Kolumne Gotteskind und Satansbraten

Für eine Kirche ohne Türschwellen!

Kurz vor Weihnachten schaut Daniela Albert auf ihr Kirchenjahr zurück. Sie findet immer seltener den Weg hinter Kirchenmauern. Wie sich eine Kirche wandeln muss, die nicht aus Selbstzweck existiert:

Während der Pandemie hatten wir in unserem Ort eine schöne Tradition. Große Gottesdienste fanden einfach draußen statt. Mitten auf dem Kirchplatz, auf der Kreuzung neben der kleinen Brücke, die über den Bach führt, der Unterdorf und Oberdorf voneinander trennt. Dort wurden Krippenspiele aufgeführt, Himmelfahrt gefeiert, Lieder gesungen und Predigten gehalten, die sich allein schon aufgrund von Wetterbedingungen (mal war es zu heiß, mal zu kalt, mal zu nass, mal zu windig) und Akustik nur auf das Wesentliche beschränken konnten.

Man musste sich keine Gedanken darüber machen, wie man die Kinder in dieser Zeit bespaßt. Wenn es langweilig wurde, konnten sie einfach ans Bachufer gehen und Steine ins Wasser werfen. Die Eltern konnten sie gleichzeitig im Blick halten und dabei sein, wenn gesungen oder gebetet wurde.

Doch noch schöner fand ich, dass es immer wieder vorkam, dass Menschen einfach stehenblieben, obwohl sie gar nicht mit dem Ziel vorbeigekommen waren, einen Gottesdienst zu besuchen. Sie hielten mit ihren Rädern an, machten eine kleine Pause, lauschten dem Gesagten, trällerten vielleicht eine Strophe eines alten Liedes mit, das sie einmal gehört hatten oder murmelten leise die Zeilen des Gebetes, das die ganze Welt kennt. Irgendwann zogen sie weiter, setzten ihre Radtour fort, ihre Erledigungen, oder liefen nach Hause zu ihren Familien.

An Heiligabend haben wir diese Form der Gottesdienste noch eine Weile fortgesetzt. Auch als man sie schon wieder hätte in geschlossene Räume verlegen können. Denn es war einfach schön! Eine ganz andere Atmosphäre. Eine Offenheit, die Menschen anzieht. Letztes Jahr hat uns drohendes Hochwasser einen Strich durch die Rechnung gemacht – und dieses Jahr verzichtet man aufgrund der großen Wetterunsicherheiten und des Aufwandes, die eine doppelte Planung (draußen oder im Notfall dann halt doch drinnen) bedeuten würde, gleich ganz auf einen Open-Air-Gottesdienst.

Ich kann das gut nachvollziehen, ich habe selbst ein paar Weihnachtsgottesdienste mitorganisiert und weiß, dass es sich dabei um ein logistisches Großprojekt handelt. Auch die helfenden Hände vermehren sich leider nicht auf wundersame Weise. Es ist wie überall: Die Menschen wollen konsumieren, meckern, aber ungern ihren Beitrag leisten. Schon gar nicht an Weihnachten (und auch das verstehe ich sehr gut).

Die üblichen Wege verwaisen

Und trotzdem bin ich traurig. Denn ich habe ein Jahr hinter mir, das mich mehr denn je davon überzeugt hat, dass man Gott nicht hinter bestimmten Mauern findet und dass der Weg zu ihm nicht über Türschwellen führt. Vor einem Jahr habe ich hier an dieser Stelle darübergeschrieben, dass ich Jesus im Trash-TV getroffen habe. Ich habe die These aufgestellt, dass wir Gott an so viel mehr Orten treffen können als nur in der Kirche.

Wenn ich diese Kolumne heute noch einmal lese, erscheint sie mir wie der Aufmacher zu meinem ganz persönlichen Jahr 2024. Zwar hatte ich dieses Jahr kaum Zeit für Trash-TV oder überhaupt zum Serienstreamen (sehr zum Leidwesen unseres Sohnes haben wir nicht mal das Familienprojekt „Rings of Power“ beendet), aber die üblichen institutionalisierten Wege, Gott zu begegnen habe ich auch eher selten wahrgenommen.

