Religiöses Trauma: Die Schattenseite des Glaubens

Von geistlichem Missbrauch betroffene Menschen begeben sich auf einen langen Weg der Heilung. Werden Christ:innen den Blick auf die Schattenseiten ihres Glaubens wagen?

Ben ist angestellt in einem anerkannten christlichen Werk, als sein Glaube durch mehrere Erlebnisse in eine Krise gerät. Immer mehr bekommt er Zweifel an den missionarischen Aktivitäten seiner Organisation und damit auch am Sinn seiner Tätigkeit. Als er sich Freunden aus seinem christlichen Umfeld anvertraut, begegnen ihm Misstrauen und Widerstand.

„Die Beziehungen waren von jetzt auf dann plötzlich sehr komisch. Ich fühlte mich nicht mehr sicher. An meinem Arbeitsplatz habe ich noch mit niemandem darüber gesprochen. Jeder Tag ist ein Spießrutenlauf, vieles stört mich zunehmend, eigentlich müsste ich kündigen, aber ich weiß nicht, wie ich es begründen soll. Wenn ich mich oute, verliere ich nicht nur meinen Arbeitsplatz, sondern auch viele wertvolle Beziehungen. Wenn ich es nicht tue, verliere ich mich. Ich mag die Menschen dort. Aber ich weiß, wie sie reagieren würden, wenn sie wüssten, wie ich heute über den christlichen Glauben und die Arbeit der Organisation denke. Ich weiß es, weil ich selbst so gedacht und geglaubt habe. Ich fühle mich wie in einer Falle.“

Ben, 38, Mediengestalter


Tabea hat als Kind schon einmal erlebt, dass ihre Eltern die Gemeinde wechselten. Damals war sie acht und verlor von heute auf morgen alle ihre Spielkameraden. In die neue Gemeinde wächst sie langsam wieder hinein, findet neue Freunde. Sie singt jahrelang im Musikteam, was ihr viel Freude macht. Dann spaltet sich die Gemeinde aufgrund von theologischen Differenzen. Auch wenn Tabea nur am Rande mitbekommt, worum es geht und es sie auch nicht sonderlich interessiert, kommen ihr Zweifel an den christlichen Lehren. Als sie sich dem Pastor anvertraut, organisiert der ein Team, das für Tabea betet.

„Sie haben gesagt, die Zweifel kommen vom Teufel. Es ist eine Prüfung, die ich bestehen muss. Sie haben auch gesagt, ich sei rebellisch, und wenn ich nicht aufpasse, dann ergreifen dämonische Mächte von mir Besitz. Nachts wache ich manchmal schweißgebadet auf, weil ich Angst vor dem Teufel und Dämonen habe. Was ist, wenn sie recht haben? Ich habe die Gemeinde verlassen, weil ich es nicht mehr aushalte, aber ich wohne noch zuhause. Meine Mutter fängt immer wieder laut zu beten an, wenn ich in der Wohnung bin. Ich weiß, dass sie es wegen mir tut. Ich weiß auch, dass sie es gut meint. Sie kann nicht verstehen, dass man auch anders glauben kann. Ich bin kein schlechter Mensch, aber ich fühle mich böse, weil ich kein Christ mehr sein will. Am schlimmsten ist, dass meine Mutter mich für verloren hält. Ich vermisse die unbeschwerte Zeit mit ihr und habe das Gefühl, ich habe alles zerstört und bin schuld, dass sie sich wegen mir Sorgen macht. Mein Vater sagt, ich komme jetzt in die Hölle. Mein Freund ist nicht gläubig, aber er ist der einzige, bei dem ich sein kann, wie ich bin. Meine Eltern sagen, er ist schuld, dass ich nicht mehr in die Gemeinde gehe. Ich kann nicht mehr singen ohne zu weinen.“

