Kolumne Gotteskind und Satansbraten

Keine autoritäre Rolle rückwärts, bitte!

Krieg in der Ukraine – und in unseren Kinderzimmern? Daniela Albert warnt vor einem Backlash in der Erziehung aus falsch verstandener Wehrhaftigkeit.

Wladimir Putin führt seit nunmehr drei Wochen Krieg in der Ukraine. Täglich werden wir über die Medien Zeug:innen von brutalsten Kriegsverbrechen gegen unschuldige Zivilisten. Nebenbei sollen uns immer neue Drohungen und verbale Eskalationen des Despoten im Kreml und seiner Gefolgsleute Angst machen. Und natürlich funktioniert das bei vielen. Die Folgen davon sehen wir unter anderem in den Supermarktregalen.

Und wir sehen sie an vielen anderen Stellen. Insbesondere die geplante Aufrüstung unserer Bundeswehr stellt, um es mit Kanzler Olaf Scholz zu sagen, eine „Zeitenwende“ dar. Es scheint, als wären wir aus einem Traum aufgewacht – einem schönen im Übrigen. Einen, in dem es nicht nötig war, das eigene Land notfalls mit Waffengewalt zu verteidigen, weil es niemanden gab, der gleichzeitig stark und böse genug war, um uns ernstlich zu schaden.

Die neue Realität gleicht hingegen eher einer blutigen Folge von „Game of Thrones“. Man schaut angewidert und entsetzt zu und manchmal auch weg, weil es nicht auszuhalten ist – und immer, wenn man glaubt, dass jemand nicht noch böser werden könne, überzeugt man uns vom Gegenteil. Kein menschlicher Abgrund mehr zu tief, der Kaltblütigkeit scheinen keine Grenzen gesetzt.

Eine Zeit für neue Haustyrannen?

Manch eine:r fühlt sich angesichts solcher menschlicher Verrohung in dem bestätigt, was er:sie schon immer dachte: Das Böse im Menschen ist von Anfang an da und es ist mächtig. Der Mensch ist verdorben von Jugend an! Unter den richtigen Bedingungen, so die Annahme, ist jede:r zu Grausamkeit und Massenmord fähig. Nur maximale Abschreckung kann das Böse auf Abstand halten. So weit so gut – ich denke tatsächlich, dass Despoten mit Armeen und Atomkoffern nur durch militärische Stärke zu beeindrucken sind. Ich hänge nicht der These an, dass man durch Reden und Entgegenkommen auf dieser Eskalationsstufe noch weiterkommt.

Allerdings fürchte ich, dass die Theorie des inhärent Bösen im Menschen durch diese traumatischen Ereignisse Aufwind erhalten wird und dass sie sich in weitere Bereiche unseres Lebens ausweiten könnte. Besonders einschneidend könnte sich das auf das Heranwachsen unserer Kinder auswirken.

Uns droht eine autoritäre Rolle rückwärts. Dass das nicht weit hergeholt ist, zeigt der Kinderarzt Herbert Renz-Polster. Er hat sich Erziehungsstile und Vorstellungen von der kindlichen Natur im Wandel der letzten Jahrhunderte angesehen. Er kam zu dem Schluss, dass es immer dann für Kinder eng wurde, wenn Gesellschaften unter Druck gerieten. Ich selbst habe diesen Sachverhalt ebenfalls in meinem Buch nachgezeichnet: Lebten Gesellschaften in Wohlstand und Frieden, wirkte sich das auf die Art und Weise aus, wie sie ihre Kinder betrachteten. Fühlten sie sich bedroht und von Feinden umzingelt, sahen sie das Böse überall, oft vor allen Dingen in kleinen Menschen.

Kinder, die ihren eigenen Willen bezeugten, waren für die nationalsozialistische Kinderärztin Johanna Harrer unerbittliche Haustyrannen. Dieses Bild findet sich 1:1 auch in älteren Erziehungsschriften, besonders zugespitzt auch in der Zeit um den 1. Weltkrieg. Davor und danach findet man immer wieder auch Zeiten, in denen hellere Kinderbilder Aufwind bekamen, nur, um irgendwann wieder autoritären Strukturen zum Opfer zu fallen.

