Kunstwerk in Netiv HaAsara, Israel, Foto: Cole Keister (Unsplash)

Keine einfachen Antworten im Nahost-Konflikt

In den Debatten über den Israel-Palästina-Konflikt müssen wir Dialogräume eröffnen, Zwischentöne finden und den Schmerz der Anderen wahrnehmen lernen. Ein Gastbeitrag.

Der verheerende Terroranschlag der Hamas und die Gewalteskalation im Nahen Osten gehen kaum spurlos an einem vorüber. Eine große Gereiztheit ist spürbar. Die aktuelle Situation überfordert jede*n. Wir alle kennen betroffene Personen, Freundinnen und Freunde oder Menschen, die uns nahestehen. Das gilt für jüdische Israelis und Juden auf der ganzen Welt wie für Palästinenser im Gaza-Streifen und der West-Bank und die palästinensische Diaspora, die von der muslimischen Community weltweit Unterstützung erfährt. Und nicht zu vergessen: Die Christ*innen aus den verschiedenen Kirchenfamilien, die bei uns in Deutschland leben und die ebenfalls um Opfer trauern und sich sorgen um ihre Familienangehörigen und Freund*innen im Gaza-Streifen und in Israel-Palästina.

Andreas Goetze

Dr. Andreas Goetze ist Pfarrer und seit November 2022 Referent für den interreligiösen Dialog, Schwerpunkt Islam, im Zentrum Ökumene der EKHN und EKKW. Zuvor war er 11 Jahre landeskirchlicher Pfarrer für den interreligiösen Dialog in Berlin und Brandenburg und Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität in Berlin (Institut Kirche und Judentum/ Religionswissenschaften). (Foto: Dagmar Brunk)

Verwundungen über Jahrzehnte wirken nach: Das Trauma der Vernichtung und Staatenlosigkeit, das jüdische Menschen erlebt haben, verbunden mit dem antisemitischen Narrativ der jüdischen Weltverschwörung und den tagtäglichen Erfahrungen, öffentlich angegangen zu werden, wenn man sich erkennbar als Jude zeigt. Das Trauma der Vertreibung, des Verlustes der eigenen Heimat, das palästinensische Menschen – ob Christen oder Muslime – erlebt haben, verbunden mit dem Generalverdacht, alle Palästinenser*innen seien Terroristen und der damit verbundenen Erfahrungen, ausgegrenzt und nicht angehört zu werden. Daniel Bax hat es in einem Beitrag für die taz treffend zusammengefasst:

„Juden und Jüdinnen weltweit fühlen sich durch Bilder von ganzen Familien mit Kindern, die von den marodierenden Mörderbanden der Hamas ermordet wurden, an Pogrome und an den Völkermord durch die Deutschen erinnert, dem rund sechs Millionen Juden zum Opfer fielen. Palästinenser fühlen sich angesichts der Bombardierung und der Aufrufe der israelischen Armee, ihre Heimat zu verlassen, an die Schrecken der Nakba erinnert, die gewaltsame Vertreibung und Flucht von rund 700.000 Palästinenser*innen im Zuge der israelischen Staatsgründung 1947. Gegen Gefühle kann man schlecht argumentieren.“

Re-Traumatisierung und Feindbilder

Was nicht-jüdische Menschen nicht ermessen können ist, was diese Terror-Attacke für Jüdinnen und Juden weltweit bedeutet: eine tiefe Verwundung der seelischen Verfassung, ein unvorstellbarer Albtraum. Mit der Gründung des Staates Israel war ein großes Versprechen verbunden: „Hier seid ihr sicher, hier könnt ihr angstfrei jüdisch sein“. Diese Sehnsucht nach Sicherheit wurde mit dem Terrorangriff der Hamas durch einen angeblich unüberwindbaren Sicherheitszaum tief ins Mark getroffen und radikal in Frage gestellt.

Gleichzeitig sehnen sich Palästinenser*innen seit Jahrzehnten nach Freiheit und Selbstbestimmung, nach einem eigenen Staat, sehen sich vergessen durch die Weltgemeinschaft, die viele wohlfeile Worte gemacht hat, ohne dass sich an der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik etwas geändert hat.

