Was leistet die neue Friedensdenkschrift der EKD?
Mit ihrer neuen Friedensdenkschrift legt die Evangelische Kirche in Deutschland eine überzeugende Bündelung des friedensethischen Diskurses vor. Einfache Antworten auf die Krisen der Welt bietet sie nicht an.
Die heute in Dresden vorgestellte neue Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) „Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick“ (PDF) bildet eine neue Schwerpunktsetzung des Nachdenkens über Krieg und Frieden in evangelischer Verantwortung ab. Sie hält an dem in der Friedensdenkschrift von 2007 entfalteten Leitbild des Gerechten Friedens fest, will aber angesichts der seither dramatisch veränderten politischen Situation und Sicherheitslage, vor allem durch Russlands Aggression gegen die Ukraine, das Konzept auf diesen Kontext hin weiterentwickeln.
Bei aller Kontinuität werden doch Umakzentuierungen vorgenommen. Dies wird schon an den Umformulierungen der Dimensionen des Gerechten Friedens deutlich: „Schutz vor Gewalt“ und „Förderung von Freiheit“ bleiben gleich. Bei der dritten und vierten Dimension gibt es allerdings Änderungen: Aus „Abbau von Not“ wird nun „Abbau von Ungleichheiten“ und statt der „Anerkennung kultureller Vielfalt“ wird nun „friedensfördernder Umgang mit Pluralität“ gefordert (Ziff. 22). Damit wird weiterhin der konstitutive Zusammenhang von Gerechtigkeit und Frieden auch in internationaler Perspektive anerkannt.
Die Denkschrift nimmt in Anspruch, das „ökumenische Leitbild des Gerechten Friedens“ zu präzisieren und aktualisieren (S. 18f.; Ziff. 20). Damit ist vermutlich die deutsche konfessionelle Ökumene gemeint. Denn die 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen 2013 in Busan gab bewusst den Begriff des Gerechten Friedens auf und sprach fortan von Gerechtigkeit und Frieden, um so den Stimmen aus dem Globalen Süden Gehör zu verschaffen, die schon lange die Eigenständigkeit und Vorordnung der Gerechtigkeit fordern.
Diese begriffliche Verschiebung spiegelt sich auch im Titel der Kundgebung der sog. „Friedenssynode“ der EKD 2019 wider. Da die neue Denkschrift an anderer Stelle sensibel auf die Unterrepräsentation des Globalen Südens und die Tendenz, die Theologie und Ethik des Globalen Nordens als „Normalfall“ anzusehen, hinweist (Ziff. 30; 111), ist es verwunderlich, dass genau diese Problemanzeigen hier nicht zur Geltung kommen.
Als Leitmotiv zieht sich durch die Denkschrift das dialektische Verhältnis von einerseits der Abwehr von Gewalt notfalls durch Gegengewalt, ohne andererseits „das Ziel der Überwindung von Gewalt aus den Augen zu verlieren“ (Ziff. 18). So wird im Einklang mit der Denkschrift von 2007 der Gerechte Friede auch als „Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit“ verstanden (Ziff. 21; 44). Daraus ergibt sich, dass „Friedenslogik und Sicherheitslogik […] nicht gegeneinander ausgespielt“ werden dürfen (Ziff. 62).
Schutz vor Gewalt im Zentrum
Konzeptionell am bedeutsamsten ist die Betonung des Schutzes vor Gewalt. Diese Dimension bekommt neues Gewicht. Gleich zu Beginn heißt es: „Angesichts der Grausamkeit von Tod, Vergewaltigung, Verletzung und Traumatisierung durch bewaffnete Konflikte muss der Schutz vor Gewalt im Zentrum der Bemühungen von Politik, Zivilgesellschaft und Kirche stehen“ (S.13; vgl. Ziff. 10). Später wird explizit betont, dass der Schutz vor Gewalt das höchste Gut sei, die anderen drei Dimensionen darauf basierend „höherstufige Güter des Gerechten Friedens“ darstellen (Ziff. 40).
