Selbst verantwortlich

In die Debatte um eine Ethik der Digitalisierung bringt sich der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende und Theologieprofessor Wolfgang Huber mit einem neuen Buch ein. Ein erfolgreicher Versuch?

Die Netzgemeinde hat mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht bereits auf das neue Buch des ehemaligen Theologieprofessors, Bischofs und EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber gewartet. Einig scheint sich die Community darin zu sein, dass der Altbischof in Sachen neuer Medien mit geminderter Expertise an den Debatten teilnimmt – zumindest was seine Beiträge in eben solchen anbelangt. In der Vergangenheit fiel er mit heißen Takes zum Beispiel auf Twitter auf.

In Sachen Ethik hingegen kann man dem Altprofessor schwerlich eine Expertise abspenstig machen. Umso spannender wird es, wenn nun beide Themenfelder in einem Buch zusammengegossen werden. Ergibt die Mixtur eine edgy Meme-Sammlung für Freund*innen von #digitaleKirche oder gelingt es Huber, der theologischen Stimme in den Debatten um die Digitalisierung eine Stimme zu verleihen?

Baumaschinen auf dem Diskursfeld

Huber erkennt in der Digitalisierung eine Zeitenwende. Damit reiht er sich in den Reigen des gegenwärtigen Technikdiskurses ein. Und ja, einiges spricht dafür, dass die Menschheit mit der fortschreitenden Digitalisierung – was auch immer das bis zu diesem Zeitpunkt genau sein mag – vor Herausforderungen steht, die nicht nur unser Welt-, sondern eben auch unser Menschenbild nachhaltig verändern. Das Zeitalter des Buchdrucks neigt sich dem Ende zu, das Zeitalter einer durch und durch technisierten Kommunikation zieht auf (Kap 1.2).

Das ist mit allerlei Herausforderungen verbunden: Alle Informationen sind potenziell global, quasi in Echtzeit, verfügbar. Das überfordere die Gemüter der Menschen und die Abwesenheit von Informationsfiltern entwerte die Information: „Man braucht sie sich nicht zu merken und reflektiert sie deswegen auch nicht.“ (S.22). Folge dessen sind nicht nur „fake news“, sondern ein aufkommender Nationalismus, der sich als Ausdruck eines Wunsches nach Entschleunigung und Übersichtlichkeit verstehen lässt. Die Digitalisierung beeinflusse das Welt- und Selbstbild des Menschen so gravierend, dass man kaum umhinkäme, die Geschichte in eine vor und nach der Digitalisierung einzuteilen.

Man merkt gleich zu Beginn: Hier wird mit den ganz großen Baumaschinen gearbeitet. So wartet Huber auch mit einer umgreifenden Heuristik der technischen Entwicklung auf: Auf dem Platz des gegenwärtigen Technikdiskurses tummeln sich zwei Gruppen. Da wären jene, die dem vermeintlichen Fortschritt euphorisch gegenübertreten oder ihn gar beschleunigen wollen. Ihnen gegenüber sammeln sich jene, die eine apokalyptische Zukunft zeichnen, in der die Menschheit kurz vor dem technisch heraufbeschworenen Trümmerhaufen ihrer Existenz steht (Kap. 2).

Grundsätze für eine Ethik der Digitalisierung

Huber möchte auf diesem Feld ein Gebiet abgrenzen, in dem sich der Mensch ethisch verantwortet den bestehenden und zukünftigen Herausforderungen stellen kann. Er empfiehlt eine Ethik, die die Verantwortung des autonomen Menschen in den Mittelpunkt rückt. Eine solche Verantwortungsethik wehre dem eschatologischen Charakter der Euphoriker und Apokalyptiker gleichermaßen und öffne somit einen Raum für ein sinnvolles Überlegungsgleichgewicht bei ethischen Fragestellungen. In diesem abgegrenzten Raum können Chancen und Risiken gegeneinander abgewogen und Kompromisse gefunden werden.

Den Rahmen solcher Überlegung bildet das von Hans Jonas entwickelte precautionary principle (Prinzip vorausschauender Vorsicht) (S.40f), das freilich durch die Beschleunigung der Digitalisierung besonders herausgefordert ist, lässt die Geschwindigkeit der Moderne doch kaum Zeit für ethische Reflexion.

