Kirche

Muss Kurschus gehen?

Die Missbrauchsvorwürfe in Siegen lasten auf der EKD-Ratsvorsitzenden. Muss Annette Kurschus als leitende Geistliche ihrer Landeskirche und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche zurücktreten? Ein Kommentar.

„Wir glauben den Betroffenen“. Dieser Satz ist in den Kirchen in Deutschland, evangelisch wie katholisch, zum Mantra geworden. Den Missbrauchsbetroffenen soll nach Jahrzehnten des Verschweigens, Vertuschens und Herumlavierens geglaubt werden. Dabei ist es egal, ob es sich bei den von ihnen geschilderten Missbrauchstaten um sexuellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt im engeren Sinne handelt, auch (Re-)Traumatisierungen und vor allem jene Umstände, die Missbrauch zu einem systemischen Problem machen, müssen sich die Kirchen zurechnen lassen: Den Machtmissbrauch, das Wegschauen und den Vorrang des Institutionenschutzes, auch geistlichen Missbrauch.

Die Hintergründe des Missbrauchs in der Kirche stehen denjenigen, die sehen wollen, durch viele Studien, die Berichterstattung der Medien und vor allem das mutige Zeugnis von Betroffenenen inzwischen deutlich vor Augen. Auch Spezifika des Missbrauchs in evangelischen Tatkontexten. Die „ForuM-Studie“ über sexualisierte Gewalt und andere Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland, die im kommenden Januar veröffentlicht werden soll, wird sie auch den evangelischen Christ:innen noch einmal deutlich vor Augen führen.

„Gibt es da ein Missverständnis?“

In den vergangenen Tagen spitzt sich die Krise um Missbrauchsvorwürfe in Siegen zu (wir berichteten). Im Zentrum der kritischen Nachfragen steht die heutige EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus, die Präses der westfälischen Landeskirche ist. Zuvor hatte sie als Vikarin, Pfarrerin und Superintendentin in Siegen gewirkt. Sie ist mit dem mutmaßlichen Täter nicht nur bekannt, sondern kennt ihn „sogar sehr gut“. Die Schilderungen von Betroffenen in der Siegener Zeitung sind eindrücklich und konkret. Sie beteuern gegenüber der Regionalzeitung ihre Wahrhaftigkeit.

Annette Kurschus wird vorgeworfen, vor 25 Jahren von Vergehen eines Kirchenmitarbeiters in Kenntnis gesetzt worden zu sein, die nach damaligen Bestimmungen vermutlich meldepflichtig waren – und es ganz sicher nach den heute in der Evangelischen Kirche geltenden Regeln sind. Wie hat sie damals reagiert? Kurschus erklärte vor der EKD-Synode, die seit dem Wochenende in Ulm getagt hatte, sie prüfe sich intensiv: „Habe ich etwas überhört? Habe ich etwas übersehen? Gibt es da ein Missverständnis?“ Mit den Vorwürfen, die von der Siegener Zeitung seit Samstag sukzessive veröffentlicht und mit immer neuen Details angereichert werden, steht die Frage im Raum: Hat Annette Kurschus als Pfarrerin in Siegen einen Missbrauchstäter geschützt?

An der öffentlichen Klärung dieser Frage kann Kurschus nur sehr begrenzt mitwirken: Sie darf qua Gesetz keine Einzelheiten offenlegen, die zu einer Identifikation des mutmaßlichen Täters in der Öffentlichkeit führen. Dabei ist auch klar: Selbst wenn über dessen mutmaßliche Vergehen nicht bereits vor 20 oder 30 Jahren in Siegen geredet wurde, seit dem Wochenende kann sich jede:r, der eins und eins zusammenzählen kann, aus den verschiedenen Berichten der regionalen Medien zusammenreimen, um wen es geht. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass Kurschus‘ das Recht hat, die Identität der Person offenzulegen: Dagegen sprechen nicht nur persönlichkeitsrechtliche Erwägungen, sondern auch, dass Kurschus‘ als Pfarrerin besonderen Ansprüchen an die Rechtswahrung und Verschwiegenheit vertraulicher Gespräche genügen muss.

