Impfpflicht: Ein etwas anderes Pro & Contra

Ist es eine gute Idee, eine Impfpflicht einzuführen? Darüber wird in Politik und Gesellschaft angeregt diskutiert. In einem etwas anderen Pro & Contra nehmen wir das Thema auf, denn es ist kompliziert.

In Politik und Gesellschaft wird angeregt über die Einführung einer Impfpflicht diskutiert. In die Diskussion steigen auch wir in der Eule ein: Niklas Schleicher, Ethikdozent und Vikar, argumentiert in seinem „Nein, aber …“ gegen die vorschnelle Einführung einer Impfpflicht. Zuvor müssten andere Maßnahmen ergriffen werden. Eule-Redakteur Philipp Greifenstein spricht sich in seinem „Ja, aber …“ für die Einführung aus, die allerdings von zwei weiteren wichtigen Aktionen begleitet werden muss.


Impfpflicht: „Nein, aber …“

Von Niklas Schleicher


Es gibt keine einfachen Antworten. Das klingt hier banal und wenig spannend, weil es eigentlich in 95 Prozent der Fälle stimmt. Aber auch was die Coronapandemie betrifft, lässt sich sagen: Es gibt keine einfachen Antworten. Das ist schade, denn man könnte denken, dass es wenigstens hier so ist: Schuld an Welle Nummer 4 sind die Impfverweigerer. Hätte man eine höhere Impfquote, dann wäre es hier nicht so katastrophal, wie es gerade ist.

Klar, Menschen würden sich immer noch anstecken, aber wenigstens würden die Intensivstationen nicht so volllaufen, wie sie es gerade wieder tun. Und wir könnten uns jetzt schön auf den Weihnachtsmärkten einen Glühwein gönnen oder gemeinsam in den Kirchen relativ unbesorgt Adventslieder trällern. Und das mag möglicherweise sogar stimmen. Mehr Impfungen würden unterm Strich weniger Probleme, wie wir sie gerade haben, ergeben. Deshalb ist die Konsequenz simpel. Auf dieses einfache Problem gibt es eine einfache Antwort. Endlich einmal. Wir brauchen eine Impfpflicht.

Naja, die meisten wissen, wie der Hase läuft. Das mit dem „es gibt keine einfachen Antworten“ meine ich durchaus ernst. Auch wenn es so schön wäre. Dabei ist zunächst festzuhalten: Eine Impfpflicht könnte, wenn die richtigen Bedingungen erfüllt sind, durchaus etwas sein, das helfen kann.

Vertrauensbruch der Politik?

Erinnern wir uns: Die maßgeblichen politischen Parteien haben durch die Bank weg eine Impfpflicht ausgeschlossen. Das war, sagen wir es mal nett, ziemlich dumm. Auch wenn sie sich jetzt mit guten Argumenten davon distanzieren, wie Olaf Scholz, der seine neue Regierung nicht an alte Zusagen gebunden sieht. Nun kann man sagen, dass es natürlich möglich ist, seine Meinung zu ändern, wenn sich die Lage ändert.

Nur: Dass die Situation ist, wie sie eben gerade ist, ist ja nichts, dass völlig im Bereich des Undenkbaren lag. Schon lange warnten Expert*innen vor weiteren Wellen und weiteren Mutationen. Das wussten die Politiker*innen. Das wussten wir. Dennoch wurde eine Impfpflicht ausgeschlossen. Und diese Entscheidung wurde bereits damals kontrovers diskutiert.

Man glaubte an den gesunden Menschenverstand und das Vertrauen darauf, dass Menschen sich sicherlich impfen lassen. Allein, man hätte auch wissen können, dass schon vor Corona die Impfbereitschaft durchaus problematisch war. 2019 stufte die WHO Impfgegner*innen als eines der größten Gesundheitsrisiken weltweit ein. Warum sollte sich das jetzt plötzlich anders darstellen?

Wenn man eine Impfpflicht einführt, muss man sich im Klaren darüber sein, dass der Vertrauensverlust, der damit einhergeht, schwer zu beheben sein wird. Nun kann man sagen, dass man einen Teil der Bevölkerung sowieso schon verloren hat. Aber dieser Teil wird durch eine Impfpflicht wachsen, und sich, das dürfte sicher sein, radikalisieren. Die eigene Entscheidung über die körperliche Integrität ist nichts, was den Menschen unwichtig ist.

Dann geht es natürlich um die Ausgestaltung der Impfpflicht. So wurde und wird eine partielle Impfpflicht für Menschen in medizinischen Berufen oder Pflegeberufen diskutiert. Dies erscheint sinnvoll, da diese Personen ja durchaus Superspreader sein können und engen Kontakt zu vulnerablen Gruppen haben.

