Keine Hoden, keine Ehe?

Darf eine Ehe geschlossen werden, aus der keine Kinder entstehen können? In der zweiten Ausgabe von „mind_the_gap“ von Flora Hochschild geht es um einen konfusen Gelehrtenstreit.

Im Jahr 1666 stellte sich ein Fremder dem Leipziger Konsistorium vor. Sein Name sei Johannes Gericke, er sei Arzt und habe einen schwierigen Fall, bei dem er Hilfe benötige: Ein schwedischer Adeliger namens Titius wolle eine junge Frau aus Schwedisch-Pommern heiraten. Die Region ist heute Teil von Mecklenburg-Vorpommern. Die Braut und ihre Familie seien prinzipiell bereit, aber es gäbe ein kleines Malheur, das die Einholung einer theologischen Expertise erfordere.

Im Krieg habe ihm, Titius, ein Geschoss einen Teil des Hodens weggeschossen. Er sei aufgrund dieses Unfalls leider unfruchtbar, weil ihm die Hoden im Zuge der Operation entfernt wurden, doch könne er noch Verkehr mit der zukünftigen Gattin haben. Das Konsistorium möge darum entscheiden, ob eine solche Ehe überhaupt legitim sein könne. Es müsse sich keine Gedanken um mögliche Folgen machen, da ja das letzte Wort bei der schwedischen Krone liegen würde.

Jedoch gab es ein Problem: Der Antragsteller hieß gar nicht Johannes Gericke. „Titius“ war auch kein Schwede. Seine Braut stammte auch gar nicht aus Pommern, sondern war eine sächsische Hofdame namens Dorothea Lichtwehr. Erlogen war auch die Ursache des „Malheurs“: „Titius“ richtiger Name lautete Bartolomeo de Sorlisi, er stammte aus Süditalien und war Sängerkastrat am kursächsischen Hof in Dresden.

Die Germanistin Tina Hartmann, die zu diesem Fall und der anschließenden theologischen Kontroverse geforscht hat, hat diese fiktive Autobiographie als eine „radikale Versuchsanordnung“ bezeichnet, die „den Blick für die menschliche und zunehmend für die weibliche Sexualität [öffnete]“. Die Frage, ob ein Kastrat überhaupt eine Frau heiraten dürfe, beschäftigte nicht weniger als 28 Gutachten, die auf dieser „Versuchsanordnung“ beruhten.

Diese Texte sind der Nachwelt erhalten geblieben. Gesammelt und herausgegeben wurden die Gutachten unter dem Pseudonym Hieronymus Delphinus in Halle. Diese Sammlung, mit dem Titel „Conjugio Eunuchum: Die Capaunen-Heyrath“, wurde über das 18. Jahrhundert hinweg immer wieder aufgelegt und dürfte wohl die umfangreichste Dokumentation einer spezifisch frühneuzeitlichen theologischen Auseinandersetzung mit queeren Körpern sein.

Vom Eheversprechen zur Autofiktion

Die Musikwissenschaftlerin Mary  E. Frandsen hat die Vorgeschichte detailliert aufgearbeitet.  Bartolomeo de Sorlisi gelangte 1651 als Sänger an den kursächsischen Hof in Dresden. Dort machte er Bekanntschaft mit dem Anwalt Moritz Junghanns. Sorlisi lernte Junghanns‘ Tochter kennen und hielt um ihre Hand an. 1664 erreichten Sorlisi und seine Verlobte die Unterstützung der Eltern. Eine Vorbedingung für die Heirat war jedoch das Einverständnis eines Geistlichen.

Auch wenn nicht eindeutig klar ist, was im Detail als nächstes geschah, wurde Sorlisi vom kursächsischen Hofprediger Jakob Weller wohl dazu ermutigt, eine Eingabe an das Konsistorium in Leipzig zu schreiben. Als Verwaltungs- und Aufsichtsgremium der Pfarrerschaft im Kurfürstentum Sachsen verfügte es über eine gewisse Autorität in derartigen Fragen.

Am Anfang des Konvoluts an Gutachten und Eingaben steht die eingangs erwähnte Anfrage des vorgeblichen Schweden „Titius“. Nach einer kurzen Beschreibung des angeblichen Unfalls folgt eine kurze Argumentation, warum der Antrag positiv beschieden werden sollte. Diese Argumentation wurde nicht von Sorlisi alleine geschrieben und konzipiert, eine Mitautorschaft Jakob Wellers scheint sehr wahrscheinlich.

Körper vs. Konsistorium

Diese Anfrage ist durchaus bemerkenswert: Abgesehen von der Autofiktion handelt es sich um die einzige Beschreibung, die ein Kastrat über seine eigene Kastration selbst geschrieben hat. Auch wenn die Beschreibung denkbar kurz ausfällt: „der andere [Hoden] dermaßen gequetschet, daß er hernach bey der Cur vollends drauf gangen/ und heraus gefanget werden müssen […]“.

Sorlisis Argumentation basiert im Wesentlichen auf vier Punkten: Erstens, trotz der Verwundung sei er ein vollständiger Mann mit männlichen Bedürfnissen und der prinzipiellen Befähigung, seine Frau sexuell zu befriedigen. Zweitens, der Zweck der Ehe sei nicht alleine die Fortpflanzung, wie der Fall Davids zeige. Dieser sei nämlich in 1. Könige, Kapitel 1 eine Ehe eingegangen, die der Versorgung und nicht der Fortpflanzung diente. Eine solche Versorgungsehe könne auch „Titius“ eingehen. Drittens würden scholastische Dekrete durchaus Ehen zwischen nicht fruchtbaren Partnern erlauben, allerdings sei der Rückzug aus dieser Ehe aufgrund der Einwilligung nicht mehr möglich. Ehen könnten auch geschwisterhaft geführt werden, auf gegenseitiger Pflege und nicht auf Sexualität basieren.

