Meine Maria? Zwischen Mutterkult und Sehnsuchtsbild

Im Advent grübelt Carlotta Israel über Maria, die Mutter Jesu, nach: Was bedeutet die Gottesgebärerin einer Protestantin? Welche Probleme bringen Marienfrömmigkeit und Mutterkult mit sich?

Im Advent und mit Blick auf Weihnachten geht es auch wieder um Maria. Die plötzlich Schwangere, die reisen, die unter Strapazen gebären muss und die Worte derjenigen, die sie besuchen, in sich sammelt. Oft wird dem Protestantismus eine mangelnde Marienfrömmigkeit vorgeworfen oder, dass der evangelische Glaube durch die „Abwesenheit Mariens“ das weiblich Element im Göttlichen verliert. Ich finde das bedenkenswert und grüble also mit der zweiten Adventskerze zusammen, wie und ob „uns“ etwas fehlt.

Maria kommt in den Evangelien häufig vor: Sie ist diejenige, die ihren Sohn um ein Wunder bittet und von ihm angeblafft wird (Johannes 2). Sie ist die, die nicht einmal mehr die wahre Verwandte Jesu genannt wird (Markus 4). Sie ist aber auch die, die einen neuen Sohn zugewiesen bekommt, als sie unter dem Kreuz trauert (Johannes 19). Sie ist die dienende Magd schlechthin, wenn sie das Magnificat singt (Lukas 1). Das Schwangerwerden, das in der Bibel so manche Frau am Glauben zweifeln oder Gottes Plan infrage stellen lässt – wie Sara (Genesis 18) – ist das Hauptthema, mit dem Frauen in der Bibel (ohne Apokryphen) wahrgenommen werden.

Kurzum: Maria, die Mutter Jesu, hat ganz offensichtlich in der frühchristlichen Gemeinde eine wichtige Rolle gespielt, so dass die Evangelisten ihren Charakter unterschiedlich stark konturierten. Erst mit den christologischen Überlegungen um Göttlichkeit und Menschlichkeit Jesu, also das Nachdenken über seine beiden Naturen, rückt das, was Maria passiert ist, mehr in den Fokus: Sie wird sie zur Gottesgebärerin (theotokos). Auch ihr Jungsein wird immer mehr als Jungfrausein verstanden. Als Jungfrau wird an sie in jedem Gottesdienst im Glaubensbekenntnis erinnert. Im interreligiösen Dialog mit dem Islam ist sie als gemeinsamer Gesprächsgegenstand spannend, weil sie auch im Koran namentlich (!) vorkommt.

Ihre Jungfräulichkeit ist allerdings auch ein Einfallstor für kritische Stimmen gegenüber dem Christ*innentum: So wird der Bericht vom Besuch des Engels bei Maria ironisch als Indiz dafür gewertet, dass Maria eine Ausrede brauchte, um zu erklären, wie sie vor der Eheschließung schwanger geworden sei. Maria spielt also auch in der religionskritischen Außenwahrnehmung des Christentums eine Rolle.

Maria als Vorbild der Gläubigen

Ich selbst bin in einer vom Protestantismus geprägten Region aufgewachsen. Als ich im Frühsommer in Oberbayern jeden Abend Glockengeläut hörte, wunderte ich mich. Meine Mutter, die selbst in der evangelischen „Diaspora“ aufgewachsen war, konnte mir gleich sagen, dass der Mai doch der Marienmonat sei. Ich hatte überhaupt keine Ahnung. Und leider habe ich es auch nicht zu einer Andacht geschafft.

Ganz klar ist aber: Genau solch eine Marienfrömmigkeit gibt es tatsächlich im protestantischen Kontext nicht. An Maria wird in den emotional aufreibenden Momenten von Geburt und Tod Jesu demonstriert, welche Gefühle glaubende Menschen haben können. Damit wird sie durchaus zum Vorbild im Glauben, aber zum Beispiel liturgisch nicht aufgewertet.