Zwar wird weiter an der Bedeutung des Rechts zur Friedenssicherung festgehalten, doch werden auch die Grenzen der Leistungsfähigkeit Internationaler Organisationen und der Durchsetzbarkeit des Völkerrechts anerkannt. Folgerichtig wird die Ethik rechtserhaltender Gewalt als „unverzichtbarer Bestandteil des Gerechten Friedens“ ausgezeichnet (S. 44). In der Denkschrift von 2007 und vor allem in der Synodenkundgebung von 2019 wurde sie eher als Appendix an das Leitmotiv „Frieden durch Recht“ angesehen. Durch die russische Großoffensive 2022 wurde sie aber eine wichtige Grundlage für die aktuelle friedensethische Urteilsbildung. Hier wird sie nun systematisch mit der Rolle des Rechts zusammengedacht.
Während in der Denkschrift zumeist nur von rechtserhaltender Gewalt die Rede ist, wird das Konzept an einer Stelle um „rechtserzwingende“ und „rechtsermöglichende“ Gewalt ergänzt (Ziff. 173). Hier wäre mehr Stringenz hilfreich. Es ist verschiedentlich moniert worden, dass die Denkschrift von 2007 nicht ausweist, dass das Konzept der rechtserhaltenden Gewalt von Walter Benjamin stammt, bei ihm aber nicht ausschließlich auf rechtlich gebundene Gewalt angewendet wird. Die Chance zur Klärung wurde in der aktuellen Denkschrift nicht genutzt.
Ist die Anwendung von militärischer Gewalt zu rechtfertigen?
Zur Prüfung der Rechtfertigbarkeit der Anwendung von Gewalt zieht die neue Denkschrift die Kriterien der Tradition des Gerechten Krieges heran (Ziff. 38). Auch wenn die Denkschrift dies bestreitet, kann der Ansatz des Gerechten Friedens als eine Variante der Tradition des Gerecht(fertigt)en Krieges interpretiert werden. Denn der Primat des Gewaltverzichts (Ziff. 3) ist dieser ja gerade durch die Rechtfertigungspflicht der Anwendung von Gewalt eingeschrieben.
Die einzigen Gründe, welche die Anwendung von Gewalt unter bestimmten Umständen rechtfertigen können, sind Selbstverteidigung und Nothilfe (Ziff. 56). Das Recht auf – auch militärische – Selbstverteidigung wird ausdrücklich betont:
„Nicht nur aus völkerrechtlicher, sondern auch aus theologisch-ethischer Perspektive kann daher von einem Recht des Staats zur Selbstverteidigung zum Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger gesprochen werden“ (Ziff. 151, Hervorhebung vom Autor).
„Eine unbedingte Verpflichtung zum Beistand“ wird allerdings abgelehnt. „Die ethische Beurteilung ist abhängig von der Abwägung im Einzelfall […]“ (Ziff. 152). Hier könnte man auch argumentieren, Nothilfe sei ein „Erlaubnisgrund“ und dann ist anhand der übrigen Kriterien zu prüfen, welche Art von Nothilfe angemessen und verhältnismäßig ist. Denn wenn man davon absieht, dass prinzipiell ein angegriffener Staat Anspruch auf Hilfe hat, sind die Vereinten Nationen als System kollektiver Sicherheit schon dem Anspruch nach geschwächt.
Es wird sogar das Recht zu präemptiver Gewaltanwendung zugestanden, etwa wenn der Erwerb von gegen das angreifende Land gerichteten Massenvernichtungswaffen unmittelbar bevorsteht (Ziff. 58). Man wird daraus folgern können, dass die Denkschrift den Angriff Israels auf das iranische Atomprogramm vom Juni 2025 für rechtfertigbar hält.
