Privatsache Missbrauch? – Ein (kirchenrechtlicher) Zwischenruf
Muss die Kirche Schmerzensgeld an Betroffene zahlen, die von Priestern außerhalb ihres Dienstes für die Kirche missbraucht wurden? Am Landgericht Köln wird darüber gestritten, wie weit die Verantwortung der Kirche reicht.
Vor dem Landgericht Köln wird derzeit ein seit längerer Zeit erwarteter Schmerzensgeld-Prozess verhandelt, an dessen Ende die Erzdiözese Köln erneut im Zuge der Amtshaftung zur Rechenschaft gezogen und zur Zahlung einer höheren sechsstelligen Entschädigungssumme verurteilt werden könnte.
Bereits im Jahr 2023 hatte das selbe Gericht einem Opfer in einem ähnlich gelagerten Fall eine Summe in Höhe von 300.000,- Euro zugesprochen. Damals wurde zweifelsfrei festgestellt: Die Kirche haftet von Amts wegen für die Verbrechen, die Kleriker in Ausübung ihres Dienstes begehen.
Am Dienstag dieser Woche hat das Gericht den aktuellen Prozess bis Ende August vertagt. Wie Christina Zühlke für den WDR berichtet und einordnet, zeigt sich das Gericht skeptisch, ob der Priester die ihm übertragene Pflegschaft für die damals minderjährige Betroffene im Rahmen seines Dienstes als Priester übernommen habe: „Das Kölner Landgericht ist nach einer ersten Bewertung der Ansicht, dass der Priester sozusagen als Privatmann gehandelt habe und das Bistum somit nicht zu belangen sei.“ Auf der Klägerin lastet nun der Druck, eine Mitverantwortung des Erzbistums nachzuweisen.
Obwohl das Erzbistum auch diesmal – wie schon in dem früheren Verfahren – auf die sog. Einrede der Verjährung verzichtet hat, scheint die Sache – zumindest auf den ersten Blick – weniger eindeutig. Denn: Das Erzbistum begrüßt als beklagte Partei zwar grundsätzlich die Möglichkeit der juristischen Aufarbeitung, sieht sich selbst aber von vornherein nicht verantwortlich für die Taten des straffällig gewordenen Priesters.
Der Täter habe sein Opfer nämlich zu Hause, im rein privaten Umfeld missbraucht, weshalb eine Amtshaftung in diesem Fall gar nicht erst in Frage komme. Zudem erwartete die zuständige Strafkammer von der klagenden Partei im Vorfeld den dezidierten Nachweis, dass die dem Täter zur Last gelegten Verbrechen in Ausübung des priesterlichen Dienstes begangen wurden.
Was aus verfahrensrechtlicher Sicht angemessen und zur abschließenden Prüfung der Sache notwendig erscheint, fordert auch zur Auseinandersetzung mit dem theologischen und dem kirchenrechtlichen Verständnis des priesterlichen Dienstes in der katholischen Kirche heraus. Und verlangt zugleich Antwort auf ganz konkrete Fragen: Vermag der Priester, wie ihn die katholische Kirche kennt, überhaupt rein privatim zu handeln? Ferner: Gibt es einen nennenswerten und rechtlich bedeutsamen Unterschied zwischen Dienst und Leben des Priesters? Und: Wie weit reichen die haftungsrechtlich relevanten Amtspflichten des Priesters?
Der Priester: Mensch für die Menschen
Die Antwort, die sich aus theologischem Quellenstudium und geltendem Recht der Kirche ergibt, liefert das Erzbistum naturgemäß keineswegs selbst. Es lässt antworten. Und zwar seitens der klagenden Partei, seitens des Opfers. Im Klartext: Das Erzbistum Köln, das sich nach außen hin offen für Aufarbeitung zeigt und das anberaumte Entschädigungsverfahren vorgeblich begrüßt, legt dem Opfer, das so unmenschliches und so schreckliches Leid erdulden musste, die Last auf, dem Täter nachzuweisen, nicht bloß privat, sondern in Ausübung seiner dienstlichen Pflichten als Priester gehandelt zu haben. Wie aber kann das geschehen?
Ein ganz kurzer Blick in die Konzilsakten des II. Vatikanums und einschlägige päpstliche Lehrschreiben der Nachkonzilszeit dürfte erhellend wirken, zumindest in theologischer Hinsicht. In den Dekreten und Konstitutionen des Konzils, insbesondere in Optatam totius und in Presbyterorum ordinis sowie in Lumen gentium erfährt man Wesentliches über das theologische Verständnis der katholischen Kirche vom Priestertum. Mit Nachdruck betonen die Konzilsväter die Väterlichkeit des Priesters und den Dienstcharakter seines Amtes.