Empathie statt „harte Jungs und Mädels“

Die Nachwirkungen dieser schrecklichen Fehlsicht auf kleine Menschen spüren wir bis heute überall. Noch immer sind wir viel zu schnell dabei, Kindern böse Absichten zu unterstellen und zu glauben, man müsse schwieriges Verhalten mit größtmöglicher Konsequenz (das neue Codewort für Härte und Strenge) schnell abstellen, bevor man sich einen kleinen Tyrannen heranzieht. Auch wenn das Gegenteil vielfach empirisch belegt ist, verdienen sich Menschen auch heute noch goldene Nasen mit ihren Mahnungen vor verzogenen Kindern, die in der Welt von Morgen nicht bestehen könnten.

Im Zuge des Krieges in der Ukraine ist anzunehmen, dass solche Thesen wieder auf sehr fruchtbaren Boden fallen. Man müsse viel früher gegen despotische Anfänge vorgehen, konnte ich die Tage bereits lesen – am besten sollten wir bei den Mobber:innen auf dem Schulhof anfangen. Versteht mich nicht falsch, auch ich bin der Meinung, dass Mobbing immer und unter allen Umständen unterbunden werden muss. Ich habe nur die Befürchtung, dass sich viele Erwachsene zukünftig nicht so sehr auf nach unten tretende Vorgesetzte konzentrieren werden, sondern auf Grundschulkinder, die andere an den Haaren gezogen haben. Es ist nämlich viel leichter einer Siebenjährigen Nachsitzen zu erteilen als einen Unternehmensvorstand in seine Schranken zu weisen.

Dazu kommt, dass einigen die Art, wie Kinder heute aufwachsen – nämlich immer öfter liebevoll und ohne Gewalt – sowieso ein Dorn im Auge ist. Von einer verweichlichten Generation ist diese Tage schon ab und zu geschrieben worden und davon, dass man sie durch die Wiederaufnahme des Wehrdienstes auf Linie bringen müsse. Dabei wird allerdings übersehen, dass das, was einige verweichlicht nennen, in Wirklichkeit empathisch ist – und eine Grundvoraussetzung dafür, dass wir Menschen eben mehrheitlich nicht zu menschenverachtenden Despoten werden.

Die Aufgabe in dieser Lage

Schauen wir doch mal realistisch auf die Lage: Nur, weil wir festgestellt haben, dass unser Land wieder in der Lage versetzt werden muss, sich gegen Bedrohungen von außen zu verteidigen, bedeutet das nicht, dass wir nun alle „harte Jungs und Mädels“ werden müssen. Das ist überhaupt nicht die Aufgabe von den allermeisten von uns. Unsere Aufgabe bleibt es auch weiterhin, ein kleines unbedeutendes Alltagsleben zu gestalten und all die belanglosen Kleinigkeiten zu tun, die in der Summe die Macht haben, einen sehr begrenzten Kreis um uns herum etwas heller und schöner zu machen. Solche Menschen hat es immer gebraucht.

Die Welt braucht gerade jetzt die, die morgens müde aufstehen und dann trotzdem ihren Job machen; die, die ihre Kinder lieben und das Gute in ihnen sehen; die, die ein Essen kochen und Kleider für Geflüchtete aussortieren; die, die Gebete sprechen und ihre Lieben umarmen. Wir brauchen die, die abends beim „heute journal“ in Tränen ausbrechen und die, die einfach nur Frieden wollen. Und ja – wir brauchen auch die, die deutlich klarstellen können, dass es eine ganz schlechte Idee wäre, sich mit uns anzulegen.

Wenn wir jetzt aber anfangen, diese Wehrhaftigkeit mit einer autoritären Rolle rückwärts zu begleiten, hat Putin ganz unabhängig von der Lage in der Ukraine einen Sieg eingefahren – und den gönne ich ihm nicht!