Umgekehrt muss man sich vor Augen führen, dass gerade diese Berufsgruppen über die Pandemie hinweg viel geleistet haben. Und oft war der Lohn nicht mehr als ein Klatschen vom Balkon. Und nun sollen es diese Gruppen sein, über die wieder verfügt wird? Das erscheint nicht besonders gerecht, um es mal simpel zu formulieren.

Strafen für Ungeimpfte: Wer wird erwischt?

Möglicherweise ist, auch vor diesem Hintergrund, eine allgemeine Impfpflicht gerechter. Nur stellt sich dann ein Folgeproblem: Gibt es zum einen genug Impfstoff und zum anderen genug Kapazitäten, um Menschen impfen zu lassen? Eine Impfpflicht ergibt nur Sinn, wenn die Rahmenbedingungen da sind. Angesichts des Impfchaos an vielen Orten sind hier Zweifel angebracht. Eine Pflicht einzuführen, der man nicht genügen kann, ist sinnlos.

Von den Sanktionsmöglichkeiten und -Notwendigkeiten im Falle einer Verweigerung der Pflicht haben wir da noch gar nicht geredet. Eine Geldstrafe? Dann trifft die Pflicht wieder diejenigen Schichten härter, die finanziell schlechter gestellt sind. Die Rahmenbedingungen jedenfalls sind etwas, über das man sich durchaus Gedanken machen muss. Denn kann es sein, dass wir Menschen noch gar nicht erreicht haben, die vielleicht zum Impfen bereit sind? Gibt es noch Lücken, die sich schließen lassen?

Ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass gerade in Bevölkerungsgruppen, die sowieso manchmal übersehen werden, durchaus noch Potential da ist. So hat es jedenfalls Christian Drosten beschrieben. Und dann: Nicht alle, die sich der Impfung verweigern, sind harte Impfgegner*innen. Auch hier wäre vielleicht nochmal drüber nachzudenken, wie man diese Menschen erreicht und eventuell die Narrative, die ihre Skepsis prägen, entkräften kann. Das ist schwierig, ohne Frage. Aber wo war bisher die Kampagne, die Impfskepsisnarrativen offensiv entgegengetreten ist?

Der Intensivmediziner Christian Karagiannidis erklärte bei seinem Gastauftritt in einer Spezialausgabe des NDR „Corona-Update“, dass ihm auf den Intensivstationen nur in den wenigsten Fällen ideologisch gefestigte Corona-Leugner begegneten, sondern vielmehr Menschen, die ihren Irrtum und ihre Faulheit bereuen. Zu spät, könnte man da zynisch einwenden. Genau das halte ich für elitär und zu kurz gesprungen! In der Corona-Pandemie hat sich eine Informations-Elite aus ohnehin privilegierten Menschen etabliert, die insbesondere in den Sozialen Netzwerken lautstark ihre Überzeugungen vertreten. Dagegen ist auch nichts einzuwenden.

Aber andere Menschen haben schon lange „abgeschaltet“ oder konnten mit den vielen, sich ständig weiter- und entgegengesetzt entwickelnden Nachrichtenlagen während der Corona-Zeit nicht mithalten. Ich erlebe das auch in meiner Kirchenpraxis als Vikar immer wieder. Ja, es müssen viele Entscheidungen immer wieder neu und ausdauernd miteinander getroffen und dann auch kommuniziert werden. Das fordert die Kommunikator*innen, aber eben auch die Adressat*innen heraus.

Ich jedenfalls kann jede*n auch ein bisschen verstehen, der die vielen zwischenzeitlichen Hiobsbotschaften oder überstürzten Nachrichtenmeldungen zu den Impfungen – man denke an die Abwägung zwischen den unterschiedlichen, ja allesamt sehr guten Impfstoffen in der Presse – nicht gut verdaut haben. Auch hier fehlt eine stringente Kommunikation, die besonders jene im Blick hat, die – aus welchen Gründen auch immer – eben nicht zur Gruppe der Gut-Informierten gehört. Verschärft wird das Problem natürlich auch durch den Kurs der STIKO, der aus einer wissenschaftlichen Perspektive zwar plausibel ist, dabei aber die Notwendigkeiten guter Kommunikation oft missachtet.

„Nein, aber …“

Wenn man diese Punkte bedacht hat, dann kann man auch über eine Impfpflicht nachdenken. Denn ja, man würde diese Menschen dann zu einer Impfung verpflichten, die sie hoffentlich auch zeitnah erhalten könnten. Mir wäre lieber, sie täten es aus Überzeugung. Dafür haben wir auch gesamtgesellschaftlich Verantwortung zu tragen. Ein zentraler Anspruch christlicher Ethik ist, dass sich die Stärkeren um die Schwachen sorgen sollen – nicht über sie zu Gericht sitzen.