Tabea, 25, Studentin


Nele kommt erst als Jugendliche zum Glauben. Eine Freundin nimmt sie mit in einen Anbetungsgottesdienst. Nele begeistert die moderne Musik und professionelle Darbietung, vor allem aber die Ernsthaftigkeit der jungen Menschen. Die herzliche Atmosphäre berührt sie. „Wenn das stimmt mit Jesus, dann will ich alles für ihn investieren“ erinnert sie sich. Sie liest jeden Tag in der Bibel, engagiert sich in der Gemeinde und besucht eine Bibelschule. Dann absolviert sie im Rahmen ihres Studiums ein Auslandspraktikum in Israel. Die Begegnung mit Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen, aber auch die Gemeinschaft mit säkular geprägten Gleichaltrigen bringt sie ins Nachdenken über ihren eigenen Glauben und die Lehre ihrer Gemeinde.

Zurück in Deutschland fühlt sie sich in den Gottesdiensten fremd. Dann erhält sie eine lange E-Mail von ihrer besten Freundin: „Sie hat geschrieben, dass sie enttäuscht von mir ist und ich nicht mehr ihre Glaubensschwester bin. Ich soll auch nicht mehr in die Gemeinde kommen, weil ich die Leute verunsichere. Es war für mich wie ein Schock. Ich habe Angst, Leuten aus der Gemeinde auf der Straße zu begegnen. Ich weiß nicht, was sie alles über mich reden. Meinen Eltern habe ich nicht viel erzählt, nur dass ich da nicht mehr hingehe. Sie fanden das sowieso nicht gut. Aber sie verstehen auch nicht, warum es mir damit jetzt so schlecht geht. Ich versteh es selbst nicht.“

Nele, 29, Architektin


Ben, Tabea und Nele (Namen geändert) haben alle eines gemeinsam: Sie leiden an einem religiösen Trauma. Zu dem Zeitpunkt, an dem sie zu mir in psychologische Beratung kommen, haben sie das Schlimmste schon hinter sich und wieder einigermaßen Boden unter den Füßen. Sie möchten verstehen, was mit ihnen passiert ist. Sie leiden vor allem unter belasteten oder zerbrochenen Beziehungen und suchen einen Weg, damit umzugehen.

In den vergangenen Jahren haben vor allem im Bereich der katholischen Kirche Missbrauchsfälle und deren zögerliche Aufarbeitung Schlagzeilen gemacht. Hier ging es in erster Linie um sexuellen Missbrauch oder andere körperliche Gewalt. Auch ohne körperliche Übergriffe sprechen wir von geistlichem Missbrauch, wenn im religiösen Umfeld Menschen mit Hilfe biblischer Aussagen, theologischer Inhalte oder religiöser Praktiken manipuliert und unter Druck gesetzt werden. Dies geschieht schneller als gedacht, oft unbeabsichtigt oder nach bestem Wissen und Gewissen.

Nicht immer kommt es zu Traumafolgen. Umgekehrt kann sich ein Religiöses Trauma auch entwickeln, ohne dass ein konkretes Missbrauchsgeschehen vorliegt. Die Ursachen liegen allenfalls im kirchlichen System oder der christlichen Lehre an sich. Religiöses Trauma ist eine besondere Herausforderung für christliche Seelsorger und Therapeuten, aber auch für alle, denen persönlicher Glaube und Gemeindeleben wichtig sind: Wie kann es sein, dass gerade das, was mir Halt gibt, anderen so großen Schmerz bereitet?

Wenn Glaube sich verändert

Falls sie nicht schon in sie hineingeboren wurden, schließen sich Menschen aus unterschiedlichen Gründen religiösen Gemeinschaften an. Sie möchten sich z. B. sozial engagieren, gemeinsame Werte teilen oder auch Hilfe in einer Lebenskrise erhalten. Oft fühlen sie sich von einer liebevollen Gemeinschaft angezogen und weniger von den dort herrschenden Lehrmeinungen oder Moralvorstellungen. Genau diese sind es aber, die irgendwann innere Kämpfe auslösen und nicht selten als Messlatte der Zugehörigkeit angelegt werden. Denn Dogmen sind starr, Menschen aber verändern sich – durch Bildung, durch Begegnung, durch Erfahrung.