Ein „Ja“ zur Rüstung und eine Pflicht zum Dienst
Da in der Denkschrift Selbstverteidigung als legitim angesehen wird, ergibt sich daraus die Notwendigkeit militärischer Rüstung, um Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit gewährleisten zu können (Ziff. 75; 161f.). Die Denkschrift diagnostiziert, „eine ausreichende Ausstattung der Bundeswehr für einen Verteidigungsfall“ sei derzeit nicht gegeben (Ziff. 59). Zu Recht wird gefordert, jegliche Form von Aufrüstung mit dem Angebot zu Rüstungskontrollvereinbarungen zu verbinden (Ziff. 80).
Eine klare Revision der Position der Denkschrift von 2007 wird hinsichtlich der nuklearen Abschreckung vollzogen. Während die alte Denkschrift die Position der Heidelberger Thesen, dass nukleare Abschreckung „noch“ erlaubt sein könne, verabschiedet hatte, konstatiert die neue Denkschrift ein Dilemma: Atomwaffen sind ethisch zwar zu verwerfen, aber der einseitige Verzicht auf nukleare Abschreckung sei „in der jetzigen konkreten politischen Situation wiederum kaum politisch zu vertreten“ (Ziff. 145).
Dabei wird allerdings die These der Komplementarität der Gewissensentscheidungen für oder gegen die Erlaubtheit von Atombewaffnung (These VI) aufgegeben (Ziff. 149). Diese wohl begründete und abwägende Neupositionierung, die ja auch die nukleare Teilhabe Deutschlands berührt, wird gleichwohl für weitere Debatten sorgen (s. Analyse „Nukleare Abschreckung: Was sagt die Friedensethik?“ in der Eule).
Entsprechend der Auffassung, dass es Pflicht eines Staates ist, seine Bürger:innen vor Aggression zu schützen, vertritt die Denkschrift eine ethische Pflicht der Einzelnen, für die Sicherheit des Gemeinwesens Dienst zu leisten. Dies solle vorrangig freiwillig geschehen und nur, wenn es nicht genügend Freiwillige gibt, sollte eine rechtliche Verpflichtung eingeführt werden (Ziff. 163f.).
Hier ist aber nicht nur an den Waffendienst gedacht, sondern es wird übergreifend ein „Recht auf Freiwilligendienst“ im Sinne einer übergreifenden Dienstpflicht gefordert (Ziff. 168f.). In diesem Zusammenhang wird kritisiert, dass schon 17-jährige bei der Bundeswehr, wenn auch ohne Waffen, dienen können. Diese Kritik scheint zu übersehen, dass für Jugendliche, die während ihres Dienstes bei der Bundeswehr eine Ausbildung machen, so Brückenzeiten vermieden oder reduziert werden können.
Die Bibel und der christliche Pazifismus
Angesichts der Position der Denkschrift, militärische Gewalt nicht prinzipiell abzulehnen, ist es überraschend, dass in theologischer Perspektive apodiktisch konstatiert wird, Jesus Christus habe „den vollständigen Verzicht auf Gewalt gelehrt“ (S. 20). Das steht dann allerdings in Spannung mit biblischen Befunden wie in Offenbarung 19, wo Christus selbst als Reiter des weißen Pferds die endzeitlichen Feinde bekämpft, oder den Soldatenbekehrungsgeschichten im Neuen Testament, bei denen den Bekehrten nicht befohlen wurde, ihren Beruf aufzugeben, sondern sich an das Recht zu halten.
Auch in biblischer Perspektive wird man doch vom Ziel der Gewaltminimierung durch deren Bindung ans Recht sprechen können. So formuliert die Denkschrift dann auch in einem anderen Abschnitt, dass das biblische Tötungsverbot „Töten ohne Rechtsgrundlage“ meine (Ziff. 159). Dies scheint biblisch-exegetisch und systematisch-ethisch die angemessene Interpretation zu sein.