Sie verdeutlichen auf eindrückliche Weise, worin seine Autorität und der Anspruch seines Dienstes bestehen; allein die treue Erfüllung der ihm anvertrauten Aufgaben durch mustergültige und vorbildliche Lebensweise (vgl. 1 Petr 5,3), allein die stete Verwirklichung der Liebe Christi im und durch das eigene Leben und Wirken lässt im Priester das aufleuchten, was er ist und sein soll, Sakrament Christi nämlich. Amt, Dienst und Leben der Priester bilden demnach eine Einheit, lassen sich nicht einfach voneinander scheiden; die Lebensweise des Priesters und die seines Dienstes sind bedeutsam für den Aufbau des Leibes Christi (vgl. LG 28; PO 15 und 22). Was das Konzil lehrt, bestätigt auch das Direktorium für Dienst und Leben der Priester.
Der Priester sei, so brachte es Joseph Ratzinger einst auf den Punkt, „Mensch für die Menschen […], von Gott her“, „Diener des Geschöpfseins, des Menschseins, der uns über die Zerspaltung des Lebens zusammenführt in die erbarmende Liebe Gottes, in die Einheit des Leibes Christi hinein“. Theologisch gesehen ist die Sache also klar: Die Priester sind – wie es Papst Johannes Paul II. in dem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Pastores dabo vobis ausdrückte –, „in der Kirche und für die Kirche eine sakramentale Vergegenwärtigung Jesu Christi“, nicht wegzudenken, in ihrem Sosein ganz und gar in die kirchliche Sendung hineingenommen, mit Geist und Verstand, mit Haut und Haar. Wer einmal gültig geweiht wurde, wer Priester ist, der bleibt es, und zwar jederzeit, mag er eines Tages auch aus dem klerikalen Stand ausscheiden.
Stets im Dienst?
Doch, so bleibt zu fragen, verfängt diese theologische Erkenntnis auch in rechtlicher Hinsicht? Lässt sie wirklich auf eine allumfassende dienstliche Verantwortung des Priesters und infolgedessen auf eine immerwährende Haftung der Kirche für jegliches schuldhaftes Tun ihrer Kleriker hindeuten, wie manche meinen?
Bedenkt man, dass die Kirche einen Unterschied zwischen Amt, Dienst und Leben der Priester macht, wird man dem Priester einen eigenen, einen eher privaten Bereich höchstpersönlicher Lebensführung wohl nicht absprechen können, nicht völlig jedenfalls. Denn nicht jede Handlung des Priesters, die er im Alltag verrichtet, ist zugleich heilige Handlung oder Dienst in Ausübung des Amtes.
In den allzu menschlichen Situationen seines eigenen Daseins bleibt der Priester – wie es theologisch völlig zweifelsfrei ist – zwar immer auch Priester, jedoch wird man ihm nicht zu jeder Zeit, nicht 24/7, die Bereitschaft zum seelsorglichen Dienst unterstellen dürfen. Schlafen, Einkaufengehen, Urlaub als Ausdruck des priesterlichen Dienstes? Absurd! Dass die diözesanen Gesetzgeber den Priestern in Anknüpfung an universalkirchliches Recht (vgl. c. 283 § 2 CIC/1983) im Rahmen eigener Ordnungen freie Tage und Urlaub einräumen, zeigt, dass auch sie Zeiten für sich in Anspruch nehmen dürfen, in denen sie sich erholen können und sollen. Für die Amtshaftung kommt es auf den dienstlichen Bezug der priesterlichen Handlungen an, auf Handeln in Ausübung des Amtes, außerdem auf die schuldhafte Verletzung einer drittschützenden Amtspflicht.
Der priesterliche Dienst als „Manifestation der Liebe Christi“
Wie ist das im vorliegenden Fall? Wie verhält es sich mit dem Priester, der mit oberhirtlicher Genehmigung minderjährige Personen in seine Obhut nimmt und sie später in seiner Wohnung mehrfach missbraucht? Die Antwort fällt nicht leicht. Man wird sich seitens des Gerichtes auch in diesem Fall Art und Umstände der Taten sehr genau ansehen müssen, um am Ende beurteilen zu können, ob es sich um die Verletzung dienstlicher Pflichten handelte oder nicht.
