Schluss mit Kidsshaming!

Auf Instagram und TikTok wird über Kinder gelacht, die von ihren engsten Bezugspersonen beschämt werden. Kidsshaming ist in Deutschland Alltag. Das muss aufhören!

Ein Kleinkind nimmt sich eine Zwiebel aus dem Obstkorb, weil es denkt, sie wäre ein Apfel. Seine Mutter erklärt mehrmals, dass es eine Zwiebel und eben kein Apfel ist. Das Kind möchte das nicht glauben. So nimmt eine Geschichte ihren Lauf,  die sich Millionen von Menschen angeschaut haben: Die Mutter lässt das Kind den vermeintlichen Apfel essen, dem kleinen Menschen laufen dabei Tränen übers Gesicht. Als Zuschauer:in weiß ich dabei nicht, ob vor Schmerz oder „nur“ von der Zwiebel. Die Mutter filmt das Ganze, stellt es ins Netz und die Szene geht viral. Das Video wurde mir seither tausendfach in meine Timeline gespült, weil sehr viele Menschen das offenbar unglaublich witzig finden. Oder – wie u.a. die Münchener Abendzeitung kommentiert: „Putzig!“

Ich konnte damals nicht lachen und kann es heute nicht. Nicht über das Zwiebel-Video und nicht über die unzähligen weiteren Videos, in denen Kinder beschämt, lächerlich gemacht oder in für sie sehr intimen Situationen gefilmt und ins Netz gestellt werden. Auf TikTok oder Instagram finden sich zum Beispiel Videos von Eltern, die einen Anruf bei der Polizei faken, weil ihre Kinder zu laut waren. Den vor Angst weinenden Kleinen erzählen sie dann, sie hätten eine letzte Verwarnung bekommen, beim nächsten Mal gehe es „ab ins Kindergefängnis“.

Eine Mutter filmt sich und ihre Kinder dabei, wie sie ihnen ein Glas mit Strohhalm hinhält, doch statt sie durch diesen trinken zu lassen, steckt sie ihnen ihren Finger in den Mund und lacht sich dabei kaputt. Doch es geht vom Niveau her auch noch viel, viel tiefer! Das zeigt der Trend der „Nutella-Pranks“. In diesen Videos beschmieren Eltern ihre kleinen Kinder mit Nuss-Nougat-Crème und erzählen ihnen, es sei … nun ja, ihr könnt es euch denken! Die Kinder ekeln sich fürchterlich, weinen zum Teil und bitten panisch darum, dass die Eltern sie abputzen. Die Eltern jedoch filmen lieber und amüsieren sich großartig.

Solche Videos generieren im Netz unfassbar viele Klicks und Likes und eine erschreckend hohe Zahl von erwachsenen Menschen findet sie offenbar lustig. Lassen wir uns das mal auf der Zunge zergehen: Hunderte, tausende, manchmal zehntausende Menschen finden es lustig, dass Kinder beschämt werden, dass ihnen Angst gemacht wird, dass sie in eine peinliche Situation gebracht werden, dass man sie verarscht, dabei auch noch filmt und danach wortwörtlich der ganzen Welt in ihrer misslichen Lage präsentiert!

Hunderte, tausende, manchmal zehntausende Menschen finden es lustig, dass das nicht irgendjemand mit diesem Kind macht – was schlimm genug wäre –, sondern der eigene Vater oder die eigene Mutter. Hunderte, tausende, manchmal zehntausende Menschen finden es lustig, dass die engsten Bindungspersonen das Vertrauen ihrer Kinder missbrauchen, sie einschüchtern, erschrecken, ihr kleines Nervensystem in eine Ausnahmesituation bringen – und das Ganze der Welt zur Belustigung zur Verfügung stellen!

Kinder beschämen: Ein Volkssport

Man stelle sich vor, was los wäre, wenn irgendeine andere marginalisierte Gruppe (oder ein „Flugzwerg“ aus dem Mittelstand) das über sich ergehen lassen müsste. Wir hätten einen lauten Aufschrei! Öffentliche Entschuldigungen und Distanzierungen müssten folgen. Man würde solchen Menschen auf den Social-Media-Plattformen sofort entfolgen und alle Mutuals auffordern, es einem gleich zu tun. Journalist:innen, die unkritisch über solche Pranks gegen Minderheiten berichtet oder sie mit der Einordnung „putzig“ geteilt hätten, müssten um ihren Job fürchten! Twitter wäre tagelang im Ausnahmezustand. Zurecht! Die Würde des Menschen ist unantastbar und sie wird definitiv verletzt, wenn Hilflosigkeit und argloses Vertrauen von Menschen ausgenutzt werden, um sich über sie lustig zu machen und sie öffentlich vorzuführen.

Blöderweise scheinen Kinder noch immer nicht selbstverständlich in die Kategorie „Mensch“ zu fallen. Kinderpranks – so wirkt es – haben bei vielen Zuschauer:innen den Rang von „Katze-Gurken-Videos“. Ihr Wert liegt knapp über dem einer Sache, aber auf keinen Fall sind sie gleichgestellt mit dir oder mir, die wir uns einen solchen Eingriff in unsere Persönlichkeitsrechte ja niemals bieten lassen würden.