Und das ist den meisten natürlich völlig bewusst, kann aber nicht oft genug betont werden: Aus dieser Welle hilft uns eine Impfpflicht nicht, egal ob sie nur einige Berufe oder alle Erwachsenen umfasst. Vielleicht ja bei der Nächsten. Oder aber: Wir nehmen die Politik in die Pflicht. Denn eines muss man sagen: Auch die Berufung eines Generals für den Krisenstab hilft nicht über die vielen Pleiten hinweg, die bis jetzt bei der Bekämpfung der Pandemie angefallen sind.


Niklas Schleicher (@megadakka) ist Vikar der württembergischen Landeskirche (ELKWUE), Doktorand in evangelischer Theologie (Ethik) an der LMU in München und Lehrbeauftragter für Ethik an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Er ist Mitherausgeber eines neuen Buches zu Religion und Psychologie: „Die Entdeckung der inneren Welt“.

Impfpflicht: „Ja, aber …“

Von Philipp Greifenstein


„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“, lautet der zentrale Satz in Kurt Weills, Elisabeth Hauptmanns und Bertolt Brechts Schuloper „Der Jasager / Der Neinsager“. Er wird, wenn ich mich meiner Schulzeit richtig erinnere, in einem längeren Monolog vom Held des Stückes, dem „Neinsager“, zur Begründung seiner Verweigerung vorgetragen. Es geht darum, sich nicht aus altem Brauch für die Gemeinschaft opfern zu lassen.

Machen wir uns nichts vor: Die Impfpflicht wird kommen. Vielleicht noch vor Weihnachten beschlossen, wird sie ab März oder April 2022 gelten. Soweit ist die Willensbildung in der Bevölkerung und auch in der Regierung Merkel IV Scholz I geronnen. Keine Sorge, hier wird nur entschieden, was auf möglichst großes Einverständnis der Bevölkerung stößt. Das Versprechen, die Corona-Impfung als einen Akt der freiwilligen Solidarität zu gestalten, war hingegen richtig und falsch, überstürzt und prinzipientreu zugleich.

War A wirklich nur falsch?

Richtig war es aus politischer Perspektive, weil man damit an das Gute im Menschen appelierte, an den Bürgersinn der Gutwilligen. Das hat funktioniert: Viele Menschen, auch ich, hatten bei ihren Impfungen gegen das Corona-Virus nicht nur das gute Gefühl, etwas für die eigene Gesundheit und die ihrer Kinder zu unternehmen, sondern auch für die Allgemeinheit. Der Gang ins Impfzentrum als Bürgerpflicht wie der zur Wahlurne. Mich hat das überzeugt.

Das Versprechen war falsch, weil es ersichtlich diejenigen ruhigstellen sollte, die noch hinter jeder Corona-Schutzmaßnahme die Diktatur trappsen hören wollen. Das hat nicht funktioniert. Was vor allem daran liegt, dass es den PEGIDA-Klonen der „Anti-Maßnahmen-Koalition“ eben nicht um Sinn oder Angemessenheit einzelner Maßnahmen geht, sondern um Ansatzpunkte für ihren Protest der enthemmten Kleinbürgerlichkeit. Befeuert, das darf man nie vergessen, von einer politischen Rechten, die weit in die bürgerlichen Milieus hineinreicht und die nach Migration und Flucht nun Corona als neues Thema ihrer Daueraufregung entdeckt hat.

Das Versprechen war überstürzt, weil man zum Zeitpunkt des Schwurs noch nicht wissen konnte, ob man auf dieses – sicher weitreichende und in seinen Auswirkungen komplexe – Instrument später doch zurückgreifen muss. Seitdem sich herausgestellt hat, dass Corona in immer neuen Wellen über uns kommt, ist das mehr als deutlich geworden. Auch hat ein (halbes) Jahr Corona-Schutzimpfungen (für alle Erwachsenen) nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Das hätte man, wie Niklas Schleicher in seinem „Nein, aber …“ richtig schreibt, besser wissen können.

