Jung, radikal und sichtbar: Die toxischen Botschaften der Christfluencer:innen
Hinter der Hochglanz-Welt der Christfluencer:innen verbirgt sich eine toxische Kultur, die verantwortliche Sexualität unmöglich macht. Es ist Zeit, laut zu widersprechen.
Unsere Kinder und Jugendlichen finden einen großen und wichtigen Teil ihrer Lebenswelt online. Das ist erst einmal eine gute Entwicklung, denn sie ermöglicht ihnen Vielfalt und Weite. Doch natürlich birgt sie auch Gefahren. Eine dieser Schattenseiten des Netzes zeigt sich direkt vor unserer Nase, in der christlichen Bubble.
Sie sind jung und geben sich modern. Ihre Videos und Fotos sind professionell. Alles stimmt, vom Schnitt, über Schrift, Musik und Kleidung. Sie sprechen die Sprache unserer Kinder und Jugendlichen. Und sie sind dem, was die meisten christlichen Medien zu bieten haben, weit überlegen.
Die Menschen, die sich dort zeigen, sind auffallend gutaussehend und wissen, welchen Ton sie treffen müssen, um eine Zielgruppe zwischen 13 und 30 zu erreichen. Sie zeichnen ein Bild von sich, das absolut nachahmenswert ist. Du siehst dort glückliche Teenager, denen die Welt zu Füßen liegt und das jeweilige andere Geschlecht mit Sicherheit auch. Sie erzählen von ihrem Platz im Leben, den sie ganz sicher gefunden haben, von tiefen, dauerhaften Freundschaften und Jesus an ihrer Seite.
Du siehst dort junge Erwachsene in ihren frühen 20ern, die gerade die Liebe ihres Lebens geheiratet haben und du durftest live dabei sein: vom romantischen Heiratsantrag, über die Brautkleidsuche, bis hin zum Ja-Wort. Du siehst junge Mütter Mitte 20, die perfekt geschminkt in perfekten Wohnzimmern sitzen und dir von ihrem Glück in einer traditionellen Ehe erzählen – und von Jesus, dem sie dies verdanken.
Ungesunde Hochglanz-Scheinwelt
Die Hochglanz-Scheinwelt, die sie um sich herum aufbauen, ist an sich schon ungesund für Jugendliche und junge Erwachsene, die ihren Weg in die Welt finden. Doch diese christlichen Influencer:innen haben noch mehr im Gepäck, denn ihre Profile sind voller toxischer Botschaften.
Da ist der Hinweis an junge Mädchen und Frauen, sich immer möglichst hübsch und weiblich zu kleiden, aber niemals zu aufreizend, denn nur so können sie Gott mit ihrer Kleidung Ehre erweisen. Zuviel Bein darf die junge Christin nicht zeigen, doch das, was man sieht, sollte keinesfalls behaart sein. Eine hübsche Bluse, die Augen und Figur betont? Aber bitte doch, solange sie hochgeschlossen ist. Dezent geschminkt solltest du als Mädchen sein, aber bitte auf keinen Fall tätowiert. Die Haare trägst du lang, denn alles andere ist nicht biblisch. Junge Frauen werden hier zurück in die engen Korsette gepresst, die ihre Großmütter und Mütter gerade erst mühsam für sie gesprengt hatten.
Das junge Paar erzählt auf seinem Kanal nicht nur eine romantische Liebesgeschichte, sondern stellt auch klar, dass Sex vor der Ehe für sie niemals in Frage gekommen wäre. Sie haben gewartet – weil nur das im Sinne unseres himmlischen Vaters zu sein scheint. Ihre Videos sind mit eindringlichen Warnungen vor den seelischen Schäden gespickt, die sorgloser Umgang mit der eigenen Sexualität anrichten kann. Die Botschaft ist klar: Nur wer wartet, kann auf Segen in seinem Leben hoffen. Vorehelicher Sex hingegen, vielleicht sogar noch mit wechselnden Partner:innen, ist sündhaft und nicht von Gott gewollt. Wer ihn betreibt, gibt Gottes Geist keinen Raum in seinem Leben. Diese Thesen sind in so vielerlei Hinsicht problematisch.
