Missbrauchsvorwürfe in Siegen: Alles sauber?
Die Missbrauchsvorwürfe in Siegen kratzen an der Glaubwürdigkeit der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus, die Präses der Kirche von Westfalen ist. Wie geht die Evangelische Kirche von Westfalen mit dem Fall um?
Die diesjährige Tagung der EKD-Synode, die vom 11. bis zum 15. November in Ulm stattfand, wurde von den Missbrauchsvorwürfen im Kirchenkreis Siegen überschattet. In der Heimat der derzeitigen EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus soll ein Kirchenmitarbeiter über viele Jahre hinweg seine Machtstellung ausgenutzt haben, um sich anderen Männern sexuell zu nähern. Dies alles zu der Zeit, in der Kurschus als Pfarrerin und Superintendentin in Siegen tätig war, bevor sie 2012 Präses der Westfälischen Landeskirche wurde. Die Siegener Zeitung berichtet von Vorwürfen der sexualisierten Gewalt und des Missbrauchs, die von mehreren mutmaßlich Betroffenen erhoben werden (wir berichteten).
Siegen und Ulm – Betroffene und Annette Kurschus
Die Regionalzeitung trat mit den im Kirchenkreis Siegen, in der Westfälischen Landeskirche (seit Januar 2023) und auch in den Leitungsgremien der Evangelischen Kirche (seit dem Sommer) bekannten Vorwürfen pünktlich zu Beginn der Beratungen in Ulm an die Öffentlichkeit. Auf der Pressekonferenz nach ihrem Bericht vor der Synode am Sonntag musste sich Kurschus daher auch Fragen zu den Siegener Vorwürfen stellen: Sie gab zu, den mutmaßlichen Täter zu kennen. „In Siegen kenne jeder jeden“, erklärte Kurschus, und dass sie zu den weiteren Hintergründen aufgrund der laufenden Untersuchungen der Staatsanwaltschaft im Tatkontext keine weiteren Erklärungen abgeben dürfe. Auch nicht solche, die ihre Rolle im Tatkontext und ihre persönlichen Beziehungen zum mutmaßlichen Täter so erhellen könnten, dass Druck von ihr und der Evangelischen Kirche genommen würde.
Am Montag dann berichtete die Westfalenpost, dass im Tatkontext Siegen „von strafrechtlich relevanten Vorwürfen wohl nichts übrig bleiben“ würde. Eingestellt aber sind die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen ausdrücklich nicht, die Sachlage sei noch nicht abschließend beurteilt. Von möglichen Betroffenen, die zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Taten minderjährig waren, hatte die Staatsanwaltschaft am Montag keine Kenntnis.
Am Dienstag veröffentlichte die Siegener Zeitung weitere Hintergründe, die sie in Gesprächen mit den Betroffenen erfahren haben will: So sollen insgesamt vier Personen – unter ihnen eine mutmaßlich betroffene Person – die damalige Siegener Pfarrerin Annette Kurschus und eine weitere Pfarrerin in einer Unterredung in Kurschus‘ Garten „explizit und detailliert“ über die „sexuellen Verfehlungen“ des mutmaßlichen Täters aufgeklärt haben. Die Meldung erreichte die EKD-Synode auf ihrer Tagung in Ulm, unmittelbar bevor sie in die Beratungen über die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche eintreten wollte. Am Dienstagnachmittag berichtete das „Beteiligungsforum“ (BeFo) den Synodalen von den – nicht geringen – Fortschritten, die im vergangenen Jahr erreicht werden konnten.
Aus den Missbrauchsvorwürfen in Siegen war spätestens Dienstagnachmittag ein Fall Kurschus geworden. Kurzfristig wurde entschieden, dass sich die Ratsvorsitzende abermals öffentlich erklären solle – vor der Synode am frühen Abend, im Anschluss an den BeFo-Bericht. Zuvor hatte Kurschus alle Medienanfragen – auch die der Eule – abgelehnt. Den Berichten von Betroffenen und kirchlichen Beauftragten, die im BeFo zusammenarbeiten, hörte Kurschus von ihrem Platz in der ersten Reihe im großen Tagungssaal zu. Zu diesem Zeitpunkt war also klar: Zurücktreten würde die Ratsvorsitzende sicher nicht, sondern vor der Synode ihr grundsätzliches Dementi wiederholen, bereits Ende der 1990er Jahre von Vorwürfen der sexualisierten Gewalt gegenüber dem mutmaßlichen Täter in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Eine entsprechende kurze schriftliche Mitteilung der Westfälischen Landeskirche erreichte die Eule noch am Nachmittag (siehe hier).
