Inhärent böse oder im Grunde gut?
Unsere Kolumnistin Daniela Albert fragt sich, welches Bild vom Menschen der christliche Glaube zeichnet. Und gerät darüber in Zweifel an ihrer Kirchenzugehörigkeit. Was sie sich für das kommende Jahr vornimmt:
Kürzlich hat mich ein Video der Instagrammerin @feelslike_sina so getriggert, dass ich ihr aus einem Reflex heraus sofort entfolgt bin. Sina, Theologin, Seelsorgerin, Pfarrfrau, erklärt darin, dass sie wenige Stunden vorher aus der Kirche ausgetreten ist. Unter Tränen erläutert sie ihre Gründe für diesen, in ihrer Lebenssituation ja schon fast radikalen, Schritt: Sina kann sich mit den Grundannahmen des christlichen Glaubens nicht mehr identifizieren.
Schon öfter hat sie darüber gesprochen, dass sowohl das christliche Frauenbild, das sie in konservativen Kreisen kennengelernt hat, als auch der Gedanke an den Sühnetod für sie nicht mehr stimmig erscheinen. Ihr Welt- und Menschenbild, ihre Lebenserfahrungen und nicht zuletzt ihre Erkenntnisse als Mutter haben in ihr Zweifel genährt, die letztlich nicht mehr mit einer Kirchenzugehörigkeit zu vereinbaren waren.
Das muss man doch heute nicht mehr so radikal durchziehen, habe ich im ersten Moment gedacht. Gerade die meisten Landeskirchen sind doch liberal genug, dass jede:r dort sein Plätzchen finden kann. Besonders, wenn man, so wie Sina es von sich selbst beschreibt, immer noch eine große Jesusliebe in sich trägt.
Doch genau deshalb hätte mich ihr Schritt auch nicht so triggern müssen. Hat er aber und ich habe eine ganze Weile gebraucht, um mich selbst zu verstehen. Die sehr einfache Antwort hat mich doch ziemlich aus den Schuhen gehauen: It feels like Sina in my own heart.
Nein, nicht exakt genauso. Ich habe noch keinen Termin beim Standesamt ausgemacht, um mich von der Kirche zu verabschieden und ich hoffe auch inständig, dass ich das nicht tun muss. Denn die Kirche ist noch immer ein Ort, an dem ich mich zuhause fühle und ohne den ich nicht sein möchte.
Zweifel, Wut und Fragen
Aber ich trage Zweifel in mir. Ein bisschen Wut ist auch dabei. Kognitive Dissonanz in jeden Fall. Denn ich frage mich, wie es sein kann, dass eine wie ich, die eigentlich am allerliebsten das Licht sucht, die immer ein Happy End erwartet und im Zweifel ihren Gegenübern Positives unterstellt, Teil einer Gemeinschaft ist, deren Grundlage irgendwie darauf zu fußen scheint, den Menschen als sündhaft, ungenügend und aus eigener Kraft (sprich: ohne Glaube an Jesus) nicht zum Guten fähig darzustellen?
Wie kann das sein, dass die Sätze, die für mich aktuell das Wesen dieser Welt am besten beschreiben und mir Halt an dunklen Tagen geben, nicht aus der Bibel stammen, sondern von Peter Jackson, der sie Gandalf dem Grauen im Hobbit in den Mund gelegt hat?
„Saruman ist der Meinung, dass nur große Macht das Böse fernhalten kann. Aber ich habe anderes erfahren. Ich finde, es sind die kleinen Dinge – alltägliche Taten von gewöhnlichen Leuten, die die Dunkelheit auf Abstand halten. Einfache Taten aus Güte und Liebe.“
Wie kann das sein, dass ich, die ich mich seit über 20 Jahren mit dem Wesen von Menschen, besonders kleinen Menschen und ihren sozialen Fähigkeiten, beschäftige, zu einer Gemeinschaft gehöre, in der man schon den Kleinen Verdorbenheit unterstellt?
Wie kann das sein, dass ich, die ich so sehr für die Rechte von Kindern kämpfe, einer Institution Steuern zahle, die genau diese über Jahrzehnte mit Füßen getreten hat und sich bis heute nicht nur nicht angemessen dafür entschuldigt hat, sondern wenig zur Aufarbeitung von Gewalt und Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen beiträgt und weiterhin Machtstrukturen aufrechterhält, die solche Übergriffe begünstigen?
Wie kann das sein, dass ich, die ich ein gutes Selbstwertgefühl für eine der größten Ressourcen im menschlichen Dasein halte, einem Glauben anhänge, der sich aus der Abwertung des menschlichen Wesens als sündhaft und erlösungsbedürftig speist?
Mit dem Bösen rechnen (müssen)
Vielleicht ist es kein Zufall, dass ich mir all diese Fragen am Ende dieses Jahres stelle. Der Krieg in der Ukraine ist eine Zäsur. Als Christ:innen müssen wir auf einmal eine Position finden – und dieser Angriff auf ein anderes europäisches Land erlaubt vielen von uns kein einfaches „Wir sind dagegen“! Ich verstehe, dass das aufwühlt und nach Erklärungen schreit, nach irgendetwas, an das man sich jetzt halten kann.
Hier das inhärent Böse im Menschen ganz neu aufs Tablett zu bringen, scheint ein plausibler Weg. Wir alle könnten Putin sein. Wir brauchen nicht mit dem Finger auf einen Despoten zu zeigen, sondern können in der eigenen Seele nachspüren, der Brutstätte für Hass und Gewalt in jedem Menschen. Diese Perspektive ist nicht grundfalsch. Natürlich bringt das menschliche Wesen so seine dunklen Seiten mit. Natürlich tun wir Dinge, die anderen schaden, wissentlich oder unwissentlich. Natürlich sind wir alle mal gemein, berechnend und für andere Menschen verletzend. Und ja – man kann aus Menschen echte Despoten machen.