Das Versprechen, keine Impfpflicht einzuführen, war aber auch prinzipientreu, weil eine solche Pflicht einen erheblichen Eingriff in die Selbstbestimmung und von mir aus auch körperliche Unversehrtheit der Bürger:innen darstellt (Art 2 GG). Deshalb ist bei Pflichten, die der Staat seinen Bürger:innen auferlegt, Zurückhaltung angesagt. Aber es ist auch klar, dass eine Impfpflicht einzuführen selbstverständlich im Rahmen unserer Rechtsordnung möglich ist. Dafür haben wir Erwachsenen ein Parlament gewählt, dass das mit einem ordentlichen Bundesgesetz bewerkstelligen kann. Und das bringt uns nun eigentlich zu den entscheidenden Akteur:innen in diesem Drama.

Wir Erwachsenen haben gefailed

Vielleicht war es gar nicht möglich, der Pandemie zu einem früheren Zeitpunkt den Garaus zu machen, noch ist das bisher Ziel der deutschen Pandemie-Bekämpfung gewesen. Es geht nach wie vor darum, unser ansonsten im internationalen Vergleich hervorragendes Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren. Das Virus ist jedenfalls stets unter uns. Es ist gefährlich auch für Geimpfte, wenn auch – Gott sei Dank! – wesentlich weniger. Um Kinder und vulnerable Gruppen effektiv zu schützen, hätten alle anderen Erwachsenen sich impfen lassen müssen. Alle? Alle, das ist in der Demokratie selten eine gute Idee.

Niklas Schleicher fragt in seinem „Nein, aber …“ zur Impfpflicht nach den Konsequenzen ihrer Einführung. Eine Pflicht ohne Sanktion ergibt nämlich überhaupt keinen Sinn und würde sich in den Reigen der nur symbolisch zu verstehenden Corona-Maßnahmen einreihen, die Deutschland in schnöder Regelmäßigkeit produziert („Oster-Ruhe“, Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte bei gleichzeitiger Akzeptanz von „Corona-Spaziergängen“ etc.). Wenn ein paar Migranten oder Spätaussiedler Bußgelder kassieren, wem hilft’s? Und wenn gar drastischere Strafmaßnahmen ergriffen würden, müssten wir uns fragen, was wir verlören, derweil wir wohl eine höhere Impfquote gewännen.

Ich schaue in europäische Länder mit weitaus geringeren Impfquoten als zwischen Rhein und Neiße. Das Sterben dort findet von der Öffentlichkeit hier verborgen statt. Die weltweite Dimension der Pandemie wird uns nur schlaglichtartig und für extrem kurze Zeiträume bewusst, wenn wieder einmal einer neuen Corona-Variante fälschlicherweise eine Nationalität zugeschrieben wird. Auch das wird eine allgemeine Impfpflicht in Deutschland nicht ändern.

Appropos „allgemein“. Noch vor wenigen Tagen ging es vornehmlich um eine „partielle“ Impfpflicht im Pflegebereich. Schließlich sterben bisher vor allem betagte und vorerkrankte Menschen am Virus. Der Eingriff in die Grundrechte bliebe hier auf eine Gruppe beschränkt. Man kann wohl fragen, wie Niklas Schleicher, ob das gerecht wäre. Man kann auch die Warnung des führenden Intensivmediziners Christian Karagiannidis bedenken, dass eine solche partielle Impfpflicht zu Kündigungen führen könnte, die der ohnehin angespannten Personaldecke in den Krankenhäusern übel bekämen. Also: Kleinerer Eingriff in die Grundrechte, der wohl etwas an den Todeszahlen, aber nicht an der Dynamik von Ansteckungen und Erkrankungen änderte, und der beim Personal schlecht ankommen könnte.

Wir landen auf jedem Gedankenpfad wieder bei „uns“, den Erwachsenen. Es ist jetzt nicht mehr die Zeit, die Verantwortung für die Pandemie-Bekämpfung abzuschieben. Auch nicht an das Pflegepersonal. Es ist auch keine Zeit, intensiv nach Schuldigen zu suchen. Ja, wir wissen doch, dass die Pandemie von den Umgeimpften getrieben wird, die eben auch mit anderen Regeln wie Kontaktbeschränkungen fahrlässig umgehen. Umgeimpfte sind an 8 von 10 Corona-Infektionen beteiligt.

Die Pflicht zu drei Pieksen

Nur wir Erwachsenen können das hier beenden und das Virus in den Orkus zurückverbannen, aus dem es entfleucht ist. Das bedeutet, uns endlich wie Erwachsene zu benehmen. Wenn eine Maßnahme als richtig und angemessen erkannt ist, aber nicht durchgeführt wird, dann muss man sie zu einer Pflicht machen. Das sage ich nicht als Jurist oder Mediziner, sondern mit der Küchenpsychologie eines Vaters. Wenn die Spülmaschine nicht ausgeräumt und der Müll nicht runtergebracht wird, dann muss man sich darauf verpflichten. Erwachsensein bedeutet, sich einzuschränken.

