Heiligtumsfahrt Teil 1: Die Windel Jesu und das Grab der Hirten
In den letzten Adventstagen nimmt uns Benedikt Heider auf eine etwas andere Reise mit: Wir besuchen Reliquien, die von den Weihnachts-Akteur:innen auf Erden hinterlassen wurden. Der erste Teil der Reise:
Weihnachtszeit ist Reisezeit: Josef und Maria gehen in die Stadt Davids, der Allmächtige steigt vom Himmelsthron, die Weisen kommen aus dem Morgenland und Chris Rea fährt nach Hause. In diesem Jahr macht sich auch die Eule auf den Weg. Dem katholischen Feiertagskalender folgend geht es auf Wallfahrt quer durch Europa – zu den Reliquien der Weihnachtszeit.
Zum 2. Teil der Reise: Von Märtyrern und Vorhäuten.
In jeder Stadt, eigentlich in jeder Kirche gibt es Reliquien. Bekannt sind eher große Hinterlassenschaften wie Apostelköpfe, Körper (verwest und unverwest), ausladende Schweiß- und Grabtücher oder ähnlich verehrungswürdige Überbleibsel. Manch eine Kleinigkeit, die heute unprätentiös in Kirchentresoren oder gar muffigen Abstellkammern steht, liegt oder hängt, ist eigentlich zu schade zum Vergessen.
Wenn schon die allermeisten eine Erinnerungskiste aus eigenen Kindheitstagen im Keller haben, so müsste es doch auch etwas von Jesus Christus, dem Weltenretter, geben… Unsere weihnachtliche Reise beginnt – wie sollte es anders sein – in Rom.
Heiligabend in Rom
Es ist der 24. Dezember – Heiligabend. Wir befinden uns in Santa Maria Maggiore. Sie ist die größte der unzähligen Marienkirchen Roms. Weihnachten wird hier schon lange gefeiert. Bischof Sixtus III. von Rom ließ im Vorgängerbau der Kirche eine Nachbildung der Betlehemer Geburtsgrotte einbauen – eine Art antikes Weihnachtshaus. Seit dem 5. Jahrhundert feiert man hier die Mitternachtsmesse der römischen Stadtliturgie.
Vermutlich im 7. Jahrhundert wurde der Kirchenschatz durch die sacra culla (Heilige Krippe) erweitert. Und das hat seinen Grund, erklärt Oliver Wintzek. Er ist Professor für Systematische Theologie an der Katholischen Hochschule in Mainz. Wintzek findet, dass Reliquien generell mit Humor gesehen werden müssen: „Ganz katholisch: ernst nehmen, aber dabei grinsen.“
Hier in Santa Maria Maggiore werde eine wichtige Funktion von Reliquien deutlich, erklärt er. „Nicht ohne Grund wurde Weihnachten hier vom römischen Bischof gefeiert – mit der Reliquie der Weihnachtskrippe transferiert man Betlehem nach Rom.“ Auch die sacra culla selbst wurde nach Rom transferiert. Kaiser-Mutter Helena soll sie (mit vielen anderen, mindestens genauso heiligen Resten) als Souvenir mit in die Ewige Stadt gebracht haben. „Helena war auf Shoppingtour in Palästina, dabei hat sie Dinge eingesackt, die einen direkten Bezug zur Lebensgeschichte Jesu hatten“, erzählt Wintzek. In Helenas Gepäck waren auch recht skurrile Dinge: „Am bekanntesten sind die Kreuzesreliquien – aber auch die voluminöse Heilige Stiege war dabei.“
Heute würde die Heilige Krippe diese Reise wohl nicht mehr überstehen. 2007 informierte der zuständige Bischof Franco Gualdrini die Christenheit, dass die erste Lagerstatt des Herrn allmählich wegbrösle. Aus diesem Grund entschied man sich, die heiligen Bretter an ihrem Platz zu belassen und suchte stattdessen eine andere Kostbarkeit, um sie der frommen Verehrung anheimzugeben.
Bis dahin war es üblich die sacra culla in der Christnacht mitten ins Kirchenschiff zu stellen. Früher sei sie sogar nur in der Heiligen Nacht zu sehen gewesen, erzählt Wintzek. Schließlich habe alles seine Zeit und Ordnung. Zum Glück, wusste man sich in Rom schnell zu helfen, man war schon lange im Besitz des ehrwürdigen Panniculum Domini – dem Wickeltuch des Herrn. Sollte einst der Zahn der Zeit (oder Motten) an Selbigem nagen, gibt es schon jetzt ebenbürtige Alternativen. Schließlich hat man in Rom mit der Umbilicus Jesu (Nabelschnur Jesu) und ein wenig Stroh aus der Krippe noch einiges in petto.
Wem der Trubel in der römischen Hauptkirche zu groß ist, muss nicht direkt auf eine weihnachtliche Reise in die Stadt der Päpste verzichten. So bietet sich ein Besuch in der Kirche Santa Maria del Popolo an. Dort wird die Sacro latte verehrt; oder etwas profaner: die Milch der Gottesmutter.
Alle sieben Jahre wieder in Aachen
Es muss aber auch nicht immer Rom sein. Tief im Westen Deutschlands ist es mindestens genauso weihnachtlich. Wenn der Kölner Alt-Erzbischof Meisner behauptete, nirgends könne Weihnachten so authentisch wie in Köln (zu den Heiligen Drei Königen kommen wir noch) gefeiert werden, tat er das, ohne an seine nächsten Nachbarn zu denken.