Es ist über ein Jahr her, dass ich das letzte Mal bei meinem Hauskreis war (danke, dass ihr mich noch nicht rausgeworfen habt). Ich habe nur an einer von vier Mitmachkirchen mitgewirkt und bin höchst selten bei „meinem“ Gemeindebaby, dem Spielcafé, aufgetaucht. Auf ein paar Gottesdienstbesuche komme ich auch nur deshalb, weil ich gerade wieder ein Kind durch die Konfizeit begleite. Sonst hätte ich wohl so manchen Sonntagmorgen lieber im Bett oder beim ausgiebigen Frühstück verbracht.

Wenn du mich dieses Jahr fragen würdest, wo ich mich Gott am nächsten gefühlt habe, dann würde ich antworten: Auf der Autobahn, auf holprigen Landstraßen, im Verkehrschaos rund ums Kreuz Kassel-West, in Wohnzimmern von Menschen, die ich in diesem turbulenten Jahr kennenlernen und ein Stück durch ihren Alltag begleiten durfte. Mir ist in diesem Jahr mehr denn je klargeworden, dass Glaube für mich ein Tuwort ist – etwas, was so viel mehr in meinem Alltag lebendig wird als in eigens dafür geschaffenen Räumen.

Dabei bin ich doch genau diese extra geschaffenen Räume gewohnt! Ich habe sie theoretisch in meinem Alltag verankert. Sie sind Teil meiner Sozialisation. Für mich ist es nichts Abwegiges, sonntags einen Gottesdienst zu besuchen oder unter der Woche den einen oder anderen Nachmittag für Mitarbeit in der Gemeinde oder Glaubensgruppen zu reservieren. Dennoch reicht ein neuer Arbeitsalltag aus, um mich dort hinauszukatapultieren und meinen Fokus zu verschieben!

Können wir in Zeiten, in denen selbst fromme Menschen wie ich weniger und weniger über Türschwellen gehen, eigentlich noch hoffen, dass solche sie übertreten, die mit Religion noch gar nicht so viel anfangen können?

Reißt die Türschwellen ab!

Jedes Jahr an Heiligabend, wenn die Familien mit ihren kleinen Kindern in unsere extra für sie geplanten Gottesdienste kommen, hoffen wir das wieder. Wir stellen unsere Angebote vor, wir geben uns Mühe, besonders herzlich und einladend zu sein und stellen sicher, dass jedes Kind mindestens einmal eine unserer Handpuppen streicheln darf.

Doch nur ein verschwindend geringer Prozentsatz derer, die wir an diesem Abend begrüßt und unterhalten haben, kommt unterm Jahr wieder. Kaum jemand übertritt die Türschwelle ein weiteres Mal, ist neugierig genug, wie es mit dem Kind in der Krippe weitergeht.

Und auch das verstehe ich. Die meisten Familien, die ich kenne, haben einen durchgetakteten Alltag, wissen oft kaum noch, wo ihnen der Kopf steht und haben schlicht keine Kapazitäten für noch einen Termin. Und sonntags, das sei hier mal klar gesagt, möchten sie ausschlafen und spät frühstücken oder sich, wenn die Kinder noch im Frühaufstehalter sind, zumindest nicht ausgehfertig machen. Niemand von ihnen käme auch nur im Entferntesten auf die Idee, um 10 Uhr morgens in einem Gottesdienst zu sitzen. Doch das bedeutet nicht, dass sie für Gott verloren sind – sie sind es nur für die träge, sperrige, veränderungsresistente Institution Kirche.

Und deshalb wünsche ich mir eine Kirche, die Türschwellen abschafft. Nicht nur die wortwörtlichen, denn gerade für junge, kirchenferne Familien gibt es ja auch noch andere Schwellen: Eine fromme Sprache, die sie nicht sprechen. Eine Gemeinschaft, die von außen schon ziemlich geschlossen wirkt. Feste Abläufe, deren Sinn man nicht erkennen kann. Nicht zuletzt, gerade in Eltern-Kind-Gruppen: Mangelnde Diversität, in der sich weniger privilegierte Familien, Eltern mit Migrationsgeschichte, Alleinerziehende und queere Eltern oft nicht zugehörig fühlen, weil diese Gruppen wie Werbefilme für Margarine-Vorstadt-Idyll-Familien wirken.

