Bin ich ein Material Girl?
Mit Madonna, Karl Marx und Kimberlé Crenshaw ziehe ich in Richtung Weihnachten. Warum kritischer Materialismus nötig ist:
Den Song „Material Girl“ von Madonna habe im Schulchor kennen- und auch ein bisschen hassen gelernt. Der Typ mit dem vielen Geld ist der Richtige: Eigentlich soll das alles ironisch sein. Den ironischen Unterton habe als Teenie nicht ganz gecheckt, sondern fand das auch vor meinem feministischen Awakening schon blöd.
In Zeiten von Trad Wives, weiterbestehendem Gender Pay Gap und mehr oder weniger Roll-back ist diese kapitalistischen Logiken folgende Inszenierung von folgsamer Weiblichkeit, selbst wenn sie ironisch gemeint ist, eher so, dass einer*m das Lachen im Halse stecken bleibt. Dabei könnte „I am a Material Girl“ auch das komplette Gegenteil heißen!
Denn Materialismus ist nicht nur das, was bei Loriots Weihnachten bei Hoppenstedts an unzähligen Geschenkverpackungen im Flur offensichtlich wird – eine Fixierung darauf, möglichst viel zu haben –, sondern kann auch anders verstanden werden: nämlich historisch! Historischer Materialismus ist die Zugangsweise zu Geschichte, die von Karl Marx und Friedrich Engels geprägt wurde, also Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen zu verstehen und insofern Besitz und Aushandlungsprozesse darüber als Perspektive auf historische Entwicklungen zu legen.
Für manche Lesenden trage ich mit solchen kurzen Einlassungen Eulen nach Athen, denn in der DDR wurde genau diese Perspektive auf Geschichte in Bildungskontexten vermittelt. Anderen ist es vielleicht gar nicht klar, dass diese Geschichtskonstruktion „dort“ als Leitbild galt. Auch das westdeutschen Selbstverständnis, das von einer nicht-ideologisch aufgeladenen Geschichtsschreibung ausgeht, ist danach kritisch zu befragen, welche Binnenlogiken es präg(t)en. „Große Männer machten große Geschichte“-Narrative sind ja auch ideologisch festgefahren, genauso wie der Satz „Früher war alles besser“ oder ein – zugegebenermaßen aktuell sicherlich wenig verbreiteter – Fortschrittsglaube, der von einer kontinuierlichen Besserung ausgeht.
Während sich das material girl bei Madonna kapitalistischen Logiken fügt und ihre Partner*inwahl „nur“ darauf basiert, ist das historisch-materialistische „Girl*“ an der Umkehrung der Besitzverhältnisse interessiert und strebt langfristig vielleicht sogar die Aufhebung des Privateigentums an. Und das passt doch sehr gut zu Advent und Weihnachten!
Mit der Bibel gegen Ungerechtigkeit?
Da wäre zunächst die Verkehrung der Verhältnisse, wie Maria sie besingt (Lukas 1,48). An Weihnachten schenkt G*tt sich in Jesus und durchkreuzt (!) Besitzlogiken, weil Kinder auch niemensch „gehören“. Und da sind die Geschenke der Weisen, die Jesu Königlichkeit in aller Ärmlichkeit seiner Geburtsumstände zeigen. Gängig und in so mancherlei bürgerlicher Bubble sicherlich auch immer wieder Thema: Die Ermahnung oder Ermunterung, nicht vor allem Materielles schenken zu schenken, sondern „Erlebnisse“. Das zeigt aber erst einmal, dass die sprechende Person selbst (finanziell!) die Wahl hat darüber zu entscheiden.
Das trifft – weiß G*tt – nicht auf alle Menschen zu. In Deutschland ist an Menschen in (Alters-)Armut, Geringverdiener*innen, Bürgergeldempfänger*innen, Alleinerziehende (von den insgesamt 1,7 Mio. sind etwa 80% Mütter) zu denken, die überhaupt schauen müssen, wie Geschenke und Weihnachtsessen aussehen können.
Die Frage danach, ob Besitzverhältnisse auf Grundlage des Evangeliums zu verändern sind, beantworteten vor 500 Jahren „die Bauern“ sehr eindeutig mit „Ja“. Aus der Verkündigung der Freiheit eines Christenmenschen der Reformation zogen sie den Schluss, dass auch die Leibeigenschaft zu einem Ende kommen uns. In anderen Regionen war nicht die Leibeigenschaft, wohl aber die drückende Macht der Kapitaleigentümer und Herren Auslöser des Aufstands von Bürger*innen und Bäuer*innen.
Unter den Aufständischen entwickelte sich ein Sinn für gemeinsames Handeln, gemeinschaftliches Leben und gemeinsames Eigentum. Ohne die Inspiration durch die Reformation, die biblische Vorstellungen und Erzählungen von Gerechtigkeit und wirtschaftlichem Ausgleich in deutscher Sprache unter den Menschen popularisierte, wäre das kaum möglich gewesen. Traut sich heute jemensch, eine radikale Veränderung der Besitzverhältnisse auf Grundlage der Bibel einzufordern?
