Hier ist schwurbelfreie Zone!

Unsere Kolumnistin hat keine Geduld mehr über für Verschwörungsschwurbler, schließlich haben Lockdown-Eltern Besseres zu tun.

Wir alle haben diesen einen Bekannten, der seine Warzen bekämpft, indem er Katzenpipi draufschmiert. Wir alle haben diesen einen Nachbarn, der leise „Sie sprühen wieder ..“ vor sich hinmurmelt, wenn Flugzeuge den Himmel mit Kondensstreifen bemalen. Wir alle haben diesen einen WhatsApp-Kontakt, den wir schon vor Jahren stumm geschaltet haben, weil in seinem Status immer die neusten Verschwörungsmeldungen aufpoppen.

Und nun haben wir alle den einen, der weiß, dass Covid-19 nicht gefährlich ist.

Den einen, der sich rühmt, einer der wenigen zu sein, die verstanden haben, dass nicht die Pandemie unser eigentliches Problem ist, sondern die von Bill Gates organisierte Beschneidung weltweiter Freiheitsrechte. Einige, die nun zu dieser Gruppe gehören, schauen in ihrem Alltag – genau wie ich – auf Jesus. Manche sogar von hohen Ämtern aus. Und das macht es für mich irgendwie besonders schwer, ihre Äußerungen zu ertragen. Doch auch damit muss ich nun wohl leben. Theoretisch! Mein Problem ist, dass ich praktisch damit an meine Grenzen komme.

Ich fürchte, meine Nächstenliebe ist aufgebraucht. Ich habe mich acht Wochen lang mit meiner Familie zu Hause verschanzt. Aus Nächstenliebe. Wir haben Ostern ohne unsere Großeltern gefeiert. Aus Nächstenliebe. Wir haben den Geburtstag unserer mittleren Tochter allein zu Hause gefeiert. Ohne Omas. Ohne Opa. Ohne Freunde. Aus Nächstenliebe. Ich habe Hauslehrerin gespielt und versucht, nicht ganz so oft die Nerven zu verlieren. Aus Nächstenliebe. Ich habe akzeptiert, dass mein Mann und ich zwar 24 Stunden beieinanderhocken, aber nie Zeit für uns als Paar haben. Aus Nächstenliebe. Ich habe hingenommen, dass ich all meine Aufträge für dieses Jahr verloren habe. Aus Nächstenliebe.

Das ist okay. Ich will nicht jammern. Ich schaffe es noch nicht mal, richtig zornig zu werden, weil es für die Bundesliga mehr Konzepte gibt als für Kitas – und das ungeachtet der Tatsache, dass einige Profis schon bewiesen haben, dass ihnen Dreijährige beim Respektieren der Hygieneregeln durchaus ebenbürtig sind. Ich warte. Ich probiere zu lieben. Ich versuche mich, mittelmäßig erfolgreich, in Sanftmut und bete mehrmals täglich: Jesus, das ist dein Job, kümmer dich drum.

Ich komme durch die Tage. Zumindest, wenn ich meine Finger von Twitter und Facebook lasse. Denn wenn ich den Fehler mache, dort hineinzuschauen, verliere ich den letzten Rest seliger Sanftmütigkeit. Denn da muss ich lesen, dass alles, was ich in den letzten Monaten probiert habe, gar nicht nötig war.

Dort erfahre ich auf einmal, dass nicht etwa renommierte Wissenschaftler die besten Quellen für die derzeitige Situation sind, sondern ganz andere Menschen. Diese anderen Experten kannte bis gestern keiner – gut, wer kannte schon Christian Drosten vor neun Wochen? -, sie haben weder einen Lehrstuhl irgendwo oder bisher irgendwas zur virologischen oder epidemiologischen Forschung beigetragen. Aber hey – sie haben eine Meinung! Und weil diese Meinung nun einmal besser in den Gemütszustand mancher Menschen passt, nehmen sie halt diese. Das ist so, als würde ich mir für heute das Wetter von wetteronline.de aussuchen, weil mir das von wetter.de nicht gefällt.

Du musst schauen, was deren Bedürfnisse und Ängste dahinter sind, sagte eine Freundin. Dort findet ihr wieder zusammen. Sie hat recht. Theoretisch! Praktisch bin ich vollends damit ausgelastet, zu schauen, wie ich den Bedürfnissen und Ängsten meiner Kinder gerecht werde. Im Moment wende ich all meine Kraft dafür auf, meine kleinen Krisenhelden in ihrer Mitte zu halten.

Ich habe wenig übrig für Erwachsene, die ihre Mitte finden, indem sie die Realität in eine beliebige Richtung verschieben. Und deshalb werde ich meine Mitte bis auf weiteres zur schwurbelfreien Zone erklären. Ich schalte stumm, ich klicke auf „Nicht mehr abonnieren“ und notfalls entfolge ich für eine Weile. Derweil hoffe ich, dass es auf Dauer ausreicht, dass wir Jesus nicht entfolgen. Dass er eine Idee hat, wie er seinen irdischen Saustall irgendwann wieder miteinander ins Gespräch bringt und wie selbst zornige Lockdown-Mütter wie ich wieder barmherzig werden können.