Radikaler Pazifismus wird als individuelle Gewissensentscheidung anerkannt und als solche auch geschützt, aber als politische Option wird unbedingter Pazifismus abgelehnt: „Als universale politische Ethik lässt sich der Pazifismus des kategorischen Gewaltverzichts ethisch nicht legitimieren“ (Ziff. 17). Folgerichtig wird auch die Kundgebung der EKD-Synode von 2019 kritisiert, insofern „die Grenzen ziviler Konfliktbearbeitung und die Notwendigkeit einer Ethik der rechtserhaltenden Gewalt abgeblendet wurden“ (Ziff. 18).
Entsprechend wird auch der von den Kirchen in der DDR vertretenen These, dass „der Dienst ohne Waffe das deutlichere Zeichen des Christseins darstelle“ widersprochen (Ziff. 177). Das ist inhaltlich stringent, aber ob es notwendig ist, dies ausdrücklich zu betonen, sei dahingestellt. Möglicherweise könnte es aber der Anstoß sein, die friedensethische Reflexion während des Kalten Krieges in Ost wie West noch konsequenter zu kontextualisieren und zu historisieren.
Ausgehend von der These, dass Jesus absolute Gewaltfreiheit gefordert habe, ist es nachvollziehbar, wenn die Denkschrift in Übereinstimmung mit der Afghanistan-Stellungnahme der EKD von 2013 zu dem Schluss kommt, dass auch Menschen, die in ethisch und rechtlich gerechtfertigter Weise Gewalt anwenden, sich zwangsläufig in Schuld verstricken (Ziff. 48; 49; 159). Dahinter steckt die theologische Figur Dietrich Bonhoeffers zur Schuldübernahme, die er freilich auf die Anwendung nicht legitimierter Gewalt im Kontext des geplanten Attentats auf Hitler bezogen hat.
Mir leuchtet das überhaupt nicht ein und ich finde es auch problematisch, Polizist:innen und Soldat:innen zu sagen: Was ihr tut ist wichtig und richtig, aber ihr werdet auf alle Fälle schuldig, auch wenn ihr alle Kriterien und Regeln beachtet. Unter Ziff. 50 wird allerdings – in Einklang mit der Denkschrift von 2007 – dann vorsichtiger formuliert: „Sie können, theologisch gesprochen, schuldig werden bei der Ausübung ihres Berufes“. Das scheint mir angemessener zu sein, denn die Gefahr, schuldig zu werden, ist bei der Ausübung von Gewalt hoch. So argumentiert auch das Expert:innenpapier „Maß des Möglichen“ der Evangelischen Militärseelsorge von 2023, an dem ich mitgearbeitet habe.
Unentschieden vor dem Drohnenkrieg
Die Passagen der Denkschrift zu Drohnen und „automatisierten und teilautonomen Waffensystemen“ erreichen nicht das Niveau der übrigen Ausführungen. Zum einen wird nicht definiert, was genau damit gemeint ist. Besser wäre es wohl, von autoregulativ zu sprechen, wie es die Friedensethikerin und evangelische Theologin Nicole Kunkel von der HU Berlin empfiehlt. Zum anderen scheint immer noch ein Szenario wie der Drohnenkrieg der USA in Pakistan der Referenzpunkt der Ausführungen zu sein (Ziff. 69f.). Durch Russlands Krieg gegen die Ukraine hat sich sowohl die Kriegführung als auch die Waffentechnologie im Drohnenkrieg jedoch grundlegend verändert. Die Denkschrift kommt zu folgender Einschätzung, die sich schon in der Stellungnahme zum Afghanistaneinsatz 2013 abzeichnete:
„Aufgrund der fehlenden moralischen Urteilsfähigkeit, den mit ihnen verbundenen Eskalationsrisiken, der hohen Missbrauchsgefahr und der Entkoppelung von Mensch und tödlicher Waffe sind autonome Waffensysteme zu verbieten, soweit sie sich menschlicher Kontrolle ihrer Ziele entziehen“ (Ziff. 102; 154).