​Leben unterliegt einem ständigen Wandel, auch spirituelles Denken und Erleben ist dynamisch und sehr individuell. Besonders in Zeiten persönlicher Lebenskrisen, aber auch in allen normalen menschlichen Entwicklungsphasen, kann ein erhöhtes Bedürfnis entstehen nach einfachen Antworten auf sehr komplexe Fragen. Das ist oft der Zeitpunkt, an dem sich Menschen bekehren oder einer Glaubensgemeinschaft anschließen.

Andererseits kommen in Zeiten von Leid, Verlusterfahrung und Lebensumbrüchen bisherige Glaubens- und Denkmuster ins Wanken. Das erzeugt gedankliche Widersprüche (kognitive Dissonanz) und führt zu Konflikten mit dem bisherigen sozialen System.

Das stille Trauma

Glaubenszweifel können Menschen stark erschüttern. Je fester sie vorher geglaubt haben, je engagierter sie für diesen Glauben gelebt haben, je stärker sie in Kirchen und Gemeinden integriert waren, umso einschneidender sind die Auswirkungen auf Identität und Selbstwertgefühl. Geliebte Aufgaben und die Rolle in der Gemeinschaft sind bedroht, manchmal sogar die berufliche Existenz.

Besonders wenn in der Kindheit ein destruktives Gottes- oder Menschenbild verinnerlicht wurde, kann dies große innere Nöte verursachen. Ein Hinterfragen dieser Bilder wird oft von Ängsten und Schuldgefühlen begleitet. Auch die Furcht vor der Reaktion der Mitgläubigen ist groß. Infolge dessen ziehen sich viele innerlich oder äußerlich zurück. Die Tragik dabei: Menschen, die bis dahin in eine Gemeinschaft eingebunden waren, verlieren gerade dann ihr soziales Netz, wenn sie es am dringendsten bräuchten.

Zweifel sind in vielen religiösen Kreisen nur willkommen, solange sie lediglich ein „Durchgangsstadium“ darstellen auf dem Weg zu einem noch festeren Glauben. Dass Zweifel auch aus langjährigen Überzeugungen herausführen können, ist nicht vorgesehen. Solche Wege bedrohen die Gemeinschaft und den Glauben der übrigen Mitglieder. Folgen davon sind ängstlich vermeidende und unbeholfene Reaktionen der Glaubensgeschwister oder endlose Diskussionen und gut gemeinte, aber übergriffige Missionierungsversuche. Noch problematischer sind direkte oder indirekte Ermahnungen von Seiten der Gemeindeleitung oder drastische Konsequenzen wie der Entzug von Aufgaben, öffentliche Bloßstellung oder Gemeindeausschluss. Aus Angst vor solchen Szenarien (sog. Ausstiegsphobie) entscheiden sich nicht wenige dazu, sich niemandem anzuvertrauen. Auch dieses Stummbleiben kann massive innere Spannungen erzeugen. Es ist eine besonders schmerzhafte Einsamkeit, inmitten von geliebten Menschen nicht authentisch sein zu können.

Nicht immer sind Glaubenszweifel die Auslöser eines religiösen Traumas. Manchmal sind sie erst die Folge von erlebtem Missbrauch oder der Beobachtung, dass verkündete Werte nicht mit tatsächlichem Verhalten übereinstimmen. Auch jahrelange Diskussionen um theologische Themen, das Bibelverständnis und Streitigkeiten bezüglich sexueller Orientierung, Geschlechterrollen, Musik- und Frömmigkeitsstilen können Kirchen- und Gemeindemitglieder über Generationen hinweg belasten, wobei immer wieder Menschen „unter die Räder kommen“, dem Druck nicht standhalten, Freundschaften zerbrechen oder existentielle Glaubenskrisen ausgelöst werden.

​Wie wirkt sich Religiöses Trauma aus?