Am frühen Abend also sprach die EKD-Ratsvorsitzende wieder zur Sache vor der Synode (hier im Video), darüber berichteten wir bereits hier. Am Mittwochmorgen erklärte die Präses der EKD-Synode, Anna-Nicole Heinrich, wie die Synode und sie selbst persönlich auf das Statement von Annette Kurschus reagiert haben (hier in der Eule). Heinrichs Erklärung – „Ich habe nicht geklatscht“ – stellt den Versuch dar, die Synode als ein Leitungsgremium der EKD und die Arbeit mit den Betroffenensprecher:innen im BeFo aus dem brodelnden Skandal herauszuhalten.
Auf ihren wegen des nahenden Bahnstreiks überhasteten Rückreisen dann erreichte Synodale, Kirchenleitende und Beobachter:innen der nächste Beitrag der Siegener Zeitung (€) zu den Missbrauchsvorwürfen in Siegen: Der Zeitung lägen eidesstattliche Erklärungen vor, die die Aussagen der Informanten absicherten. Außerdem habe man Einsicht in einen Brief des mutmaßlichen Täters, den dieser im unmittelbaren Nachgang des „Gartengesprächs“ an einen Teilnehmer der Runde geschrieben habe. Im Brief wird Bezug auf das Gespräch bei „Annette“ genommen. Am Mittwochabend beschrieb Reinhard Bingener in der FAZ (€), allerdings ohne Nennung von Namen, u.a. den Schock in den Leitungsgremien der evangelischen Kirche über die Kommunikation der Ratsvorsitzenden. Die Reihen hinter der Ratsvorsitzenden, so Bingener, würden sich nicht mehr schließen.
Berichterstattung und Flurgespräche über „Siegen“ drehten sich in den vergangenen Tagen zunehmend vor allem um die Frage der Auswirkungen auf die Ratsvorsitzende und die Außendarstellung der EKD. EKD, Westfälische Landeskirche und die Ratsvorsitzende bemühten sich, die Vorwürfe als eine lokale Begebenheit und Angelegenheit des Kirchenkreises in Siegen darzustellen, aber der Fall Kurschus hat inzwischen größere Dimensionen angenommen. Wie aber nun wurde vor Ort reagiert?
Intervention in Siegen
Nach aktuellem Kenntnissstand der Eule wurde der bei der landeskirchlichen Meldestelle im Januar 2023 eingegangene Vorwurf gemäß den in der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) geltenden Bestimmungen, die der Eule vorliegen, nach einer ersten Prüfung an den Kirchenkreis als zuständiges Leitungsorgan weitergeleitet. Eine solche Weiterleitung erfolgt nur, wenn der Verdacht von der Meldestelle als „erheblich und plausibel“ eingeschätzt wird. Im Kirchenkreis wurde daraufhin ein sog. „Interventionsteam“ einberufen. Die Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft erfolgte zeitnah.
Die Eule hatte Gelegenheit mit dem zuständigen Superintendenten (Leiter des Kirchenkreises), Peter-Thomas Stuberg, zu sprechen. Gegenüber der Eule konnte auch er – mit Verweis auf die Persönlichkeitsrechte des mutmaßlichen Täters – nur wenige Angaben machen, bestätigte aber die Einrichtung des Interventionsteams und die Meldung bei der Staatsanwaltschaft. Stuberg ist als Superintendent Leiter des Teams. Wie viele weitere Personen das Team umfasst und wer genau dem Team angehört, wollte er mit Verweis auf die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten nicht erklären. Das Team habe aber auf externe Beratung zurückgegriffen. Außerdem gehört dem Interventionsteam ein Mitarbeiter für Kommunikation der EKvW an.
Zu den Aufgaben des Interventionsteams gehören nach Darstellung der EKvW eine Fallanalyse sowie die Beratung und Umsetzung von „Handlungsschritten“, wie zum Beispiel die Meldung bei den staatlichen Behörden und die öffentliche Kommunikation (z.B. ein Aufruf an mögliche weitere Betroffene, sich bei den zuständigen Stellen zu melden). Über alle wesentlichen Handlungsschritte werden die bereits bekannten Betroffenen eines Tatkontextes laut EKvW zwingend informiert. In der landeskirchlichen Meldestelle sollen alle „Daten, Gespräche, Ereignisse“ zu denen auch „alle Beobachtungen und Wahrnehmungen“ vor, während und nach der offiziellen Meldung gehören, sorgfältig schriftlich dokumentiert werden, um in zukünftigen staatlichen und kirchlichen Verfahren, etwa für Anerkennungsleistungen, zur Verfügung zu stehen.