Ich warne davor, hier den vermeintlich leichtesten Ausweg zu wählen, indem Du dir sagst, dass sei ein Phänomen, das vor allen Dingen in sozialen Gruppen, Bildungsschichten oder Subkulturen vorkommt, denen Du Dich nicht zugehörig fühlst – denn du selbst schaust ja natürlich keine TikTok-Videos. Erstens gehe ich davon aus, dass auch Dir schon solche Videos durch nahestehende Menschen in deine Social-Media-Feeds gespült wurden. Zweitens ist das Beschämen von Kindern leider ein weit verbreitetes Phänomen. Man könnte auch sagen: Ein Volkssport! Diese Videos sind nur die oberste, sichtbare Spitze des Eisbergs. Unter der Oberfläche lauert alltägliches, akzeptiertes Unrecht, dem Kinder und Jugendliche vielerorts ausgesetzt sind – und das nicht hinterfragt wird.

Kidsshaming begegnet uns überall im Alltag: Es fängt bei Arbeitskolleg:innen an, die von ihren Heranwachsenden nicht mehr wertschätzend – und von mir aus auch gern mal genervt – sprechen, sondern sie als „Pubertikel“ oder „Pubertier“ bezeichnen, also wahlweise als lästige Eiterbeule oder als nicht mehr menschlich. Es geht weiter über Fußballtrainer:innen, die „Trantüte“ über den halben Platz schreien, wenn ein:e Spieler:in mal einen schlechten Tag hat.

Es ist auch beschämend für Kinder, wenn Eltern in öffentlicher Runde rumerzählen, dass ihr Kind gerade Medienverbot hat, weil die Noten so schlecht sind, und auch, wenn Eltern ihre Kinder vor anderen niedermachen, beschimpfen oder bestrafen. Es ist fürchterlich unangenehm, wenn ein Kind weinend auf dem Spielplatzboden liegt und ein Elternteil ihm zuruft, es solle keine „Memme“ sein.

Kidsshaming ist Alltag in Deutschland

Auch im pädagogischen Alltag ist es absolut normalisiert und akzeptiert, Kinder zu beschämen und in peinliche Situationen zu bringen. Kaum jemand denkt sich etwas, wenn Erzieher:innen im Kindergarten laut durch die Gruppe rufen, dass Kind XY stinkt und dringend gewickelt werden muss. Dass es sich richtig schlimm und auch beschämend anfühlen kann, während des Freispiels alleine an einen Tisch gesetzt zu werden, weil man eine Regel gebrochen hat, ist wohl auch den wenigsten bewusst, die solche Strafen verhängen und kleine Menschen so an den Pranger stellen.

In Schulklassen ist Kidsshaming absoluter Standard: Schüler:innen werden nach vorne geholt, müssen Dinge an der Tafel vorführen, ob sie wollen und können oder nicht, ihre Fehler werden vor der Klasse laut kommentiert, ihre Leistungen werden für alle anderen sichtbar und sie werden niedergemacht. Sie werden nicht selten gezwungen, peinliche Details aus ihrem Privatleben vor allen offenzulegen und wenn sie Pech haben, werden diese dann auch noch abfällig kommentiert. Von den vielen, zum Teil wirklich schlimmen Situationen, denen Schüler:innen im Sportunterricht ausgesetzt sind, ganz zu schweigen.

Kidsshaming betrifft uns alle! Und weil es uns alle betrifft, können wir auch alle ein bisschen daran mitarbeiten, dass es aufhört. Das fängt mit einer ganz einfachen Erkenntnis an: Kinder sind Menschen! Sie sind vollwertige Menschen, ohne irgendein „Aber!“, irgendwelche Einschränkungen, irgendwelche Ausreden. Als Menschen gilt für sie, was für uns alle gilt. Dinge, die ihre Würde verletzen, sind nicht erlaubt.

Auch für sie gilt die Goldene Regel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso“. So wie wir erwarten, dass unsere Sitznachbarn es höflich ignorieren, wenn wir gerade versehentlich einen fahren lassen haben, kommentiert nicht den Windelgeruch der euch anvertrauten Kinder öffentlich, sondern findet einen diskreten Weg, damit umzugehen. Gleiches gilt für eure Unsportlichkeit – ich überhöre euer Schnaufen, wenn ihr mit mir meinen Lieblingsberg hochsteigt – und findet einen wertschätzenden Weg für Schüler:innen, die keine Rolle rückwärts schaffen.

So wie ihr von anderen Menschen erwartet, dass sie euch nicht in peinliche, unangenehme Situationen bringen – und solltet ihr doch mal in einer sein –, nicht die Kamera draufhalten und das Ganze ins Netz stellen, so macht ihr das mit euren Kindern auch. Und so wie ihr erwartet, dass andere für euch Partei ergreifen, sollte euch doch mal jemand öffentlich vorführen, so ergreifen wir bitte demnächst Partei für Kinder, die öffentlich vorgeführt werden.

So wie ihr erwartet, dass die Menschen in eurem Umfeld einen gnädigen Umgang mit euren Beschwerden in den Wechseljahren, euren seelischen Nöten, euren Ängsten und kleinen Macken pflegen, so habt auch Gnade mit Jugendlichen in der Pubertät. Und wenn euch das nächste Mal ein „Nutella-Prank“ in die Timeline gespült wird – seid bitte nicht gnädig, sondern fragt die Person, die es geteilt hat, ob sie noch alle Marmeladengläser im Schrank hat!


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