Religiöses Trauma ist in erster Linie ein soziales Trauma, das tiefgreifende Spuren im Beziehungsnetz hinterlässt. ​Im Gegensatz zum Ausstieg aus anderen Ideologien oder sozialen Gruppen kommt hier noch eine spirituelle Dimension dazu. Das heißt, einem Zweifelnden oder „Abtrünnigen“ wird im Extremfall nicht nur die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft entzogen – wie etwa beim Austritt aus einer Partei oder Sportverein – sondern oft auch die Nähe und Erfahrung göttlicher Gegenwart und ein Leben in einer wie auch immer gedachten Ewigkeit abgesprochen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Person sich selbst noch als gläubig bezeichnet oder nicht. Selbst wenn der Betroffene nicht oder nicht mehr an solche Vorstellungen glaubt, können entsprechende Aussagen tiefe emotionale Verletzungen verursachen bis hin zu psychosomatischen Reaktionen.

​Die Symptome des Religiösen Traumas ähneln zunächst denen des posttraumatischen Belastungssyndroms: Überwältigende Erinnerungen (Flashbacks), Übererregtheit, Schlafstörungen, depressive Verstimmungen, Konzentrationsstörungen, Schreckhaftigkeit und erhöhte Wachsamkeit. Dazu kommt eine bewusste oder unbewusste Vermeidung von traumabezogenen Aktivitäten und Situationen, z. B. das Besuch von Gottesdiensten, Singen oder Bibellesen.

Speziell bei religiösem Trauma fallen zusätzlich einige Besonderheiten auf wie Schwierigkeiten oder Ängste beim kritischen Denken. Betroffene neigen zu einem negativen Selbstbild, leiden unter massiven Scham- und Schuldgefühlen und halten sich für schwierig, rebellisch oder nicht gemeinschaftsfähig, nur weil sie Traditionen und Dogmen hinterfragen.

Missbräuchliche Erfahrungen mit christlichen Leitern oder Eltern führen oft zu Misstrauen gegenüber Führungspersonen, das nicht selten auch auf Seelsorger und Therapeuten übertragen wird. Gleichzeitig besteht die Neigung, sich immer wieder neu auf die Suche nach „Gurus“ und vermeintlichen Heilsbringern zu begeben und Menschen oder Gruppen zu idealisieren, die Orientierung versprechen. Die Tendenz zur Hörigkeit kann religiös geprägte Menschen auch anfällig machen für Missbrauch im Rahmen von Psychotherapien.

Hat sich das Leben schon als Kind vorwiegend in einer religiösen Gemeinschaft abgespielt, zeigt sich manchmal eine gewisse soziale Unbeholfenheit und Spätentwicklung. Viele Betroffene tun sich schwer, mit den Widersprüchlichkeiten und der beängstigenden Realität dieser Welt umzugehen. Ebenfalls zeigen sich Entscheidungsschwierigkeiten aus Angst vor menschlicher oder göttlicher Missbilligung. Auffällig ist auch der Drang, sich erklären und Gedanken offenlegen zu müssen. Wohl ein Vermächtnis der in vielen Gemeinden gepflegten „Oversharing – Kultur“, also der gutgemeinten Praxis, sich in Kleingruppen und Zweierschaften oder vor der ganzen Gemeinde sehr persönlich mitzuteilen, sich ins Leben zu sprechen, zu ermutigen und zu ermahnen, ohne dass vertrauensvolle Freundschaften vorliegen.

