Heiligtumsfahrt Teil 2: Von Märtyrern und Vorhäuten

In den letzten Adventstagen nimmt uns Benedikt Heider auf eine etwas andere Reise mit: Wir besuchen Reliquien, die von den Weihnachts-Akteur:innen auf Erden hinterlassen wurden. Der zweite Teil der Reise:

Weihnachtszeit ist Reisezeit: Josef und Maria gehen in die Stadt Davids, der Allmächtige steigt vom Himmelsthron, die Weisen kommen aus dem Morgenland und Chris Rea fährt nach Hause. In diesem Jahr macht sich auch die Eule auf den Weg. Dem katholischen Feiertagskalender folgend geht es auf Wallfahrt quer durch Europa – zu den Reliquien der Weihnachtszeit. Zum ersten Teil der Reise: Nach Rom, Aachen und Salamanca.


2. Weihnachtsfeiertag: Märtyrer Seit‘ an Seit‘ begraben

Am zweiten Weihnachtsfeiertag (26. Dezember) wird es blutig. Vorbei die Besinnlichkeit. Die Katholische Kirche feiert das Fest des Protomärtyrers Stephanus. Ein Disput endete für den Jerusalemer Diakon tödlich, im Beisein eines gewissen Saulus wurde er gesteinigt. Seine Gebeine wurden 415 aufgefunden und kamen – nach Zwischenstation in Konstantinopel – 557 nach Rom. Dort sollten sie mit den Reliquien seines römischen Diakon- und Märtyrerkollegens Laurentius getauscht werden.

Der Tausch lief aber anders als geplant. Auf dem Weg nach Rom blieb ein Arm des Stephanus in Capua – die Bürger der Stadt wollten einfach nicht lockerlassen. Als der – nunmehr – einarmige Märtyrer in Rom ankam, ließ sich der Sarkophag des Laurentius nicht bewegen – stattdessen sei dessen Leichnam beiseite gerutscht. Das wundersame Zeichen deutend, sahen die Römer vom Reliquientausch ab und betteten Stephanus zu Laurentius. Seitdem liegen die beiden Märtyrer Seit‘ an Seit‘ in der römischen Basilika S. Lorenzo fuori le mura. Da eine Steinigung nicht ohne Steine funktioniert (das ist nicht erst seit Monty Python bekannt), können Pilger:innen an gleicher Stelle neben den Gebeinen des Heiligen auch einige seiner Steinigungs-Steine verehren.

Die Überreste des Stephanus, wie auch seine Marterwerkzeuge sollen deutlich machen: „Du siehts etwas, sollst aber etwas anderes schauen oder erkennen“, erklärt der Mainzer Theologieprofessor Oliver Wintzek. Reliquien seien immer nur so gut, wie das was man daraus mache. „Du kannst Dir fünfmal Knochen angucken, aber wenn Du Dir nicht vergegenwärtigst, dass wir hier die Hoffnung hegen können, selbst auch bei Gott vollendet zu sein, wird daraus einfach nichts.“

Der Reliquienkult um den Erzmärtyrer führe ganz an die Anfänge des Christentums: „Die katholische Reliquienverehrung kommt aus der Zeit der Märtyrer. Damals hat man sich an deren Gräbern getroffen und an sie gedacht. Man begriff sie als Portschlüssel von der irdischen zur himmlischen Welt“, sagt Wintzek. „Man verehrte den glorreichen Märtyrer in der himmlischen Glorie und hatte sozusagen hienieden ein Souvenir von ihm. Indem man sich dieses Souvenir vor Augen führte, wurden die Augen zur himmlischen Herrlichkeit geführt.“

Das Fest der Heiligen Familie: Zum Haus Mariens

In diesem Jahr fügt es der liturgische Kalender, dass das Stephanusfest dem Fest der Heiligen Familie zum Opfer fällt. Es wird seit 1969 am Sonntag nach Weihnachten gefeiert. Daher bietet sich ein Abstecher in die Santa Casa nach Loretto an. Dort steht das angebliche Haus Mariens – in ihm soll die Gottesmutter das Licht der Welt erblickt, der Engel ihr erschienen und sie den Erlöser erzogen haben.