Veraltete Strukturen, exklusive Familienbilder und exkludierende Wertvorstellungen, Termine zu Zeiten, die nichts mit der Lebensrealität der heutigen Elterngeneration zu tun haben, Veranstaltungen, die Geld kosten – und das ist sicher nicht alles.

Mein frommer Weihnachtswunsch

Was ich mir stattdessen wünsche? Kirchen, die zu kinderfreundlichen Kaffeehäusern, In- und Outdoorspielplätzen und Würstchenbuden werden. Pfarrer:innen, die Hüpfburgen beaufsichtigen und zwischendurch eins der alten Lieder singen oder gern auch mal eins von den neuen, modernen. Und die von Jesus in einem Maß erzählen, das Wetter, Akustik und von Social Media geschrottete Aufmerksamkeitspannen berücksichtigt.

Gelegentlich sehe ich, wenn ich noch auf Instagram vorbeischaue, dass es solche Versuche an vielen Orten in den Kirchen gibt. Jedenfalls gibt es dort Pfarrer:innen und Gemeinden, die von solchen besondere Aktionen erzählen und zu ihnen einladen. Die Kirchen-Bubble zeigt sich das Schöne an der Kirche gegenseitig. Ich bin mir nicht sicher, wie viel davon in den Stadtteilen und Dörfern eigentlich ankommt. Bei den Menschen, die sich aus guten Gründen – siehe oben – in unseren Kirchen bisher nicht wohlfühlen. Und ehrlich: Mir geht es gar nicht darum, dass die Aktionen instagrammabel sind. Schöne Bilder von attraktiven Menschen, dazu ein:e Pfarrer:in im Talar.

Ich wünsche mir Weihnachtsgottesdienste auf Kreuzungen, am Bachufer oder dem Supermarktparkplatz. Ich wäre eine begeisterte Anhängerin von Angeboten, deine Kirche während des Freibadbesuchs am Wochenende kennenzulernen oder auf dem Abenteuerspielplatz oder am Glühweinstand neben der Eisbahn. Ganz dringend hoffe ich auf eine flächendeckende ehrliche und kritische Betrachtung des Sinns und Unsinns eines Gottesdienstes am Sonntag um 10 Uhr. Und ich möchte, dass Kirchenmenschen sich bei jedem Angebot, dass sie machen, fragen, wie hoch die Schwelle ist, die Menschen übertreten müssen, um es annehmen zu können.

Ich wünsche mir eine Kirche, die sich daran erinnert, dass sie nicht zum Selbstzweck existiert, sondern, um eine Botschaft – eine ziemlich gute und wichtige übrigens – in die Welt zu tragen. Dann wird nämlich auch klar, dass man dafür in der Welt sein muss – und sich nicht hinter dicken Mauern verschanzen kann und hoffen, dass die Leute den Weg allein finden. Dafür reicht es leider nicht, eine Kachel mit allen Gottesdienstterminen bei Instagram zu posten.

Wenn wir unsere Türschwellen unterm Jahr nicht abschaffen, können wir uns den Aufwand an Weihnachten nämlich auch „sparen“. Er ist noch weniger nachhaltig als der Tannenbaum …


Alle Ausgaben der Familienkolumne „Gotteskind und Satansbraten“ von Daniela Albert in der Eule.


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Eule-Podcast Q & R mit Daniela Albert

Wie können Kinder und Erwachsene gut miteinander Gottesdienst feiern? Wieviel Medienzeit ist für Kinder angemessen? Was sind Tradwifes – und geraten Familien mit konservativen Werten wirklich ins Hintertreffen? Im „Eule-Podcast Q & R“ vom September 2024 beantwortet Eule-Kolumnistin Daniela Albert Fragen aus der Leser:innen- und Hörer:innenschaft.

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