Jede Entscheidung die Falsche!

Abschaffung des Werbeverbots für Abtreibungen in Deutschland und Streit um Roe vs. Wade in den USA. Die Abtreibungs-Debatte ist zurück. Daniela Albert stellt Fragen.

„Jede Entscheidung ist falsch“. Das ist der vielleicht eindrücklichste Satz aus Carola Rink und Elena Seidels Buch „Eine Entscheidung für das Leben“. Er hat sich mir allein deshalb so ins Gedächtnis gebrannt, weil er oft fällt, wenn Carola, einer der beiden Autorinnen, ihre Geschichte erzählt.

Carola war 19 als sich diese verflixte zweite Linie auf ihrem Schwangerschaftstest zeigte und sich einfach weigerte, wieder zu verschwinden, so sehr sie sich sie auch wegwünschte. Sie wusste nur eins: Ich kann kein Kind bekommen. Auf gar keinen Fall. Nicht jetzt. Nicht mit diesem Mann. Sie nimmt uns mit auf ihren Weg durch einen Prozess, der sich für sie nicht richtig anfühlte und doch alternativlos. Vom positiven Test über die erste Schwangerschaftskonfliktberatung bis zu der Zeit nach dem Abbruch, in der sie versucht, das Geschehene zu verarbeiten. Wir erleben ihr ringen mit sich selbst und mit Gott, ihre Erleichterung und ihre Trauer gleichermaßen.

Und wir lernen Elena kennen, eine andere junge Frau, die schwanger wurde als eigentlich kein guter Zeitpunkt für ein Kind war. Mit gerade 16 und frisch in der gymnasialen Oberstufe stellt sie fest, dass sie ein Baby erwartet. Anders als für Carola steht für Elena sofort fest, dass sie es bekommen möchte. Mutig und zielstrebig zieht sie ihr Ding durch. Sie gibt ihren Leser:innen einen Einblick in die Vorurteile, die ihr als Teeniemutter entgegenschlugen, aber zeigt auch auf, was alles möglich ist. Elenas Geschichte hat ein Happy End – sie macht mit kleinem Kind an ihrer Seite Abitur, beginnt ein Lehramtsstudium, heiratet den Vater ihrer Tochter und einige Jahre später leben die beiden mit zwei Kindern und guten Jobs im eigenen Haus.

Schnell wird klar, dass Elena alles hatte, was Carola damals gefehlt hat: Ein stabiles Umfeld, die bedingungslose Unterstützung ihrer Herkunftsfamilie, einen Kindsvater, auf den Verlass war und einen guten Zugang zu allen relevanten Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten. Ich möchte nicht sagen, dass es leicht war, sich so für das Baby zu entscheiden – aber zumindest hatte die mutigen junge Frau Privilegien, die vielen anderen ungeplant Schwangeren bis heute verwehrt sind.

Mit den verstörenden Ereignissen in einigen Bundestaaten der USA rückt das Thema Abtreibung auch hier wieder verstärkt in den Fokus. Von sehr konservativer Seite werden die Staaten gefeiert. Liberal denkende Menschen sehen mit Entsetzen, was dort passiert.

Eigentlich könnten wir als Kirchen diese Entwicklung zum Anlass nehmen zu diskutieren, was wir eigentlich wollen. Eins ist sicher, als Christ:innen sollten wir uns nicht vorschnell im unterkomplex geführten Konflikt zwischen Pro-Life und Pro-Choice auf die eine oder die andere Seite schlagen. Wir werden der Abtreibungsfrage nur gerecht, wenn wir zuhören und verstehen wollen.

Pro-Lifer müssen verstehen, dass sich keine einzige Frau die Entscheidung zu einer Abtreibung leicht macht und sie müssen verstehen, dass Menschen in Situationen kommen können, in denen keine Entscheidung mehr die richtige ist – aber eine weniger falsch. Sie müssen verstehen, dass wir nur für das Leben einstehen können, wenn wir den betroffenen Frauen unsere Unterstützung in jedem Fall zusichern – auch dann, wenn uns ihre Entscheidung innerlich zerreißt.

Manchmal ist unsere Rolle als Christ:innen in der Welt das Aushalten. Manchmal können wir nur zusehen, wie jemand einen Weg geht, den wir für falsch halten. Manchmal müssen wir hilflos beten, während Dinge geschehen, die wir nicht mit unserer Wertschätzung für das Leben vereinbaren können. Es ist nicht unser Recht und auch nicht unsere Aufgabe, Frauen den alles verändernden Prozess der Schwangerschaft und der Geburt aufzuzwingen, wenn sie das nicht können. Aber ja – wir dürfen das falsch finden.

Wir dürfen „für das Leben“ sein. Wir dürfen in dieser Welt dafür kämpfen, dass überall da, wo sich auch nur ein kleiner Trampelpfad abzeichnet, Leben geschenkt werden kann. Das sollten wir auch deshalb tun, weil eben auch die andere Seite, eine Abtreibung, keine leichte und unproblematische Problemlösung ist – sondern – wie Carola Rink es formuliert „eine Entscheidung für das Leben“! Eine, mit der nicht gewordene Mütter und Väter fortan leben müssen.

Eine Entscheidung, die nie mehr rückgängig gemacht werden kann, eine die Narben hinterlässt. Eine die verarbeitet und betrauert werden will. Menschen, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzen, machen es sich nämlich an dieser Stelle oft zu einfach. Denn egal ob man nun der Meinung ist, dass Leben erst später entsteht oder nicht, es bleibt die Gewissheit, dass da Leben in einem wachsen wollte. Ein Mensch hätte geboren werden können. Ihr Mensch! Ein Teil von ihnen. Ein Teil dessen ersten Schrei die Welt nie hören wird, der nie seine ersten Schritte machen wird und niemals mit Zahnlücke und Zuckertüte zum ersten Schultag marschiert. Glauben eigentlich die Diskussionstreiber:innen auf beiden Seiten ernsthaft, dass dieses Wissen folgenlos für das menschliche Herz bleibt?

Oft fehlt es an Empathie auf beiden Seiten. Es ist nicht empathisch, Freudentänze aufzuführen, wenn es einen Durchbruch in Fragen der weiblichen Selbstbestimmung gegeben hat, denn keine einzige Frau empfindet Partystimmung, wenn sie den Weg einer Abreibung wählt. Und es ist auch nicht empathisch, vor Frauenarztpraxen zu stehen und Menschen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden haben, mit den eigenen Befindlichkeiten zu quälen. Ein solches Verhalten zeigt die absolute Unfähigkeit, andere Lebensrealitäten anzuerkennen und Ambivalenz in dieser zerbrochenen Welt auszuhalten.

Ich persönlich empfinde meinen Glauben als gute Möglichkeit, mich in diese Zerrissenheit hineinzugeben und anzuerkennen, dass ich nicht genug über das Leben weiß, um urteilen zu können. Ich würde mir jedenfalls wünschen, dass alle Seiten ihre vorgefassten Antworten einmal kurz vergessen könnten und wieder anfangen würden, Fragen zu stellen.