Die Immobilie wurde – so will es die Legende – im 13. Jahrhundert von Engeln nach Italien getragen. Zum Hausrat der heiligen vier Wände gehört unter anderem das Breinäpfchen Jesu. Etwa 250 Kilometer von Loretto entfernt können Pilger:innen in Siena Milchzähne des Herrn bestaunen. Weitere jesuanische Zähnchen werden in Rom und im französischen Medarduskloster in Soisson aufbewahrt.

Sie gelten als Primärreliquien Jesu, da sie direkt von seinem Körper stammen. Kleidung, Geschirr und beispielweise der Finger des Heiligen Thomas, der in des (auferstandenen) Herren Seite gelegen haben soll, gelten dagegen „nur“ als Jesus-Reliquien zweiter Ordnung (Der Finger des Thomas ist für sich betrachtet natürlich eine Apostelreliquie erster Ordnung.). Man nennt sie auch Berührungsreliquien. Die Verehrung jesuanischer Milchzähne steht auf dem Boden des christlichen Dogmas: „Wer leiblich in den Himmel aufgenommen wird, nimmt dummerweise dabei alles mit, was die Chance gehabt hätte, den Status eine Primärreliquie zu erhalten“, schreiben Becker-Huberti und Beikircher in ihrem Reliquienbuch.

Von Unschuldigen Kindern und gesegneten Reiter:innen

Am 28. Dezember feiert die Kirche das Fest der Unschuldigen Kinder. Nachdem die Sterndeuter Herodes die Sache mit dem Stern erzählt hatten, ließ – so weiß es die Bibel zu berichten – selbiger alle Jungen bis zum 2. Lebensjahr töten. Dank dieser biblischen Notiz finden am Fest der Unschuldigen Kinder neben Veranstaltungen zum „Lebensschutz“ auch Kindersegnungen in katholischen Kirchen statt. Wem das zu viel des Guten ist, der kann die Reise nach Bologna antreten. Dort werden seit dem 4. Jahrhundert die Gebeine von (immerhin) fünf Unschuldigen Kindern verehrt.

Aus Bologna geht es für uns zurück nach Deutschland. Tief in der Eifel findet am 31. Dezember der Silvesterritt statt. Erinnert wird an den heiligen Besitzer eines verlorenen Hufeisens. Vor mehr als 700 Jahren soll der römische Bischof Silvester auf dem Weg von Rom nach Trier durch die Eifler Ortschaft Hauen geritten sein. Dabei verlor sein Pferd ein Hufeisen, einige Jahre danach starb Silvester am 31. Dezember 314 eines natürlichen Todes. Dank Kaiser Konstantin das erste unblutige Ausscheiden eines römischen Bischofs aus dem irdischen Dienst.

Trotzdem wurde er 499 Jahre später für heilig befunden – aus diesem Grund segnet alljährlich der Pfarrer von Hausen Pferde und Reiter:innen vor seiner Hausener Kirche, bevor es sich selbst auf ein Pferd schwingt, dreimal um die Kirche reitet und dann einen Festgottesdienst zu Silvesters Ehren feiert. Wer Silvester selbst besuchen möchte, wäre besser in Italien geblieben: Seine Reliquien ruhen in der römischen Kirche San Silvestro in Capite.

Neujahr katholisch: Früh raus zum Oktavtag oder die Vorhaut des Heilands

Am 1. Januar wird nicht ausgeschlafen! Die Katholische Kirche feiert den Oktavtag von Weihnachten. Seit der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils wird mit diesem Hochfest der Gottesmutter gedacht. Doch das war nicht immer so. Bis 1969 feierte man die Circumcisio Domini.

Lukas weiß zu berichten, dass des Herren Beschneidung – wie es sich nach jüdischem Gesetz gehört – acht Tage nach seiner Geburt stattfand (Lk 2,21). Auch ihre liturgische Feier hat christologische Gründe – mit der Erinnerung an dieses Ritual wurde seit dem 6. Jahrhundert Jesu Menschlichkeit betont und seine Herkunft aus dem Judentum illustriert.