In Aachen verehrt man stets und alle sieben Jahre ganz besonders neben dem Kleid Mariens (das sie in der Heiligen Nacht trug) die Windel Jesu. „Die trapezförmige Windel Jesu, die an der Oberkante eine Art Halsausschnitt aufweist, besteht aus einem dicken, dicht gewalkten Stoff von brauner Farbe, der eher einem porösen Filz als einem gewebten Stoff gleicht. Die Legende will wissen, dass die Mutter Jesu, die in ihrer Armut keine Windeln kaufen konnte, die Windel aus der Fußkleidung des Josef zusammengenäht hat“, beschreibt der Theologe Reiner Sörries den heiligen Wickel.
Karl der Große kuratierte die Aachener Reliquiensammlung. Seit dem 14. Jahrhundert führt alle sieben Jahre eine der bedeutendsten Wallfahrten Europas zur Windel des Herrn – die Aachener Heiligtumsfahrt. Dann wird der goldene Marienschrein im Dom geöffnet und zur Erhebung der jesuanischen Windel strömt weihnachtliche Stimmung über den Aachener Domplatz.
Die „inkarnatorische Wirklichkeit“
Dass es im Christentum so viele Reliquien gibt, habe mit der „inkarnatorischen Wirklichkeit“ zu tun, erklärt Oliver Wintzek. Damit meint der Professor den Glauben an die Menschwerdung Gottes: „Weil es Gott gefallen hat, irdische Gestalt anzunehmen, geschieht die Vermittlung des Göttlichen im Christentum immer durch Innerweltliches. Aber eben nicht eins zu eins, sondern unvermischt und ungetrennt“, das sei eben eine Konsequenz des christologischen Dogmas.
Etwas illustrativer liest sich dieses Glaubensgeheimnis in Manfred Becker-Hubertis und Konrad Beikirchers Reliquienbuch: „Auch ein Gott-Mensch muss müssen“. Die eher kargen biblischen Angaben animierten schon früh die Christgläubigen zu Ausschmückungen. Fassbares wie die Krippe, das Heu oder eben des Heilands Windel seien der schlichte Versuch, theologische Sachverhalte mit Gegenständlichem „emotional – und damit tief haftend – zu vermitteln“. Überhaupt sind Weihnachten und Ostern sehr prägend im liturgischen Gedenken: „Da überlegte man sich halt, was kann bei der Geburt alles eine Rolle gespielt haben?“, sagt Wintzek.
Genau betrachtet hatte der Kölner Alt-Erzbischof auch recht, wenn er stolz mit der weihnachtlichen Authentizität seiner Domstadt prahlte. Bis zu seiner Auflösung 1802 gab es im Kölner Augustinerinnenkloster St. Maria in Groß Nazareth eine Reliquie zu bestaunen, die noch ein bisschen früher am Heiland war, als die Aachener Windel: dort verehrte man das Tuch, in den die Gottesmutter ihren Gottessohn wickelte, bevor (!) sie ihn in seine Windeln steckte.
Bei allem weihnachtlichen Staunen müsse man sich gewahr sein: „Das entscheidende ist nicht das vor uns liegende Etwas, sondern das alles soll uns erinnerungsmäßig hinführen zu jener Gottheit, die uns schlechthin sonst entzogen ist.“ Gehe es um Reliquien bewege man sich immer in Bildwelten, die über sich hinausweisen, erklärt Wintzek. „Es geht immer um die Sichtbarmachung von etwas anderem.“ Daher seien Reliquien meist in Büsten, Zeigegefäße oder andere kunstvolle Hüllen gefasst. „Man soll nicht nur das Knöchelchen sehen, sondern das Angesicht der Heiligen – das was ihn oder sie ausmacht.“
Mit dem Herrenwort gemahnt „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Joh 20,29) gibt sich der Theologe gelassen: „Wir sehen ja eigentlich nichts bei den Reliquien. Was wir sehen, ist das falsche.“ Da mache es keinen Unterschied ob es die Windel des Herrn in Aachen, die sacra culla in Rom oder eine Krippe im Hauptbahnhof ist: „Eigentlich sollen wir das Wunder sehen, dass es Gott gefallen hat, eine Verbindung mit uns herzustellen.“ Übrigens sei das auch „dieselbe Logik wie in der Eucharistie. ‚Augen, Mund und Hände täuschen sich in Dir.‘ Man sieht ja nichts – aber man erkennt“, merkt der Professor an.
Am Grab der Hirten stehen
Am Weihnachtstag selbst, dem 25.12. wird in vielen katholischen Kirchen früh am Morgen ein „Hirtenamt“ gefeiert. Oft im Kerzenschein samt Blasmusik. Liturgisch wird an die Erscheinung des Engels bei den Hirten und an ihren Besuch bei der Krippe erinnert.
Wem die musikalische Erinnerung nicht reicht – sei eine Reise nach Salamanca empfohlen. Hier wird das Geheimnis des Weihnachtsmorgens „begreifbar“. Schließlich sind dort Jakob, Isaak und Josef beerdigt – samt ihres Arbeitsgeräts. Sie sind der Tradition nach die Hirten, die zur Krippe eilten, nachdem der Engel ihnen frohe Kunde brachte. Vom Verbleib der Schafe ist dagegen nichts überliefert …