Das Problem der fehlenden Unabhängigkeit
Über die Funktion eines Interventionsteams besteht allerdings in der weiteren Öffentlichkeit weitgehend Unklarheit. Auf Nachfrage der Eule auf der Pressekonferenz der EKD am Sonntag erklärte Annette Kurschus, die kirchliche Befassung mit dem mutmaßlichen Missbrauchsfall müsse das Ende der staatlichen Ermittlungen abwarten. Soweit damit mögliche arbeits- und dienstrechtliche Verfahren – auch nach Eintritt in den Ruhestand – und Verfahren für die Anerkennungsleistungen an Betroffene in Missbrauchsfällen gemeint sind, stimmt dies. Das lokale Interventionsteam ist allerdings für beides ohnehin nicht zuständig.
Anerkennungsleistungen werden in der EKvW von einer „Unabhängigen Kommission“ (sic!) nach einer weiteren Prüfung zugesprochen. Diese Prüfung orientiert sich an den in der Kirche geltenden Maßstäben für sexualisierte Gewalt, die über die des staatlichen Rechts weit hinaus gehen. In der Evangelischen Kirche ist inzwischen jede sexuelle Annäherung in Seelsorge- und Abhängigkeitsverhältnissen verboten (sog. Gewaltschutzrichtlinie). Dienst- und Arbeitsrechtliche Verfahren hingegen orientieren sich an enger gefassten Tatdefinitionen des zum Tatzeitpunkt je geltenden Rechts. Deshalb wurden in den vergangenen Jahren nur in wenigen Einzelfällen Personen, die erwiesenermaßen in evangelischen Kontexten zu Tätern wurden, Pensionsansprüche abgesprochen.
Der Begriff der Intervention insinuiert mindestens, dass sich ein Interventionsteam mit allen Folgen eines plausiblen Verdachtsfalls befasst: Das können zum Beispiel Erkundigungen und weitere Meldungen aus dem Umfeld der mutmaßlichen Tat sein sowie Nachfragen aus den Kirchgemeinden, der Öffentlichkeit, den staatlichen Behörden etc.. Die genaue Zusammensetzung des Interventionsteams regelt das Schutzkonzept der zuständigen Leitungsstelle. Die EKvW schreibt allerdings vor, dass eine zuständige Leitungsperson, wie z.B. ein Superintendent oder eine Einrichtungsleitung, „in leitender Funktion im Interventionsteam“ vertreten sein muss. Das sei nötig, da im Verlauf des Interventionsprozesses auch über Personalfragen zu entscheiden sei.
Im Falle der Siegener Vorfälle leitet Superintendent Peter-Thomas Stuberg das Interventionsteam. Er steht seit Beginn diesen Jahres dem neuen, fusionierten Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein vor, zuvor war er seit 2012 Superintendent des Kirchenkreises Siegen und damit direkter Nachfolger von Annette Kurschus im Leitungsamt des Kirchenkreises. Als solcher war er mehrere Jahre lang auch für die Aufsicht über den Arbeitsbereich desjenigen Mannes zuständig, dem nun von mehreren Betroffenen sexualisierte Gewalt vorgeworfen wird.
Alles sauber?
Nach ihrer kurzen Erklärung vor der EKD-Synode am Dienstagabend beantwortete Annette Kurschus noch drei kurze Nachfragen von Synodalen vor dem Plenum. Auf die Frage einer Synodalen, wie die Verfahren nun weitergeführt würden, gab Annette Kurschus an, sie würde aus den entsprechenden Gesprächen und Prozessen in ihrer Landeskirche herausgehalten: „Ich finde auch sehr gut, dass ich keinen Einfluss auf die Verfahren nehme.“
Die bisherige Befassung mit den Vorwürfen in Siegen innerhalb der EKvW entspricht nach aktuellem Kenntnisstand der Eule den landeskirchlichen Regeln, darf aber nicht mit einer externen und/oder kirchenunabhängigen Intervention verwechselt werden. Vor der Synode betonte Kurschus, dass sie selbst als „im Feld irgendwie tangierte“ Person mit der landeskirchlichen Intervention nicht betraut sei: „Ich finde auch gut, dass wir da sauber sind.“ Dass die kirchlichen Verfahrensregeln, selbst bei gewissenhafter Umsetzung, den Ansprüchen an eine unabhängige Intervention und Aufarbeitung nicht genügen, erklären Betroffene in evangelischen Kontexten seit Jahren.
Alle Eule-Beiträge zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“.
Alle Eule-Beiträge zur Tagung der EKD-Synode in Ulm 2023.
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