Doch als eine, die sich viel mit Biografien von eben solchen Despoten beschäftigt hat, weiß ich auch: Das ist eine Menge Arbeit und uns keineswegs in die Wiege gelegt. Denn: Nein, so tief und einseitig ist unsere Veranlagung zum Schlechten eben nicht. Im Gegenteil, wir sind soziale Wesen, die auf Zugehörigkeit und Liebe angewiesen sind, die sich in andere Menschen hineinversetzen können und die Gemeinschaft brauchen. Es muss viel passieren, dass wir einander Schlimmstes antun.
Wir werden dem menschlichen Wesen daher nicht gerecht, wenn wir, wie Thorsten Dietz es in seinem Buch „Sünde“ umschreibt, keinen Unterschied machen zwischen Osama bin Laden und Gandhi.
Gewappnet für das Böse?
Das schreibe ich nicht, während ich auf einer rosa Wattewolke der Glücksseligkeit sitze: Nicht nur weltpolitisch hat mich dieses Jahr in meinen Grundfesten erschüttert. Auch privat hat sich mir die hässliche Fratze des menschlichen Daseins zu oft gezeigt.
Ich musste miterleben, wie Menschen mir und meinen Lieben wissentlich geschadet haben. Ich hatte mit Menschen zu tun, die Freude und Befriedigung daran gefunden haben, andere zu quälen, bei denen die Tränen ihrer Gegenüber nicht Mitgefühl, sondern Genugtuung ausgelöst haben.
Ich habe Menschen erlebt, die Leid ignoriert und solche, die sich am Unglück anderer bereichert haben. Ich habe mich über Bequemlichkeit, Ignoranz und mangelnde Courage geärgert. Und ich habe gespürt, was all das mit meinem eigenen Herzen gemacht hat. Oh ja – ich habe in ungeahnter Weise Wut gespürt, Rachegelüste, mit denen man einen Splatter-Film hätte drehen können. Ich habe mein Herz verschlossen und habe nicht mal einen Gedanken an Vergebung oder gar Versöhnung verschwendet.
Natürlich bin auch ich anfällig für all die Seiten des menschlichen Wesens, die dem guten Miteinander nicht förderlich sind: Ich bin ein Lästermaul, bediene mich gern kleinerer und größerer Notlügen und mein Ausweg aus für mich verletzenden Situationen ist gern mal arrogante Überheblichkeit.
Es gäbe also genug Anlass, mich auf diese nicht liebenswerte Weise der Menschlichkeit zu konzentrieren und sie als die dominierende Seite der menschlichen Natur zu akzeptieren. Ich könnte meinen Blick auf das im Moment wieder ordentlich beschworene Böse lenken und es auch gleich als Erklärungsmuster für anstrengendes Verhalten meiner Kinder nehmen, statt mich mit dem komplexen Wissen um Entwicklungsphasen abzumühen. Dann könnte ich mich für all das entsprechend wappnen. Vielleicht würde mich das kommende Jahr dann weniger erschüttern, als dieses es getan hat.
Taten aus Güte und Liebe
Ich habe mich für einen anderen Weg entschieden. Ich möchte meinen Blick auf das Gegenteil lenken. Ich denke dabei an eine Geschichte der Autorin Veronika Smoor, die mich einst sehr berührt hat: Nachdem am 11. September 2001 die Flugzeuge ins World Trade Center geflogen waren, haben sich viele in Misstrauen und Angst verstrickt. Sie nicht. Sie kündigte ihren Job, packte einen Rucksack und ging auf Weltreise, weil sie der festen Überzeugung war, dass die Welt ein guter Ort ist und die Mehrheit der darin lebenden Menschen liebenswert. Genau das wollte sie neu entdecken. Gerade nach diesem Ereignis.
Nun kann ich leider keinen Rucksack packen und auf Weltreise gehen. Aber ich kann mich aufmachen und das Gute suchen. Das Menschenbild, wie es zum Beispiel der Historiker Rutger Bregman in seinem Buch „Im Grunde gut“ zeichnet, muss doch zu finden sein! Auch in der Kirche, von der ich trotz allem nicht lassen will. Unserem Schöpfer scheint ja eine ganze Menge an uns zu liegen. Der kirchliche Tenor, den ich kennengelernt habe, sagt dazu „trotz allem“. Ich möchte mich aber auf die Suche nach dem „Weil“ machen. Was macht uns liebenswert – abgesehen davon, dass wir Gottes Kinder genannt werden, wo zeigt sich unser guter Kern?
In meinen Rucksack für diese Reise packe ich ein paar gute Bücher, aufmerksame Antennen für das, was Menschen um mich herum Gutes tun, Neugier auf Menschen, die nicht an Jesus glauben und in der Welt dennoch zum Besseren wirken und natürlich nehme ich auch meine Bibel mit – und Gandalf, für Notfälle.
Ich möchte keine vorschnellen Antworten und allzu komfortablen Lösungen. Vielmehr möchte ich die kognitive Dissonanz zwischen dem, was mir oft als Kernbotschaft meines Glaubens präsentiert wurde, und dem, wie ich die Welt erlebe, eine Weile zulassen. Wenn ich darf, berichte ich euch nächstes Jahr um diese Zeit, was ich dabei so herausgefunden habe. Ich hoffe, dass ich dann immer noch gern meine Kirchensteuer zahle, mit der ja ziemlich viele echt gute Dinge ermöglicht werden. Und ich hoffe, dass ich dann immer noch und vielleicht sogar ganz neu „Ja!“ zu dem Kind in der Krippe sagen kann!