Am schmerzhaftesten aber sind die vielfältigen Beziehungsabbrüche. Gerade in familiär geprägten Kirchen und Gemeinden entstehen über die Jahre tiefe zwischenmenschliche Bindungen. Diese beruhen oft weniger auf direkter Sympathie als auf der speziellen Atmosphäre und Gruppendynamik: Häufiges gemeinsames Singen insbesondere romantischer Melodien und Inhalte, ein gemeinsamer Auftrag, ein Gefühl von Auserwähltsein, Abgrenzung gegen „die Welt“, Zugehörigkeit zu „einem Herrn“ und der schon erwähnte Austausch teils sehr intimer Details aus dem Privatleben, aber auch hierarchische Strukturen oder Abhängigkeiten gegenüber Seelsorgern und Pastoren schaffen einerseits ein stabiles soziales Netz, aus dem zu lösen jedoch einen heftigen Trauerprozess in Gang setzt, der mitunter einem Entzug gleicht. Noch dramatischer ist es, wenn gleichzeitig auch verwandtschaftliche oder innerfamiliäre Beziehungen betroffen sind.

Wohin? Das Therapeuten – Dilemma

Allen Betroffenen gemeinsam ist ein oft bodenloses Gefühl von Einsamkeit und große Scham, sich anderen anzuvertrauen oder professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wird Religiöses Trauma aber verdrängt oder bagatellisiert, kann es zu Verbitterungsgefühlen kommen. Das Erlebte wird nicht gesehen, kann nicht geteilt werden, die Wunde eitert, die christliche Welt versteht nicht – und die Welt da draußen sowieso nicht.

​​Traumatherapie ist mittlerweile in Deutschland fest etabliert, auch wenn es immer noch schwierig ist, zeitnah einen Therapieplatz zu bekommen. Menschen mit Religiösem Trauma haben es in dieser Hinsicht noch schwerer: Hat eine Therapeutin oder ein Berater selbst einen christlichen Hintergrund, auch wenn diese(r) sich für aufgeschlossen, fachlich neutral und theologisch liberal hält, besteht die Gefahr einer Retraumatisierung.

Kennen sich Beratende in der Dynamik religiöser Gruppen oder spezifisch christlichen Lehre nicht aus, fühlen sich Hilfesuchende oft nicht verstanden. Zwischen „Vielleicht probieren Sie es einfach einmal mit einer anderen Gemeinde“, „Gott liebt sie trotzdem“ und „Wieso sind Sie eigentlich nicht schon früher ausgestiegen?“ kann Klienten vieles zutiefst verunsichern. Hier braucht es Fachleute, die beides kennen, das „christliche Land“ und die „Welt draußen“ – oder am besten solche, die überhaupt nicht in solchen Kategorien denken.

Ein langer Weg der Heilung

​Eine langjährige religiöse Überzeugung oder Gemeinschaft zu verlassen, ist sehr schmerzlich. Mühsam muss gelernt werden, neue Kontakte aufzubauen, zu den eigenen Werten (zurück) zu finden und verletzende Erfahrungen zu verarbeiten.

​Wie bei jedem Trauma braucht es Orte der Ruhe und des Verstehens. Beziehungsaufbau steht in einer Therapie an erster Stelle. Auch überflutende Emotionen regulieren zu lernen, ist wichtig. Erst dann kann – wenn gewünscht – eine Auseinandersetzung mit theologischen Fragen stattfinden: Was kann oder will ich noch glauben? Denken im geschützten Raum. Meiner Erfahrung nach haben die meisten Ratsuchenden diese Themen allerdings schon allein für sich geklärt, was durchaus auch Sinn macht – geht es doch auch um ein Mündigwerden.

Viel drängender sind Fragen wie: Welche Beziehungen will oder kann ich behalten? Wie gehe ich mit Triggersituationen, dem Verlust der Zugehörigkeit und Kontaktabbrüchen um? Therapie für Religiöses Trauma muss einen Ort bieten, an dem der betroffene Mensch Trauer-, Wut-, Angst- und Schuldgefühle zulassen und aussprechen darf, ohne Gefahr zu laufen, erneut verurteilt oder bekehrt zu werden. Es versteht sich von selbst, dass hier spirituelle Elemente wie Gebet, Bibelverse oder religiöse Rituale mit absoluter Vorsicht und nur nach Absprache mit dem Klienten genutzt werden dürfen. Auch die Entscheidung, sich ganz vom Glauben zu verabschieden, darf getroffen werden.