Die besondere Situation, in einem persönlichen Verhältnis mit einer Person verbunden zu sein, der schwere Vorwürfe gemacht werden, unterscheidet diesen Fall auf den ersten Blick von anderen ähnlichen Skandalen in den Kirchen der vergangenen Jahren. Auf den zweiten Blick aber, wenn man den Fokus der Kamera einmal weitet, wird klar: Natürlich bestehen in Institutionen, in denen sich Missbrauch ereignet, immer persönliche Beziehungen, die geneigt sind die Urteilskraft und Entscheidungsstärke der zu verantwortlichem Handeln verpflichteten Personen einzutrüben. Und hier genügt schon allein der Anschein.

Denn damit, dass die Kirchen zwar unabhängige Intervention, Aufklärung und Aufarbeitung versprechen, diesen Anspruch aber immer wieder nicht einlösen (s. Siegen-Bericht in der Eule) setzen sie nicht zuletzt ihre eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Es geht um die Betroffenen. Schon der Anschein von Vertuschung beschädigt Vertrauen, das sie doch in die Institution Kirche (zurück) gewinnen sollen, um zu ihrem guten Recht und einer Anerkennung ihres Leids zu kommen.

Ein Verbleib von Annette Kurschus in ihren Ämtern als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Präses der westfälischen Landeskirche beschädigt die Bemühungen der Kirche, Vertrauen bei den Betroffenen zurückzugewinnen. Wenn Schilderungen von Betroffenen mit Verweis auf die sicher bemerkenswerten Umstände der Berichterstattung der Siegener Zeitung, die Salamitaktik der Veröffentlichungen und ihre Terminierung auf die Tagesordnung der EKD-Synode hin, vom Tisch gewischt werden, muss gefragt werden, ob die VerantwortungsträgerInnen der Evangelischen Kirche die wichtigste Forderung von Missbrauchsbetroffenen tatsächlich verstanden haben: „Glaubt uns!“

Ein Musterbeispiel evangelischen Missbrauchs

Was in Siegen vor zwanzig Jahren geschehen ist und wie die westfälische Kirche als Ganzes und einzelne Akteur:innen damals und in diesem Jahr 2023 mit den Vorwürfen von Betroffenen umgegangen sind, das wird sich in der Tat erst durch gründliche kirchenexterne Untersuchungen klären lassen. Deutlich ist, dass die weiteren im Rat der EKD und in der Gemeinschaft der EKD-Gliedkirchen mit der Leitung der Kirche betrauten Personen im Laufe des Jahres immer wieder nur bruchstückhaft in Kenntnis gesetzt worden sind. Wichtige Hintergründe eines womoglich gravierenden Missbrauchsgeschehens können aber nicht hinter Paywalls von Regionalzeitungen und in der Verschwiegenheit von Kirchengremien aufbewahrt bleiben, bis sich der Sturm vielleicht wieder gelegt hat.

Die unbestreitbaren Fortschritte, die in den evangelischen Kirchen bei der Befassung mit sexualisierter Gewalt in den vergangenen fünf Jahren von Betroffenen errungen wurden, verschwinden schon jetzt hinter einem Schleier an Unaufrichtigkeit, der sich über die evangelische Kirche senkt. Wie soll die EKD im Januar die Ergebnisse der „ForuM-Studie“ aufrichtig entgegennehmen, die zeigen werden, dass wir es auch in Siegen geradezu mit einem Musterbeispiel evangelischen Missbrauchs zu tun haben könnten?

Das Renommee und die Machtstellung von noch so bedeutenden Personen dürfen nicht im Vordergrund stehen. Dahin gehört das Recht der Betroffenen. Wer dem, auch ohne böse Absicht, im Wege steht, muss zur Seite treten.


Alle Eule-Beiträge zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“.

Alle Eule-Beiträge zur Tagung der EKD-Synode in Ulm 2023.


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