Für eine Amtspflichtverletzung und die entsprechenden haftungsrechtlichen Konsequenzen spricht jedenfalls, dass der Täter – um nicht als „Konkubinarier“ verdächtigt zu werden – einer eigenen Erlaubnis seines Ortsordinarius bedurfte, mit einer weiblichen Person zusammenleben zu dürfen (vgl. c. 133 § 2 und 3 CIC/1917). Überdies musste man ihm im Vorfeld gestattet haben, eine mit Rechenschaftspflicht und hoher moralischer Verantwortung verbundene Pflegschaft überhaupt übernehmen zu dürfen (vgl. c. 139 § 3 CIC/1917; heute: c. 285 § 4 CIC/1983).
Dem kirchlichen Gesetzgeber war und ist es also nicht egal, was der Priester jenseits seiner mit einem ganz bestimmten Dienst verbundenen Aufgaben tat und tut. Überdies wird man nicht vergessen dürfen, dass die priesterliche Sendung weiterreicht als die übliche Stellenbeschreibung des Ordinariates. Maßgeblich zur Beurteilung der dienstlichen Pflichten bleibt das theologische Fundament, das dem Priester nicht nur ein tadelloses Leben, nicht nur die Erfüllung der übernommenen Standespflichten, sondern auch den Dienst nach dem Beispiel des Herrn abverlangt; als Brüder haben die Priester die übrigen Gläubigen der Kirche „in Christi Autorität […] durch Lehre, Heiligung und Leitung so [zu] weiden, dass das neue Gebot der Liebe von allen erfüllt wird“ (LG 32).
Ist der, dem die Sorge um Pflegekinder mit bischöflichem Placet anvertraut wird, etwa nicht zur getreuen Ausübung dieses Amtes angehalten? Ist er nicht verpflichtet, diesen seinen Dienst nach dem Willen und Beispiel Christi zu erfüllen? Will sein Tun nicht Ausdruck jenes priesterlichen Daseins sein, das sich der Hirtensorge und dem Heil der Seelen vollumfänglich verpflichtet weiß?
Das Direktorium für Dienst und Leben der Priester hält jedenfalls unmissverständlich fest, dass der priesterliche Dienst immer „Manifestation der Liebe Christi“ sein muss, die bis „zur eigenen Ganzhingabe für die Herde, die ihm anvertraut wurde“, reicht. Das Leben in Nachahmung der Hirtenliebe Jesu ringt dem Priester vielerlei Opfer ab, weil es „nicht im Improvisieren besteht, noch ein Pausemachen oder ein ein-für-allemal Erreichthaben kennt“ (vgl. ebd., 43). Das Amtspriestertum nur in der Ausübung bestimmter Funktionen sehen zu wollen, käme einer völligen Sinnentleerung gleich, der Verwirklichung einer Mentalität, die „irrigerweise dazu neigt, das Amtspriestertum lediglich auf die funktionalen Aspekte zu reduzieren“ (vgl. ebd., 44).
Schutz der Institution oder Verantwortungsübernahme?
Am Ende wirkt es so, als wolle das Erzbistum eine eigene Verantwortung abstreifen, dem Täter die alleinige Schuld an den begangenen Taten zuschieben und das Opfer damit allein zurücklassen. Es strebt danach, dass die Klage zurückgewiesen wird, will mit der Sache also im Grunde nichts zu tun haben. Warum? Wahrscheinlich aus finanziellen Gründen und – wen wundert’s? – zum Schutz der Institution.
Die Verantwortlichen wissen nur zu gut, dass zwischen privatem und dienstlichem Handeln des Priesters ein Unterschied besteht, der in künftigen Verfahren, in denen es um die Amtshaftung einzelner Diözesen geht, eine entscheidende Rolle spielen könnte. Eine Rolle, die deutsche Diözesen viel, sehr viel Geld kosten könnte. Es wäre jedoch fatal, ließe sich die deutsche Rechtsprechung vom Unwillen deutscher Diözesen oder der Kaltschnäuzigkeit serviler Juristen in deren Dienst beeindrucken.
Klar ist nämlich auch: Privates Handeln des Priesters lässt sich zwar nicht völlig verneinen, in den meisten Fällen sexuellen Missbrauchs wird man aber sehr wohl davon ausgehen dürfen, dass beschuldigte Kleriker im Dienst unter Ausnutzung ihrer Stellung und des Vertrauens, das man ihnen allein aufgrund ihres priesterlichen Daseins geschenkt hat, gehandelt haben.
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