500 Jahre Bauernkrieg
Vor 500 Jahren erhoben sich die Bauern gegen ihre weltlichen und geistlichen Herren. An den Bauernkrieg von 1524/1525 und das Wirken von Thomas Müntzer und Martin Luther im Ringen um die Reformation erinnern zahlreiche Akteur:innen und Medien. Was bedeutet die komplizierte Wirkungsgeschichte uns heute? Darüber haben wir in der Eule in einer Reihe von spannenden Beiträgen nachgedacht.
Wider die Individualisierung
Wenn wir heute in unseren Kirchen über Besitz und Eigentum nachdenken, dann, so meine ich, häufig zu fixiert auf den individuellen Menschen. Das System Kapitalismus gerät aus dem Fokus, weil wir über konkrete Notlagen oder auch den absurden Reichtum von Individuen sprechen oder den Fokus auf gelegentlich gelingendes oder sogar wegweisendes Handeln legen, etwa den Fairen Handel oder den persönlichen Verzicht. Sicherlich helfen „viele kleine Leute an vielen kleinen Orten“ wirklich, „das Gesicht der Welt zu verändern“. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ohne einen kompletten Systemwandel wäre gutes Handeln irgendwie komplett egal: Auch im Kapitalismus können wir besser oder schlechter handeln.
Aber das Verbünden gegen das System und die Logiken hinter ihm, darf dabei nicht außer Acht geraten. Ein gutes Beispiel für eine Individualisierung eines gesellschaftlich-politischen Problems ist der sogenannte CO2-Fußabdruck, den British Petrol (BP) mit ins Leben gerufen hat: Nicht die fossile Industrie, nicht das klimaschädliche Wirtschaftssystem, sondern das Handeln jeder*s Einzelnen wird mit dem Fußabdruck ins Zentrum gestellt. Sicherlich bringt es etwas, auf Flugreisen zu verzichten oder keine Verbrenner mehr zu fahren.
Am Ende ist der Fußabdruck aber ein Instrument der Teile-und-Herrsche-Taktik der Konzerne. Marx hätte gesagt: der Kapitalisten. Der „ökologische Fußabdruck“ darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass zu dem individuellen reduzierten Verbrauch Systemänderungen hinzukommen müssen.
Bin ich ein Material Girl?
Was hat all das mit intersektionalem Feminismus zu tun, der doch im Zentrum der „Sektion F“-Kolumne steht? Wenn wir zu den Anfängen des intersektionalen Feminismus bei Kimberlé Crenshaw zurückdenken – also zu race, class und gender als Faktoren von Diskriminierung und Unterdrückung – erkennen wir, dass mit „Klasse“ die Frage nach Besitz- und Arbeitsverhältnissen von Anfang an in den Zusammenhang mit Rassifizierung und Geschlecht gestellt war.
Crenshaws Definition von Intersektionalität war keine aus der Luft gegriffene Theorie, sondern aus der Beobachtung von arbeits(!)rechtlichen Prozessen gewonnen, die von Schwarzen Arbeiterinnen gegen ihren vormaligen Arbeitgeber geführt wurden. Ihnen war von General Motors (GM) gekündigt worden, während Schwarze Männer und weiße Frauen jedoch weiterbeschäftigt blieben. Im Framework konventioneller Antidiskriminierungsperspektiven konnte GM sich vor Gericht erfolgreich verteidigen.
Dass es sich um Arbeiterinnen (!!!) handelte, die sich gegen ihren vormaligen Arbeitgeber aufgrund der Überkreuzung von rassistischer und sexistischer Diskriminierung zur Wehr setzten, kann gar nicht überbetont werden. Dabei ist und bleibt wichtig, dass im intersektionalen Überlegen und Handeln „Klasse“ nicht auf „Milieu“ oder „Schicht“ verengt und entschärft werden darf.
Ich will „I am a material girl“ nicht so verstehen, dass „das Girl“ heteronormativ und geschlechterbezogenen Besitzverhältnissen entsprechend auf den Typen wartet, der die meiste Kohle hat. Mit Materialismus ist etwas anderes gemeint als die Feier der Anhäufung von Zeug. In kapitalismuskritischer Weise ein „Material Girl*“ sein, heißt für mich: Bewusstsein zu schaffen für Systemlogiken von Leistungsdruck und Ausbeutung, diese zu hinterfragen und aus ihnen auszubrechen.
Denjenigen, die sich fragen, wie sie eigentlich selbst Klassen-positioniert sind, empfehle ich den großartigen Selbsttest von Charlotte Jacobs. Und uns allen wünsche ich einen schönen restlichen Advent und ein „umstürzendes“ Weihnachtsfest!
Alle Ausgaben der Kolumne „Sektion F“ von Carlotta Israel hier in der Eule.
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