Das heißt allerdings nicht, dass an sie und ihre Rolle im individuellen Glaubensvollzug von evangelischen Christ*innen nicht gedacht wird. Es gibt auch evangelische Marien- oder Frauenkirchen, doch keine Marienfeste, die groß begangen werden. Maria gilt eher als Urtypus der Gläubigen – aber auch irgendwie als mehr, weil ja: Gottesgebärerin!

„Die Jungfrau mit Kind mit St. Anna“, Leonardo da Vinci (gemeinfrei)

Mutterkult um Maria

Wenn ich mir vorstelle, was mir Maria im individuellen Glaubensvollzug bedeuten könnte, im Zusammenhang mit den Erzählungen von ihrer Familie und dem dann kunstgeschichtlich verbreiteten Anna selbdritt, so kann ich nicht anders, als zu denken, dass es sich dabei auch um einen Mutterkult handelt. Wie auch bei einem vom „Vater“ geprägten Gottesbild ist das Marienbild als Mutter durch eigene Erfahrungen, Wünschen und Enttäuschungen geprägt.

Dann kann es so oder so gehen: Für eine Person mit einer funktionierende Kind-Mutter-Beziehung könnte diese Beziehung Vorlage für ein dann besonders positives Mariabild sein. Die Anwesenheit einer guten Mutter könnte aber auch bedeuten, dass Maria nicht besonders „benötigt“ wird. Eine dysfunktionale Kind-Mutter-Beziehung allerdings könnte das Mariabild irritieren, wenn „Mutter“ nicht positiv und so Maria als „Übermutter“ umso negativer besetzt ist. Andersherum kann aber gerade für diese Kinder Maria zur Sehnsuchtsverkörperung werden für jene Mutter, die sie sich wünsch(t)en. Auch für Mütter kann Maria ein positives Vorbild sein für eine gelingende Mutter-Kind-Beziehung.

Und doch scheint es mir problematisch zu sein, dass Maria vor allem als Mutter wahrgenommen wird. Daran knüpft sich die Vorstellung an, dass es sich bei ihr um die „weibliche Seite Gottes“ handelt. Maria kann so für Frauen ohne Kinder(wunsch) zur Anfechtung werden, wenn sie als Ideal aller Frauen gesetzt wird. Die Mutterschaft und die Frage, ob eine Frau (spät) Mutter wird oder nicht, sind im biblischen Kanon oft das einzig Berichtenswerte an einer Frau. Vor allem, wenn sie dann doch noch ein Kind kriegt. So wie auch Elisabeth, zu der Maria in Lukas 1 aufbricht. Allein deswegen „fehlt“ sie mir nicht in meiner persönlichen Frömmigkeit, glaube ich.

„Elter unser im Himmel“

Mir „fehlt“ Maria also persönlich nicht. Ich vermute einen Zusammenhang damit, dass meine (aktuelle) Vorstellung von G*tt nicht primär von vermeintlich männlichen Attributen geprägt ist. Also, na klar, die Vateranrede Jesu, das Vaterunser, machte selbstverständlich auch vor mir nicht Halt. Ich erinnere mich, dass ich als Kind mal meinen Vater gefragt habe, ob das für ihn nicht doof sei, dass ich immer noch Gott als weiteren Vater habe. G*tt ist männlich kodiert durch Bibeltexte, liturgische Sprache und theologische Beschreibungen.

Mir ist mit der Zeit wichtiger geworden, die Vater-Anrede als eine Beziehungsaussage zu verstehen, die Jesus in seinem zeitgenössischen Kontext am besten im „Abba“ aufgenommen fand. Für mich kann ich das abstrakt als „Elter“ übersetzen. „Elter unser“ – das wäre doch schön, oder? Außer der Fotosynthese ist „Elter“ eine der wenigen Dinge, die ich aus dem Biologieunterricht mitgenommen habe: Elter ist nämlich tatsächlich ein Wort, das (herkömmlich) eine Abstammung kennzeichnet, ohne dabei geschlechtlich definiert zu sein.