Die anderen Geschichten fehlen
Zum einen sind da die Geschichten, die auf solchen Kanälen nicht erzählt werden, die aber jede:r kennt, der sich lange genug in frommen Blasen aufgehalten hat. Die Geschichten von den Paaren nämlich, bei denen die erst in der Ehe ausgelebte Sexualität nie Glück und Erfüllung brachte. Ich kenne sie, die traurigen Erzählungen von Frauen und Männern, die viel zu früh „Ja“ zueinander gesagt haben und dann feststellen mussten, dass sie sich so viel mehr vom Leben und der Liebe erhofft hatten.
Es sind Geschichten von Ehen, die scheiterten, verbunden mit all der Scham und all dem Ballast, die damit gerade in frommen Kreisen verbunden sind. Und auch die Ehen, die gehalten haben, haben nicht immer vom Verzicht auf Sex profitiert. „Jahrelang haben sie uns glauben gemacht, dass unser Verlangen nach einander Sünde sei“, sagte mir einmal eine Frau, „und dann sollte das auf einmal anders sein und die gleichen Gefühle in Ordnung? Wir haben Jahrzehnte gebraucht, um die Scham und das schlechte Gewissen abzulegen, die wir immer mit unserer eigenen Lust verbunden haben.“
„Sie wisse, dass sie keinen Tag ihres Lebens mehr ohne diesen Mann sein wolle“, sagt eine gerade erst 17-Jährige auf einem christlichen YouTube-Kanal und begründet, warum sie wenige Tage nach ihrem 18. Geburtstag heiraten wird. Ich kann mich nur mühsam davon abhalten, einen altklugen, miesepeterischen Kommentar zu hinterlassen. Denn immerhin dachte ich mit 17 auch, dass ich keinen einzigen Tag meines Lebens ohne den Freund sein wollte, mit dem ich damals zusammen war.
Mit 19 merkte ich, dass ich keinen einzigen Tag mehr mit diesem Menschen zusammen sein konnte. Und dazwischen hatten wir eine wunderschöne Zeit – und Sex! Daran war nichts falsch, nichts sündhaft, nichts unheilig. Wir liebten uns und wir gingen verantwortungsbewusst mit uns und unseren Gefühlen um und am Ende trugen wir diese Verantwortung, indem wir einander weiterziehen ließen und uns nicht mehr im Weg zu neuem Glück standen. Denn so ist das, wenn man 17, 18 oder 19 ist.
So war das bei mir auch noch, als ich 22 war und mich in meinen bis Dato guten (und zehn Jahre älteren) Freund verliebte. Ich hätte ihn vom Fleck weg geheiratet, doch zum Glück war er schlauer. Denn nach einigen Jahren merkten wir, dass wir doch eher Freunde waren als ein Liebespaar, beendeten unsere Beziehung und gingen wieder dahin zurück, wo wir angefangen hatten. Dazwischen hatten wir selbstverständlich Sex.
Neo-konservative Verbote statt Verantwortung
Ich hatte das Glück, in dieser Hinsicht relativ frei aufzuwachsen. Sex vor der Ehe war in meiner Familie kein Reizthema. Aber meine Eltern sprachen mit mir über Verantwortung. Verantwortung für mich und meinen Körper, aber auch für die Seele des anderen Menschen, mit dem ich mich auf eine intime Beziehung einließ. Und ja, auch ich habe in meinem Leben Fehler in dieser Hinsicht gemacht. Neben diesen beiden langen, von Liebe und Respekt getragenen Beziehungen, gab es andere. Die, die nicht lange dauerten. Die, in denen ich verletzt wurde – oder andere verletzte.
Auch kleinere und größere Narben haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute in meinen Beziehungen und meiner Sexualität bin. Ich habe viel gelernt über verantwortungsvolle Sexualität, und zwar, weil ich sie leben durfte – und dabei Fehler machen. Ich durfte wachsen und entdecken, wer ich bin und was ich möchte.
Die neo-konservative Sicht auf Lust und Verlangen hingegen, die in solchen Kanälen vermittelt wird, hat mit verantwortungsvoller Sexualität nichts zu tun, denn die Sender:innen solcher Botschaften übernehmen keine Verantwortung. Sie suggerieren vielmehr, dass Lust etwas ist, was sich nach der Eheschließung automatisch einstellt und positiv empfunden werden kann, nachdem sie in all den Jahren Tabu war, in denen die eigene Sexualität geprägt wird.