Dass Trauer sich mit Vorwürfen verbinden kann, auch mit einseitigen und ungerechten Vorwürfen aus dem eigenen Schmerz heraus, ist sehr verständlich. Das ist einfach menschlich. Wenn Menschen re-traumatisiert sind, sind sie zudem wenig empfänglich für politische Analysen. Doch darf es nicht maßlos werden. Vor allem, weil es leicht möglich ist, die verständlichen Emotionen zu instrumentalisieren, sie systematisch zu schüren und sie zur Verhärtung bestehender Feindbilder zu nutzen. Was in einer solchen Situation gar nicht hilft: diesen Einseitigkeiten Recht zu geben. Die spürbare Zunahme von Schwarz-Weiß-Denken verschärft genau das Problem: Will man Menschen verbieten, ihren Schmerz, ihre Trauer, ihr Gefühl der Verlassenheit öffentlich zum Ausdruck zu bringen?

Offene Fragen

Im deutschen Kontext wirken sich diese Polarisierungen unheilvoll auf das Zusammenleben aus. Pro-Israel gegen Pro-Palästina. Doch es hilft nicht, sich auf politische Richtigkeiten zurückzuziehen. Partizipation und Teilhabe an abstrakte Bedingungen zu knüpfen, ohne mit den betroffenen Menschen zu sprechen und ihnen zuzuhören, wird nichts bewirken außer verstärkter Aus- und Abgrenzung, Zunahme von Wut, Enttäuschung und entsprechend mehr Rückzug in das eigene Milieu. Teilhabe gelingt nur, wenn wir einander zuhören und unsere eigenen Empfindungen, Anschauungen, Einsichten teilen – und dies in der Demokratie in einer Streitkultur aushandeln und dabei gemeinsam (!) die „roten Linien“ bestimmen.

„Bei uns hat Antisemitismus keinen Platz“, ja, sicher: Es braucht klare Worte gegen einen israelbezogenem Antisemitismus, der seinen Ausdruck findet in der Gleichsetzung von Judentum mit Zionismus und dem Staat Israel sowie in pauschalen Verurteilungen Israels, die klassische antisemitische Stereotype bedienen. Aber wo liegt der Unterschied zwischen antisemitischen Äußerungen und völkerrechtsbasierter Kritik an der Politik der israelischen Regierung? „Bekenne dich zum Existenzrecht Israels“, ja, klar, aber zu welchem Israel? Das in den Grenzen von 1967 (völkerrechtlich gedeckt) oder das Groß-Israel mit Golan und West-Bank inklusive aller illegalen Siedlungen und Landenteignungen?

Keine eindeutigen Antworten

Ohne Dialog gibt es keine gesellschaftliche Verständigung. Dialog wird auch nicht zu Konsens führen. Aber wer Schwarz-Weiß-Muster aufbaut, zeigt, dass er keine Kenntnis von der vielschichtigen und komplexen Situation hat. Wer bereit ist, auch den Schmerz des Anderen wahrzunehmen, gilt schnell als illoyal, intern als „Nest-Beschmutzer“, wird denunziert und ausgegrenzt. Daher ist ein differenzierter Blickwinkel nötig.

Wir brauchen eine integrative Gedenkkultur. Raus aus den althergebrachten Denk- und Erinnerungsmustern. Es geht um Partizipation, um Möglichkeiten der Teilhabe gerade durch die Anerkennung der mitgeteilten eigenen Erinnerungen. Das schließt ein, Einseitigkeiten aushalten zu lernen. Dafür müssen wir erst einmal geschützte Dialogräume eröffnen und gestalten und uns ohne Aggression und Rechthaberei neu ins Zuhören einüben.

Ich bin durch über 30 Jahre Reisen und Leben im Nahen und Mittleren Osten innerlich vielfältig verbunden mit den Menschen in der Region, mit Juden, Christen und Muslimen, mit Israelis und Palästinensern. Ich verstehe, dass man gerne eindeutige Antworten möchte, so dass sich das Gefühl einstellen möge, auf der „richtigen Seite“ zu stehen. Gerade auch bei uns in Deutschland. Ich möchte mich aber einüben, den Schmerz, die Wut, die Trauer des Anderen wahrzunehmen, an mich heranzulassen im „Dazwischen“. Ich spüre: Sich zu erlauben, mitzuleiden, das ist keine komfortable Position. Zu schnell gibt es schrille Töne, die gesetzt werden, um zu übertönen, auszugrenzen, Empathie und Verbundenheit in Frage zu stellen.

Empathie ist ein intellektueller Akt, keine Gefühlsäußerung. Sie ist eine Haltung, die in dem / der Anderen ein menschliches Wesen sieht und sich weigert, die Welt einfach in Gut und Böse einzuteilen. Wir müssen lernen, die Erzählungen des*der Anderen auszuhalten, ohne sie sofort zu verunglimpfen oder persönlich zu werden. Wenn der Dialog endet, gefährdet das den gesellschaftlichen Zusammenhalt.


Alle Eule-Artikel zum Themenbereich Nahost-Konflikt.


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