Warum also nicht „Elter unser“? Oder: „Mein Elter“. Ich will das niemandem aufzwängen. Ich will nicht einmal behaupten, dass meine Vorstellung irgendwie adaptationsnötig wäre. Aber ich kodiere um: Das biblische und traditionelle „Vater“ verstehe ich relational und nicht als Geschlechtszuschreibung. Die Vorstellungskontexte eines mächtigen und gütigen Hausherrn, die darin mitschwingen, muss ich heute nicht als „männlich“ verstehen. Deswegen: „Mein Elter“.

Ich finde es spannend, dass die Frage nach Männlich- und Weiblichkeit in Gott oder der Person Jesus zu verschiedenen Zeiten gestellt wurde. Anscheinend „reichte“ die nur männliche Konnotation eben nicht. Besonders hervorgetan haben sich hier mystische Strömingen, zum Beispiel in der jüdischen Kabbala. Aber auch Nikolaus Graf Ludwig von Zinzendorf, der Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine, überlegte in Reden zu seiner Trinitätslehre, ob nicht der Heilige Geist als Mutter zu verstehen sei. Hier spielt auch die Brautmystik mit hinein, die aus dem Brief an die Gemeinde in Ephesus (Kapitel 5) bekannt ist: Die Kirche ist Braut Christi und weil der Heilige Geist in der Kirche wirkt, wird er nun als Mutter verstanden. Zinzendorf überlegt sogar, ob deswegen nicht eine Frau die Herrnhuter Brüdergemeine hätte gründen müssen.

Maria 2.0 auch für Evangelische?

Wie wir von Gott und Jesus denken, welche geistlichen Bilder wie uns von ihnen machen, wirkt auf die kirchliche Praxis zurück. Deswegen finde ich es so passend, dass sich die römisch-katholische Aufbruchbewegung „Maria 2.0“ genannt hat. Die Re-Lektüre biblischer Texte und die Durchsicht der eigenen Tradition zeigen, welche Potenziale verschüttet liegen.

Eine solch griffige Selbstbezeichnung konnten evangelische Frauen, die im 20. Jahrhundert für die evangelische Frauenordination gekämpft haben, sich nicht überlegen. Im Protestantismus fehlt dieser explizit weiblich gelesene Gottesbezug, das Frauenbild bleibt diffuser und heterogener (wie selbstverständlich alles im Protestantismus und auch aus guten wie strukturellen Gründen).

Auch wenn mir Maria also persönlich nicht fehlt, strukturell handelt es sich dann doch um ein protestantisches Defizit, dass „das Weibliche“ zu wenig vorkommt. Die letzte Perikopenrevision von VELKD und UEK hatte auch zum Ziel, dass mehr Texte, in denen Frauen vorkommen, in den gottesdienstlichen Lese- und Predigtrhythmus aufgenommen werden. Frauen gehen die gesamte Gemeinde an und sind nicht allein ein Thema für die „Frauenarbeit“.

Ich will gar nicht in die eine oder andere Richtung aufrufen zu mehr oder zu weniger Marienfrömmigkeit oder liturgischer Praxis. Eher möchte ich in diesem Advent meinen protestantischen Blick auf Maria lenken. Und weil wir schon bei meiner Kindheit waren und es heimelig auf Weihnachten zugeht:

Im Sommerurlaub in Konstanz, als ich drei Jahre alt war, – die Geschichte wurde mir erzählt und ist mir nicht direkt erinnerlich –, muss ich einmal ganz lange vor einer Marienstatue gestanden haben und sie mir angeschaut haben. Mich hat anscheinend fasziniert, wie diese Frau da oben ein kleines Kind hält. Hat sie mich fasziniert, weil zu der Zeit mein jüngerer Bruder oft auf dem Arm meiner Mama war? Ich weiß es nicht. Aber ich muss einen so ergriffenen Eindruck vermittelt haben, dass mir eine wildfremde Frau eine Postkarte von der Marienstatue schenkte. Meine kleine Reliquie von diesem Moment tiefster kindlicher Marienfrömmigkeit. Die habe ich immer noch. Meine Maria.