„Reliquien braucht es eigentlich gar nicht, aber pädagogisch sind sie gar nicht so dumm“, meint Wintzek. Um den christlichen Glauben zu entfalten, können sie auch heute noch wertvolle Dienste erweisen. Mit Blick auf die wundersame Vermehrung von Kreuzen, Knochen und Vorhäuten meint Wintzek: „In dieser Logik spielt es keine Rolle, ob eine Reliquie echt ist oder nicht. So eine Frage hätte ein antiker Mensch auch gar nicht verstanden.“ Immer gehe es um das Schaffen einer gedanklichen Verbindung zum Eigentlichen und nicht zu der offensichtlichen Sache.

Eigentlich hätte das Sanctum Praeputium, nachdem man es dem Heiland entfernte, vergraben werden sollen. Das arabische Kindheitsevangelium erzählt was stattdessen passierte: Eine Frau nahm es an sich und legte es in Olivenöl ein („Wer weiß, wofür das nochmal gut ist?“). Aus einem Stück wurden bald mehr als 20 heilige Vorhäute. Mehr als zwölf Städte in Europa wähnten sich in Besitz eines der wenigen, verbliebenen Stückchen des in den Himmel aufgefahrenen Erlösers.

Bild: „Die Beschneidung des Jesuskindes“ von Guido Reni (1575-1642), gemeinfrei, The Yorck Project

Zu seiner Krönung brachte Karl der Große dem Papst ein praeputium domini als Gastgeschenk mit nach Rom. Aber auch Hildesheim, Andechs und Santiago de Compostela mussten sich nicht verstecken – sie alle hatten oder haben noch eine heilige Vorhaut in ihrem Kirchenschatz.

Markus Springer sammelte vor einigen Jahren Geschichten und Legenden rund um die heilige Vorhaut. Dass Katharina von Siena eine der Praeputia als Ring um ihren Finger trug, ist nur eines von vielen wunderlichen Details um des Herren Vorhaut. Jesuitenschüler trieb seinerzeit die Geschichte um das Sanctum Praeputium so lange um, bis sie zur Erkenntnis kamen: „Jesus schickt seinen Bräuten den fleischlichen Ring des höchst kostbaren Präputiums. Der Hersteller ist der Heilige Geist, seine Werkstätte ist Marias reinster Schoß. Das Ringlein ist weich!“

Besonderes Interesse galt der Vorhaut des Herrn aber nicht nur in klösterlichen Studierstuben, auch Frauen mit Kindswünschen oder Kindsnöten fanden dank dieser Herrenreliquie (erster Klasse!) Trost, weiß Reiner Sörries in seinem Buch „Was von Jesus übrig blieb“ zu berichten.

6. Januar: Der Kanzler bringt die Gebeine der Weisen

Auf dem Rückweg von Italien nach Deutschland legen wir den Weg zurück, den im 12. Jahrhundert auch die Reliquien der Heiligen Drei Könige nahmen – als man sie als Kriegsbeute mit an den Rhein nahm. Ihnen wird seit dem 3. Jahrhundert am 6. Januar in der Katholischen Kirche gedacht.

Nachdem Kaiser Barbarossa Mailand erobert hatte, transportierte sein Kanzler Reinald von Dassel die Überreste der Drei Weisen nach Köln. Daraufhin baute man in Köln über Jahrhunderte einen Dom rund um den prächtigen Schrein der Drei. Je ein Finger jedes Dreikönigs wanderte noch ein Stück weiter gen Norden – nach Hildesheim. Dass man schon in der Heiligen Familie Geschenke in Ehren hielt, kam Albrecht von Brandenburg zugute. Er war mit Friedrich dem Weisen wohl einer der größten Reliquienjäger seit Helena und wusste sich im Besitz von Weihrauch, Gold und Myrre, das die Drei Weisen dem Neugeborenen Heiland mitgebracht hatten.

Mit diesen Geschichten konfrontiert, kommt Oliver Wintzek auf die Idee, dass es eigentlich noch mehr Reliquien brauche – sie sollten aber lebendig sein. „Ich würde mir lebendige Heilige vorstellen wollen. Wie die Orthodoxie sagt: Die Heiligen sind die Ikonen des Heiligen Geistes. Die christlogische Logik ist ja nicht nur in der Gestalt Jesu gegeben, sondern sie wird durch die Christgläubigen perpetuiert.“ Folgt man dem Gedanken des Professors gelten alle und vielleicht sogar alles als Hinterlassenschaften des Heiligen.


Den ersten Teil der Wallfahrt zu Reliquien der Weihnacht lest ihr hier.