Aber was ist damit gemeint? In der Fachdebatte wird gerade nicht von Entkoppelung gesprochen, sondern von joint cognitive systems, wenn Mensch und KI zusammenwirken. Und was genau heißt, dass „sie sich menschlicher Kontrolle ihrer Ziele entziehen“? Im Wortsinn bedeutet das, dass das Waffensystem sich aktiv dieser Kontrolle entzieht, also den Gehorsam verweigert. Das ist ein durchaus denkbares Szenario. Aber das ist wohl nicht gemeint, sondern dass keine ausreichende menschliche Kontrolle (meaningful human control) ausgeübt wird. Aber was genau bedeutet das? Dass die Algorithmen kontrolliert werden, oder das einzelne Ziel, oder eine Klasse von Zielen?
Ist es ethisch tatsächlich unzulässig, wenn eine Drohne autoregulativ eine gegnerische Drohne zerstört? Wäre es ethisch unverantwortlich, wenn ein entsprechend programmiertes autoregulatives Waffensystem ohne man-in-the-loop in der Kampfzone einen feindlichen Panzer attackiert? Dass hier Kollateralopfer und friendly fire höher wären als beim Beschuss mit großkalibriger Artillerie aus der Distanz, ist wohl nicht vorauszusetzen.
Hier bietet die Denkschrift eher Anlass zu einer weiteren und präziseren Debatte. Ein Verbot autoregulativer Waffen ist schwer vorstellbar. Man kann die technische Entwicklung nicht rückgängig machen. Erste Versionen sind ja im Einsatz, weitere in der Testphase. Auf Schiffen und bei Flugzeugen werden sie schon lange eingesetzt – wenn auch in der Regel gegen unbemannte Angriffssysteme. Drohnen mit autoregulativen Funktionen werden zunehmend im zivilen Bereich eingesetzt, sie können relativ einfach produziert bzw. umgerüstet werden, sie sind vergleichsweise günstig. Das macht eine Überprüfung fast unmöglich. Entscheidend wird sein, ob sie dem Humanitären Völkerrecht gemäß eingesetzt werden. Ob Zivilist:innen angegriffen werden, ist keine Frage der Waffentechnologie, sondern der Prinzipien der Kriegführung und Einsatzregeln.
Die Krisen der Welt im Blick
Ein weiteres wichtiges Thema der Denkschrift sind die Herausforderungen durch hybride Kriegführung. Hier werden vor allem Probleme beschrieben, ohne dass es einfache Lösungen gebe, um Resilienz zu stärken und mit Angreifenden umzugehen. Und im Schlussteil wird deutlich herausgearbeitet, dass es Gerechten Frieden nur geben kann, wenn zugleich internationale und Klimagerechtigkeit verbessert werden, denn Ungerechtigkeit und Klimakatastrophe können als Konfliktverstärker wirken. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis darauf wichtig, dass Kriege massiv die Umwelt schädigen (Ökozid).
In diesem Kontext wird insbesondere auch auf die Herausforderung durch koloniale Kontinuitäten hingewiesen (Ziff. 120), die es notwendig machen, aktiv für den Ausgleich von Ungerechtigkeit einzutreten. Als normativer Orientierungsrahmen werden übereinstimmend mit der Denkschrift von 2007 die universalen und unteilbaren Menschenrechte betont (Ziff. 35). Freiheit und Menschenwürde bilden dann auch entsprechend das Kriterium für die Grenzen von Pluralität in den internationalen Beziehungen:
„Mit dem Leitbild des Gerechten Friedens ist daher für einen regelgeleiteten Pluralismus in der internationalen Ordnung einzutreten, der unterschiedlichen Kontexten und Wertvorstellungen Raum lassen kann, solange sie Freiheit und Menschenwürde nicht infrage stellen“ (Ziff. 121).
