Missbrauch evangelisch: Neue Struktur für Partizipation von Betroffenen
Die EKD reformiert die Partizipation von Betroffenen an der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. Ihnen wird nun eine „aktive Rolle“ zugestanden. Der bisherige EKD-Beauftragtenrat wird abgeschafft.
Am Wochenende einigten sich Vertreter:innen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit Betroffenen sexuellen Missbrauchs in Kassel auf eine neue Struktur für die Partizipation von Betroffenen an den Bemühungen der EKD um Aufklärung, Aufarbeitung, Prävention und Entschädigung des sexuellen Missbrauchs. Ein neues „Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt“ ersetzt den im vergangenen Jahr bereits ausgesetzten EKD-Betroffenenbeirat, der nun endgültig aufgelöst wurde. Auch der EKD-Beauftragtenrat wird damit in seiner bisherigen Form abgeschafft. Das hatten Betroffene und Beobachter:innen bereits im vergangenen Jahr gefordert.
Statt einem Nebeneinander von Beauftragtenrat und Betroffenenbeirat sollen im Beteiligungsforum Akteur:innen von EKD, Landeskirchen und Diakonie gemeinsam mit Betroffenen an den Sachfragen arbeiten. Das Forum soll sich vier Mal im Jahr treffen und in Arbeitsgruppen auch zwischen den Treffen an den unterschiedlichen Themen arbeiten. Ein anspruchsvolles Programm.
Das neue Konzept nimmt die Kritik von bisherigen Betroffenenbeiräten auf, die sie zuletzt auf der Tagung der EKD-Synode im Herbst 2021 geäußert hatten – vor allem jene, die von kirchennahen, ehemaligen Betroffenenbeiräten geäußert wurde. Sie engagieren sich nun auch im Beteiligungsforum. Mit dabei ist auch Detlev Zander, Sprecher des Netzwerk BetroffenenForum e.V., der zu den kirchenkritischen Mitgliedern des gescheiterten Betroffenenbeirates gehörte. Er sagt: „Das neue Beteiligungsforum bietet die Chance, den notwendigen Weg der EKD in der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt bei jedem Schritt kritisch zu begleiten und die Perspektive Betroffener direkt einzubringen.“
Mitarbeit, statt „unabhängiger“ Beratung
Mit dem neuen Forum verabschiedet sich die EKD von der Chimäre einer unabhängigen Begleitung der Aufarbeitung, wie sie mit dem Betroffenenbeirat versucht wurde – und z.B. in der römisch-katholischen Kirche weiterhin besteht. Zweck des Forums ist demnach „eine starke Partizipation Betroffener und eine aktive Rolle in der Gestaltung von Aufarbeitung, Prävention, Intervention, Unterstützung und Anerkennung in der evangelischen Kirche und Diakonie“. Die Betroffenenvertreter:innen wurden für vier Jahre berufen.
Im neuen Forum werden mitarbeiten: Die bisherigen Mitgliedes Beauftragtenrates, Vertreter:innen der „Fachebene“ in den Landeskirchen (z.B. Ansprechpartner:innen für Betroffene, PIK) und der Diakonie Deutschland, der Bevollmächtigte des Rates der EKD bei Bundestag und Bundesregierung, Martin Dutzmann, sowie Mitarbeiter:innen der Fachstelle Sexualisierte Gewalt im Kirchenamt der EKD und die Präses der EKD-Synode, Anna-Nicole Heinrich.
Das bedeutet zunächst, dass die acht Betroffenenvertreter:innen gegenüber den ingesamt zwölf Kirchenvertreter:innen in der Minderheit sind. Gleichwohl sitzt man nun nicht mehr in Beauftragtenrat und Betroffenenbeirat getrennt voneiannder, sondern „an einem Tisch“ – an dem auch Personen Platz nehmen, die sich – wie die Synoden-Präses – eine stärkere Kontrolle der Aufklärungsbemühungen vorgenommen haben.
Ob das neue Partizipations-Modell nun tatsächlich einen „Meilenstein“ (Zander) darstellt, wird die Praxis zeigen. Noch sind viele Fragen ungeklärt, die bereits beim alten Betroffenenbeirat für Schwierigkeiten sorgten: Dazu gehören die angemessene Kompensation und fachliche Begleitung der Arbeit der Betroffenenvertreter:innen,eine vertrauensvolle Koordination einer gemeinsamen Öffentlichkeitsarbeit und nicht zuletzt die Frage, wer für das Beteiligungsforum gegenüber den anderen EKD-Institutionen und der Öffentlichkeit sprechen wird.
Nach dem Treffen in Kassel ist klar: Auch der EKD-Beauftragtenrat zum Schutz vor sexualisierter Gewalt wird in seiner bisherigen Form nicht fortgesetzt, sondern soll „neu strukturiert“ werden. Seine bisherigen Mitglieder (Leitungspersonen aus Landeskirchen und Diakonie) sind nun ebenfalls Teilnehmer:innen des gemeinsamen Forums. Der Sprecher des Beauftragtenrates, Landesbischof Christoph Meyns (Braunschweig), ist sich sicher: „Mit dieser neuen, deutlich anderen und weitergehenden Form der Beteiligung werden wir das gemeinsame Anliegen, sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie bestmöglich aufzuarbeiten und zu verhindern, konsequent umsetzen.“
Kritik: Mangelnde Unabhängigkeit der Betroffenenvertreter:innen
Beobachter:innen und Expert:innen kritisierten in den vergangenen Jahren nicht allein die mangelnde Unabhängigkeit der Aufarbeitung in der evangelischen Kirche, sondern vor allem die Kälte und fehlende Fachlichkeit im Umgang mit Betroffenen. Als ein Problem des erst 2020 gestarteten Betroffenenbeirates wurde schnell dessen unklarer Arbeitsauftrag identifiziert. Sollen Betroffene die Kirche beraten und unterstützen oder braucht es ein sichtbares Korrektiv dieser Bemühungen in Form legitimierter Betroffenensprecher:innen? Über diesem Konflikt war deutlich geworden, dass sowohl Betroffenenbeirat als auch Beauftragtenrat gescheitert sind.