Weiter gestärkt wird diese Argumentation durch den Einbezug des Wittenberger Theologen Johann Gerhard. Zwar hatte dieser die Ehefähigkeit von Eunuchen (zu denen Kastraten in der Frühen Neuzeit gezählt wurden) abgelehnt, aber eine argumentative Hintertür offengelassen. Eine Ehe, so der im Text zitierte Kommentar sei zwar möglich, aber diese Erlaubnis sei möglichst selten zu erteilen und Frauen sollten vor derartigen Fällen gewarnt werden. Genau diese Ausnahmesituation beanspruchte Sorlisi für sich: Eine Heirat von Eunuchen sei nach lutherischen Maßstäben keineswegs prinzipiell verboten und die angehende Gattin ja über das Modell einer pflegenden, sexfreien Ehe informiert. Nach damaligem Verständnis benötigte ein Mann zur Befriedigung einer Frau Spermien.

Sorlisis Eingabe bewegt sich damit einerseits zwischen dem Versuch, gesellschaftlichen Erwartungen an Geschlecht und Sexualität so weit wie möglich zu entsprechen, andererseits aber auch seine eigene queere Identität zu behaupten. Damit erinnert dieser Text an die im Rahmen des Transsexuellengesetzes und anderen medizinischen Schritten eingeforderten Lebensläufe von trans Menschen, die ebenfalls entlang geschlechtsnormativer Linien formuliert werden müssen.

Der Beginn eines Gelehrtenstreits

Im Oktober 1666 erfolgte die Antwort des Leipziger Konsistoriums. Die Theologen entschieden zugunsten von Sorlisi, dass auch zeugungsunfähige Männer heiraten dürfen. Damit hätte die Angelegenheit eigentlich beendet sein können, aber die zunehmende Bekanntheit des Falles stellte sich als Belastung heraus. Der neue Hofprediger Martin Geier leistete Widerstand und verlangte die Scheidung der Ehe. Nach einem längeren Hin und Her, das unter anderem die de facto Exkommunikation von Dorothea Sorlisi zur Folge hatte, bekräftigte Kurfürst Johann Georg II. die Entscheidung des Leipziger Konsistoriums. Die Ehe sollte Bestand haben. Hofprediger Geier gab seinen Widerstand jedoch nicht auf. Unterstützung bekam er durch Gutachten der theologischen Fakultäten in Straßburg und Gießen.

Der Vater Dorotheas, Moritz Junghanns, blieb jedoch hartnäckig. So wurden weitere Gutachten von den theologischen Fakultäten aus Jena, Königsberg und Greifswald angefordert. Zwei Fakultäten entschieden erneut zugunsten der Ehe, während Jena die Unzulässigkeit der Ehe betonte. Währenddessen übte Geier mit einem eigenen Gutachten weiter Druck auf den Kurfürsten aus. Das Leipziger Konsistorium schließlich widerrief sein Urteil, nachdem es realisiert hatte, dass „Titius“ in Wahrheit Sorlisi war.

An den von den theologischen Fakultäten eingereichten Gutachten sind zwei Dinge besonders auffällig. Zum einen markiert der Übergang von der Anfrage zu den Gutachten einen scharfen Wechsel in der Beurteilung von Dorothea Sorlisi. Ursächlich dafür ist eine „Obsession der geistlichen Gutachter für die patriarchale Verfügungsgewalt über den weiblichen Körper […].“ (Tina Hartmann). Trotz des „glücklichen“ Ausgangs unterlagen die Körper der Sorlisis der Paranoia und geschlechtlichen Erwartungen Unbeteiligter. Zweitens zeigen sowohl die Argumentationen als auch die Ergebnisse der Gutachten durchaus, wie breit selbst im vergleichsweise engen Milieu der universitären lutherischen Theologie über die Funktion von Ehe gestritten werden konnte.

Ende und Anfang

Martin Geiers Beharren auf einer Scheidung blieb schlussendlich erfolgslos: Bis zu seinem Tod 1672 lebte Sorlisi in Dresden. Die Witwe verließ nach dem Tod ihres Partners den Dresdner Hof und siedelte nach Italien über. Doch auch später beschäftigte das Thema jenseits intellektueller Fuchsjagden die Theologen. 1762 beantragte der 56-Jährige Kastratensänger Filippo Finnazzi eine Eheschließung in Hamburg, die ihm gewährt wurde. Eine nicht unerhebliche Rolle dürfte dabei gespielt haben, dass die beiden angehenden Eheleute schon etwas älter waren und die Verbindung daher leichter als Versorgungsehe akzeptabel schien.

War das ein Fortschritt? Vielleicht ist es ungerecht, den Fall der Sorlisis so zu messen. Vielmehr verdankt die Theologie des 18. Jahrhunderts dem Paar die Einsicht, wie eine vormoderne queere Theologie in der Praxis hätte funktionieren können.


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mind_the_gap – Vergessene Kapitel der Kirchengeschichte

Flora Hochschild stöbert für uns in den Untiefen der frühneuzeitlichen Kirchengeschichte und kramt aus dem Schatz der Historie erstaunliche Episoden hervor: In der Serie „mind_the_gap“ geht es um vergessene Kirchengeschichte(n), gottesfürchtige Abenteurer:innen und verborgene Wahrheiten. Im Frühjahr / Sommer 2024 schauen wir in der Eule mit „mind_the_gap“ dorthin, wo selten noch jemand hinschaut: In die bunte und verrückte Geschichte unserer Kirche(n). Wir freuen uns auf Feedback, Fragen und Hinweise auf dieser Schatzsuche in die Vergangenheit!

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