Grenzen und Chancen in der christlichen Welt

Für Christen, die seelsorgerlich oder therapeutisch tätig sind, ist eine solch ergebnisoffene Begleitung eine echte Herausforderung. Ihr persönlicher Glaube ist in ihrem Leben eine große Ressource und tragfähiger Boden. Vielleicht sind sie angestellt in einer kirchlichen Organisation und dadurch einem Bekenntnis verpflichtet, und sei es noch so offen und liberal formuliert. Aus diesem Grund werden sie eher selten von religiös traumatisierten Menschen aufgesucht, zu schmerzhaft ist jede Berührung.

Zu den jeweiligen Gemeinden reißt der Kontakt oft ab. Das ist verständlich aber auch schade, denn gerade Christen, die sich um eine liebevolle und offene Atmosphäre bemühen, sind selbst wie vor den Kopf gestoßen, wenn ein jahrelang aktives und geschätztes Mitglied seine Überzeugungen ändert oder die Gemeinschaft aufgrund eines Geschehens verlässt, das oft von einem Tabu umgeben ist und keiner so recht weiß, was eigentlich passiert ist.

Religiöses Trauma entsteht dann manchmal sogar auf beiden Seiten und lässt hier wie dort verunsicherte, ratlose, verletzte Menschen zurück. Gesprächsversuche scheitern, Worte werden missverstanden oder triggern, Vorurteile trennen und die Furcht vor weiterer Ablehnung verhindert unbeschwerte Begegnungen. Nicht selten werden Traumabetroffene durch das Erlebte von einer immensen Wut erfasst. In Gesprächen äußern sie sich zynisch, sarkastisch und wirken unversöhnlich und bitter, was die Kommunikation zusätzlich erschwert.

Heilung kann meist nur durch konsequente Abstinenz des verursachenden Systems erfolgen. Annäherungsversuche von gläubiger Seite haben oft Verhörcharakter („Was glaubst du eigentlich noch?“, „In welche Gemeinde gehst du jetzt?“) oder werden als solche empfunden. Je bekenntnisorientierter eine Gemeinde, desto schwieriger der gemeinsame Weg. Kaum jemand kann sich auch nur annähernd vorstellen, was es bedeutet, sein bisheriges Glaubensfundament radikal zu verändern und dadurch den Verlust seiner geistlichen und sozialen Heimat zu riskieren. Selten ist von frommer Seite wirkliches Interesse da, den anderen in der Tiefe zu verstehen oder gar der Mut, eigene Zweifel und Fragen auszusprechen.

Als Begleiterin von Menschen mit Religiösem Trauma denke ich oft an ein Zitat des südafrikanischen Geistlichen und Menschenrechtsaktivisten Desmond Tutu: „Wir dürfen nicht nur Menschen aus dem Fluss fischen, wir müssen auch stromaufwärts gehen und herausfinden, warum sie hineinfallen.“ Die christliche Landschaft steht vor großen Veränderungen, auch wenn viele die Augen noch davor verschließen. Menschen mit religiösem Trauma gab es schon immer. Manche von ihnen sind durchaus bekannt wie Martin Luther oder Friedrich Nietzsche. Neu ist die Möglichkeit der Vernetzung im Internet, wodurch die Dynamik eine enorme Beschleunigung erfahren wird.

Religiöses Trauma ist nicht nur eine seelsorgerlich-therapeutische Herausforderung, sondern auch eine theologische. Werden Christen den Blick auf die Schattenseite ihres Glaubens wagen? Dazu braucht es Mut und Ehrlichkeit, sichere Zweifelräume auf neutralem Boden, wo Menschen sich öffnen können und laut denken ohne Angst vor Konsequenzen. Spielerische Neugier und kreative Spiritualität. Auch Information über psychologische und soziologische Zusammenhänge. Seelsorgerlich geschulte Menschen. Vor allem aber braucht es Barmherzigkeit, Mitgefühl und ein offenes Ohr füreinander.


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