Im neuen Forum wird man nun also zusammenarbeiten, es ist daher keine von der Kirche unabhängige Struktur. Dass die Anliegen der Betroffenen im neuen Modell ins Hintertreffen geraten, befürchtet Katharina Kracht, die dem alten Betroffenenbeirat angehörte, beim Forum aber nicht mehr dabei ist. Sie kritisiert nicht allein die ungleichen Kräfteverhältnisse (s.o.), sondern vor allem die Auswahl der beteiligten Betroffenen: „Von den Betroffenen sind sechs in einem Dienst- oder Anstellungsverhältnis bei einer Landeskirche oder der Diakonie (bzw. eine verwandte Person 1. Grades) [beschäftigt]. Eine weitere ist gar nicht im Kontext EKD betroffen.“ Es gäbe überhaupt nur einen Betroffenen (Detlev Zander, Anm. d. Red.) im neuen Forum, der „nicht für die Kirche arbeitet und auch im Kontext EKD betroffen ist“.
„Die Tatsache, dass nun zu einer noch größeren Mehrheit Betroffene die EKD beraten, die der Kirche sehr nahe stehen, zeigt zum einen die Unfähigkeit der EKD, mit kritischeren Positionen umzugehen“, so Kracht weiter, „vor allem bedeutet es aber, dass die vielen Betroffenen der EKD, die heute der Kirche fern sind, nur minimal repräsentiert sind. Das ist unerträglich.“ Die Frage einer angemessenen politischen und öffentlichen Vertretung von Betroffenen aus evangelischen Tatkontexten bleibt ungeklärt, auch wenn das neue Beteiligungsforum Erfolg haben sollte, das der Struktur nach die kirchliche Arbeit am Problem des Missbrauchs verbessern soll. Für diese Arbeit allerdings erscheint der kirchennahe Hintergrund der beteiligten Betroffenen kein Hinderungsgrund zu sein.
Im Rückblick auf den bisherigen EKD-Betroffenenbeirat und im Vergleich mit der katholischen Kirche und ihren Betroffenenbeiräten bei der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und in einigen (Erz-)Bistümern wird deutlich, dass jedoch auch das Modell von Betroffenenbeiräten, die an die Institution Kirche angebunden sind, Probleme verursacht. Ein solch kritisches Korrektiv mit eigener Stimme in der Öffentlichkeit verträgt sich kaum mit dem Wunsch der Kirchen, ihre Bemühungen in gutem Licht dastehen zu lassen. Und die beteiligten Betroffenen finden sich nicht selten in einem Interessenkonflikt wieder, weil sie zugleich kritisieren und beraten sollen.
Das neue EKD-Beteiligungsforum löst dieses Problem nun einseitig zugunsten der Institution auf, die der Expertise der Betroffenen dringend bedarf. Als Gegenleistung bietet die EKD den Betroffenen „eine aktive Rolle“ bei der Gestaltung der Maßnahmen an, statt – wie bisher – eine vornehmlich beratende Tätigkeit. Ob und wie die Rechte der Betroffenen in dieser neuen Struktur geschützt werden können, ist jedoch nicht allein eine Frage der Strukturen, an denen in den kommenden Monaten nun gemeinsam weitergearbeitet werden soll, sondern der Achtsamkeit der konkret handelnden Personen. Es wird auf die Mitwirkung von fachlich geschulten Personen und der Synoden-Präses ankommen.
Blick nach Berlin: Betroffene stärken
„Die Evangelische Kirche Deutschland hat in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, wie schwer sie sich mit der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und mit der Beteiligung von Betroffenen in diesen Prozessen tut“, erklärt Katharina Kracht, „externe Standards weist sie zurück und versucht immer wieder, aus sich selbst heraus gelungene Aufarbeitung zu generieren – und das geht in den meisten Fällen alles andere als gut.“ Auch das neue Modell sei, so Kracht, „von einer einseitig von der EKD beauftragten „Partizipationsexpertin“ entwickelt“ worden, „die keinerlei Fachlichkeit im Themenbereich sexualisierte Gewalt und deren Aufarbeitung vorweisen kann. Unabhängige fachliche Beratung, […], z.B. durch den Arbeitsstab bei der UBSKM wurde nicht in Anspruch genommen.“ (UBSKM = Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung, Anm. d. Red.)
Das neue Beteiligungsforum ist also als innerkirchliche Neuaufstellung der Strukturen, die sich mit dem Missbrauch befassen, zu verstehen, in denen nun endlich Betroffene eine „aktive Rolle“ zugestanden werden soll. Wenn dies gelingt, wäre schon viel erreicht. Als Anwältin der Betroffenen kann und sollte sich die Kirche nicht mehr positionieren. Die verschiedenen Interessen verlangen eine klare, auch kommunikative Trennung.
Ergänzend zur innerkirchlichen Architektur der Betroffenenpartizipation bedarf es daher einer gut ausgestatteten und vernehmbaren Stimme der Betroffenen aus kirchlichen und anderen Tatkontexten, die ausschließlich für die Belange von Betroffenen eintritt. Hier müssen sich die Blicke nach Berlin richten, wo in den kommenden Monaten hoffentlich auch die Politik ihren Ankündigungen Taten folgen lässt und sich stärker für die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs engagiert.
Alle Eule-Beiträge zum Schwerpunktthema „Missbrauch evangelisch“.