Vor diesem Hintergrund wirkt die Warnung vor „Versuchen, den Gehalt der Menschenrechte zu überdehnen“, etwas erratisch, nachdem zuvor noch ein umfassendes Verständnis von Menschenrechten bestätigt worden war. Freilich wird man nach den ernüchternden Resultaten der Versuche, Menschenrechtsschutz mit militärischen Interventionen zu betreiben, diesen gegenüber kritisch bleiben müssen – ohne sie für extreme Fälle ausschließen zu können. Zum Schluss weitet die Denkschrift den Blick in die weltweite Ökumene, die als wichtige Akteurin für Friedens- und Versöhnungsarbeit angesehen wird (Ziff. 110ff.; 192).
Keine einfachen Antworten
Die neue Friedensdenkschrift der EKD ist im guten Sinne ausgewogen, was auch dem Anspruch entspricht, in der ethischen Urteilsbildung mit Reflexionsgleichgewichten (reflective equilibrium) zu arbeiten (Ziff. 54). Dadurch dass bei den einzelnen Themen zunächst eine Situationsbeschreibung und dann eine abwägende Urteilsbildung erfolgt, die schließlich in Empfehlungen mündet, sowie durch die kurze einleitende und längere abschließende Zusammenfassung stellen die Autor:innen große methodische Transparenz her.
Allerdings ist der Denkschrift deshalb auch eine gewisse Redundanz zu eigen. Hier wäre weniger mehr gewesen. Es ist jedoch gelungen, den Text weitgehend ohne innere Widersprüche zu gestalten: Gegenüber der Friedensdenkschrift von 2007 ein erheblicher Fortschritt. Gleichwohl spürt man dem Text ab, dass unterschiedliche Autor:innen Schwerpunkte setzten, was wiederum zum Umfang beiträgt.
In der Sache ist die Denkschrift „Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick“ nicht nur eine überzeugende und weiterführende Bündelung des gegenwärtigen friedensethischen Diskurses im deutschen Protestantismus, sondern ein wichtiger systematischer Beitrag sowohl zur Ethik des Politischen als auch zur Ethik der Internationalen Beziehungen. Inhaltlich knüpft sie an das Leitbild des Gerechten Friedens von 2007 an, weist aber die Synodenkundgebung von 2019 zurück. Das wird Anlass für weitere Debatten sein, für die die Denkschrift eine vorzügliche Grundlage bietet, denn:
„Die Denkschrift gibt keine einfachen Antworten. Sie lädt zum informierten Durchdenken ein und ermutigt zur verantwortlichen Entscheidung“ (S. 18).
Mehr:
- „Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick. Evangelische Friedensethik angesichts neuer Herausforderungen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland“, PDF-Download
- Michael Haspel in der Eule: „Friedensethik: Wo stehen wir? Und was wurde versäumt?“ (März 2022), „Nukleare Abschreckung: Was sagt die Friedensethik?“ (Oktober 2022) und „Eule-Podcast“ von September 2024: „Was uns Martin Luther King heute bedeuten kann“
- Zu Friedens- und Sicherheitslogik: „Sicherheitslogik und Friedenslogik gehören zusammen: Herausforderungen für die Evangelische Friedensethik durch den Ukraine-Krieg“ von Michael Haspel in evangelische aspekte (Mai 2022), und „Friedens- und Sicherheitslogik zusammen denken“ von Michael Haspel bei praefaktisch (März 2022)
- „Unter den Waffen schweigen die Gesetze?“ – Eule-Artikel von Lukas Johrendt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr Hamburg, über das Recht zum Krieg, im Krieg und nach dem Krieg und das Leitbild des Gerechten Friedens
- „Ein Plädoyer für gerechte Ordnungen und Verhältnismäßigkeit“ – Eule-Artikel von Christian Spieß, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholischen Privat-Universität Linz, über das Friedenswort der Deutschen Bischofskonferenz „Friede diesem Haus“ (2024)
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