Denn nicht nur vorehelicher Sex gilt in diesen Kreisen als sündhaft und unbedingt vermeidenswert – Selbstbefriedigung ist die Eintrittskarte zur Hölle. Ein Verbot, das wir normalerweise eher in verstörenden schwarz-weiß Filmen über sittenstrengen Protestantismus finden, erlebt plötzlich eine Renaissance bei Hoodie-Träger:innen in stylischen Wohnzimmern. Schlimmer noch, es wird Jugendlichen am Beginn ihrer eigenen sexuellen Entwicklung auferlegt.
Lauter Widerspruch gegen toxische Strukturen!
Dass sich zu diesem Potpourri noch eine ausgeprägte Abneigung gegen homosexuelle Menschen gesellt, die nicht mal mehr durch nette Worte verklausuliert wird, wundert wahrscheinlich an dieser Stelle keine:n mehr. Da baut eine junge Generation genau an den Orten neue Mauern auf, an denen man in den letzten Jahren hoffnungsvoll ein langsames, wohlwollendes Rantasten beobachten konnte.
Nun könnte man diese ganze Szene als freikirchliches Problem abtun und sich als eher landeskirchlich und progressiv geprägte Leser:in fragen, was das alles mit uns zu tun hat. Ich finde, jede Menge! Es geht alle an, die sich als Christ:innen bezeichnen.
Zum einen zählen auch junge Menschen aus den Landeskirchen zu den Abonennt:innen solcher Seiten. Aber das ist nicht das einzige Problem. Diese Influencer:innen sorgen dafür, dass Gemeinden für viele junge Menschen keine sicheren Orte sind. Sie manifestieren toxische Strukturen, die es eigentlich aufzubrechen gilt und grenzen diejenigen aus und halten sie von Jesus fern, die ihre fehlgeleitete Sexualmoral nicht leben können oder wollen.
Mir persönlich tut es weh, dass sich junge Menschen aufgrund von solchen Erfahrungen von Gott und Kirche zurückziehen, denn sie verlieren dadurch etwas, was in ihrem Leben auch hätte Kraftquelle und Resilienzfaktor werden können. Ich wünsche mir, dass wir um diese jungen Menschen ein Sicherheitsnetz spannen, in das sie fallen dürfen und ich möchte, dass auch andere, die sich gefühlt erst einmal in diese heile Welt der Reinheit einpassen können, alternative Positionen kennenlernen dürfen, die sich genauso auf Gott und seine Liebe gründen.
Vielleicht wäre ein erster Schritt, dass wir alle anfangen, diesen radikalen christlichen Influencer:innen sachlich, aber laut zu widersprechen, statt sie einfach nur zu ignorieren.
Mehr:
- „Eine bessere Bühne als die Familienpolitik könnten sich Rechte gar nicht wünschen“, erklärt Daniela Albert in ihrer Kolumne von Oktober 2020. Konservative Überzeugungen von Familie und Partnerschaft wurden von den Liberalen zu lange ignoriert. Deshalb finden Menschen Anschluss an rechte Ideologien: „Überlasst die Familie nicht den Rechten!“
- Gewalt in der Erziehung ist unter Christen leider immer noch ein Thema. Ist es ok, Kinder zu schlagen, wenn man es „in Liebe“ tut? Daniela Albert sagt als Erziehungswissenschaftlerin, Mutter und Christin: „Nein!“, denn Kinder sind „Un-schlagbar!“.
Kolumne: Gotteskind und Satansbraten
Daniela Albert ist Erziehungswissenschafterin, Eltern- und Familienberaterin, Autorin und Referentin. Ihre Leidenschaft ist überall da, wo Familien Gott begegnen können: Zum Beispiel im Eltern-Kind-Team ihrer Gemeinde. In ihrer monatlichen Kolumne „Gotteskind und Satansbraten“ schreibt sie für Die Eule über Familie, Kinder und ihren Ort in der Kirche.
Das macht sie außerdem noch auf ihrem Blog. Daniela Albert ist bindungsorientiert mit Gott unterwegs auf Twitter, Instagram und in ihrem Podcast. Wenn sie nicht gerade ihre Kanäle füllt, füllt sie ziemlich gern die Mägen von drei Kindern, drei Katern und dem Mann, der all die Gotteskinder und Satansbraten mit ihr managed.