Art und Weise, wie wir mit uns selbst und der Welt umgehen viel damit zutun hat, wie mit uns als Kind umgegangen wurde. Vereinfacht kann man sagen, dass Menschen, die in ihrer Kindheit die Erfahrung machen durften, dass sie gehört und gesehen werden und dass sie geborgen und sicher sind, auch heute tendenziell weniger dazu neigen, sich Dinge zu nehmen, die ihnen nicht zustehen. Sie haben einfach nicht so viel Angst davor, zu kurz zu kommen.
Dem gegenüber steht, dass diejenigen, die bereits in frühster Kindheit die Erfahrung machen mussten, dass ihr Weinen unerhört und ihre Nöte ungesehen bleiben, entweder auch als Erwachsene im Gefühl der Hilflosigkeit verweilen oder dazu neigen extrem für sich selbst zu sorgen, denn sie mussten ja von Anfang an lernen, dass es sonst keiner tut.
Schaut man sich Kindheiten in den vergangenen Jahrzehnten an, wird dann auch schnell klar, dass es unter den heutigen Erwachsenen sehr viele unerhörte Kinder gibt. Ein weinendes Baby hochzunehmen, galt bis in die 1980er-Jahre hinein (und teilweise bis heute) als Verwöhnen. Als „gute Erziehung“ galt es nicht etwa, wenn man Kleinkinder, die von starken Gefühlen durchgerüttelt wurden und sich vor Wut auf dem Boden rollten, liebevoll begleitet. Wenn es gut lief, war die Ansage sie zu ignorieren, bis sie sich „ausgebockt“ hatten. Lief es richtig schlecht für sie, wurden ihre Eltern dazu angehalten, die Rute nicht zu schonen.
Unerhörte und ungesehene Menschen wuchsen so heran. Menschen, die gelernt hatten, dass eine harte Welt harte Menschen brauchte – und dass man für sich selbst sorgen muss.
Generation Unerhört
Und das tun diese Menschen. Sie sorgen für ihren eigenen Impfstoff – und können nicht ertragen, dass man ihnen „nur“ den anbietet, der allgemein als Kreisklasse-Vakzin gilt, während anderen die Champions League gespritzt wird.
Das ist natürlich nur eine – und dazu stark vereinfachte Erklärung der vielen unerhörten Dinge, die wir gerade erleben. Sie dient auch nicht dazu, egoistisches Verhalten zu entschuldigen. Davon ab gibt es einen weiteren Grund, warum es langsam Zeit wird, dass der Staat hier eingreift und für etwas mehr Generationengerechtigkeit beim Thema Impfen sorgt:
In der Summe ziehen heutige Eltern nämlich Kinder groß, die viel weniger ungesehen und unerhört leben müssen. Das ist eine gute Nachricht für uns als Gesellschaft und für die Zukunft. Doch gerade arbeiten wir alle kollektiv daran mit, dass Kinder und Jugendliche sich eben doch unerhört und ungesehen fühlen. Wenn Bundesländer ihre Feriengebiete öffnen, aber Familien ausschließen. Wenn sichere Schulen weiterhin ein netter Wunschtraum bleiben. Wenn der einzige, für sie in Aussicht stehende Impfstoff in Oberarme von Menschen fließt, die sicher und effektiv einen anderen bekommen könnten.
Wir sollten die Spätfolgen bedenken, wenn wir die Sorgen und Nöte der Jüngsten weiterhin ignorieren, denn unser Planet kann sich keine weitere Generation Unerhört leisten.