Und die mit einer allgemeinen Impfpflicht verbundenen Grundrechtseinschränkungen wären weder die ersten noch die schlimmsten, die wir Erwachsenen allen Menschen in dieser Pandemie zugemutet haben. Ja, bisher haben die fähigen, körperlich und geistig mobilen Erwachsenen unter den Maßnahmen vergleichsweise wenig gelitten! Anders als Kinder und Jugendliche, Sterbende und Kranke, denen Entscheidungen im zweifelsfall ganz abgenommen wurden. Mein Herz schmerzt beim Gedanken an Familien, die ihre vorerkrankten Kinder seit fast zwei Jahren von allen Gefahren abschirmen müssen, weil für die Kinder (noch) keine Impfung möglich ist.

Dem gegenüber steht die Pflicht zu drei Pieksen in den Oberarm, die womöglich das Wohlbefinden der Impflinge temporär einschränken, der Wohlfahrt der Gesellschaft jedoch dienen. Das Wohl von Vielen wiegt schwerer als das Wohl von Wenigen oder von Einem. Erst recht, wenn deren Verweigerung oder Faulheit sich aus der Vernunft nicht zugänglichen Motiven speist.

„Ein zentraler Anspruch christlicher Ethik ist, dass sich die Stärkeren um die Schwachen sorgen sollen – nicht über sie zu Gericht sitzen“, erklärt Niklas Schleicher. Ja, das stimmt. Das Gegreine über die „Impf-Skeptiker“ und auch das faszinierte Gestarre auf die Ideologen der Szene ist ein Volxsport, der davon ablenkt, dass wir selbst es doch sind, die handeln können. Nicht nur „die“ Politik, sondern auch die Bürgergesellschaft lässt sich vom Irrsinn der Wenigen treiben.

„Ja, aber …“

„Wer A sagt, muss nicht B sagen“, die Gründe vom einmal gegebenen Versprechen zum Wohle der Allgemeinheit zurückzutreten, sind klar. Anders als in der Schuloper geht es darum, abzuwägen, wann es angemessen ist, auf ein eigenes Recht zu verzichten, um anderen beizuspringen. Die Impfskeptiker sind nicht in der Rolle des Neinsagers, der sich aus dem Einverständnis der Gesellschaft herauslöst, um sein eigenes Leben zu retten. Vielmehr würden sie mit ihrem Einverständnis zur Impfung auch ihr eigenes Leben retten. Leben retten ist das Ziel wahren Widerstands.

„Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis
Viele sagen ja, und doch ist da kein Einverständnis
Viele werden nicht gefragt, und viele
Sind einverstanden mit Falschem. Darum:
Wichtig zu lernen ist Einverständnis.“

Die Worte des Eingangs- und Schlusschores stehen dem „Wer A sagt, muss nicht B sagen“ nur scheinbar diametral gegenüber. Wer für eine Impfpflicht eintritt, der darf auch die Dimension des Einverständnisses nicht aus den Augen verlieren.

Ja, ich bin für eine allgemeine Impfpflicht, aber unter zwei Bedingungen, die ein tieferes Einverständnis fördern müssen: Erstens braucht es eine alle notwendigen Ressourcen aufbringende weltweite Impfmission. Wenn Grundrechte eingeschränkt werden, dann nur als Preis dafür, dass wir das Virus endlich besiegen.

Und zweitens braucht auch eine Pflicht eine passende Kommunikation und Vorbereitung. Verheerend für das Institutionenvertrauen in der Bevölkerung ist nicht, eine einmal getroffene Entscheidung zu revidieren. Auch wenn es eben nicht allein „die“ Politiker:innen, sondern auch Publizist:innen, Journalist:innen und viele, viele Privatleute waren, die mit dem Versprechen für die Akzeptanz der Maßnahmen insgesamt geworben haben. Verheerend wird sein, wenn nicht genügend Impfstoff für die Verpflichteten zur Verfügung steht, wenn der Zugang zu Impfungen erschwert ist, wenn die Impfpflicht als Strafaktion statt als Verantwortungsübernahme der Erwachsenen kommuniziert wird.

Wir brauchen die Impfpflicht, aber wir könnten auch ein „We are the World“ für die Corona-Bekämpfung gebrauchen.


Philipp Greifenstein (@rockToamna) stammt aus Dresden und wohnt inzwischen in Bad Frankenhausen. Er ist freier Journalist (Website) und Geschäftsführer der Eule. Außerdem schreibt er die Kolumne „Die rechte Ecke“ (früher häufiger auch „Unter Heiden“).