Diese grundsätzlichen Überlegungen werden im Laufe des Buchs weiter beispielhaft konkretisiert. Im Unterkapitel über „(e)thische Prinzipien für den Umgang mit digitaler Intelligenz“ (Kap. 6.5) plädiert Huber zum Beispiel dafür, längst bewehrte Grundsätze aus den bioethischen Debatten auf die Sphäre des Digitalen zu übertragen: Wohltun, Nichtschädigung, Wahrung der menschlichen Autonomie, Gerechtigkeit sowie ergänzend Erklärbarkeit und Unterbrechbarkeit.

Beim Grundsatz der Erklärbarkeit handelt es sich durchaus um eine sinnvolle Ergänzung: Müssen wir doch überhaupt erst einmal wissen, wie maschinelle Entscheidungsprozesse und Algorithmen funktionieren, um ein verantwortbares Urteil darüber zu fällen. Ebenso wird dadurch einer Diffusion der Verantwortung entgegengetreten. Überhaupt bildet die Sache mit der konkreten Verantwortung im ganzen Buch den Dreh- und Angelpunkt. Huber weist immer wieder darauf hin, dass es am Ende Menschen sind bzw. sein müssen, die Entscheidungen über den Einsatz bzw. Verzicht von technischen Anwendungen treffen.

Jugendliche benutzen Smartphones (Foto: Creative Christians, Unsplash)

Die Grenze zwischen Mensch und Maschine

Die Tendenz, irgendwelchen sogenannten künstlichen Intelligenzen Entscheidungsgewalt zuzubilligen oder andersherum sich als Mensch aus der Verantwortung zu stehlen, steht Huber kritisch gegenüber. Die Würde des Menschen und seine darin gefasste Autonomie muss Ausdruck darin finden, dass der Mensch stets Kontrolle über technische Entwicklungen behält. Denn Autonomie in einem ethischen Sinne bedeutet keinesfalls die Abwesenheit von Regeln, ja nicht einmal die Abwesenheit von äußeren Regeln. Sie bedeutet dem Menschen, sich mit Werte- und Regelsystemen in Beziehung setzen zu können.

Das macht der Autor an einer Sprachkritik anschaulich: Die Rede von autonomen Systemen (Waffen, Fahrzeuge etc.) suggeriere, solche wären in der Lage sich selbst moralische Regeln aufzuerlegen. Bisweilen mag dies oberflächlich sogar zutreffend sein: „Doch für einen moralischen Akteur muss gelten, dass er moralische Grundsätze nicht nur befolgen, sondern auch verstehen und damit aus eigenen Gründen anerkennen kann“ (S.171).

Doch so wie die Grenze zwischen Mensch und Maschine verschwimmt, scheint sich auch der prinzipielle Subjekt-Objekt-Gegensatz der Moral aufzulösen. Entsprechend geht der Autor auch auf die Ideen des Post- und Transhumanismus ein. Folglich arbeitet sich Huber im letzten Kapitel – wie im ganzen Buch immer wieder schemenhaft angekündigt – am Œuvre des Historikers Yuval Noah Harari ab.

Harari sieht nämlich die Spezies Mensch technisch getrieben an ihr Ende kommend und einen neuen Homo Deus heraufsteigen. Erwartbar weist der Theologe daraufhin: „Um der Humanität willen ist es wichtig, dass die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch nicht nur vorausgesetzt, sondern auch lebensweltlich dargestellt und erfahren wird“ (S. 199). Denn diese Differenz halte den Gedanken daran lebendig, dass der Mensch fehlbar ist und sich von ihm angestoßene Entwicklungen auch zufällig ereignen. Eben dort eröffneten sich Handlungsspielräume, in denen Menschen miteinander sehr konkret Verantwortung übernehmen müssen und sich nicht – wie oftmals unterstellt – als bloße Objekte einer unaufhaltsamen Zukunft verstehen sollten.

Mehr moralischen Pragmatismus üben

Wolfgang Huber stellt einen theologischen Entwurf vor, dessen Grundlagen durchaus dazu in der Lage sein könnten, Luft aus der aufgeblasenen Debatte um technische Entwicklungen zu lassen. Es geht bei jeder News über eine digitale Intelligenz, die mit sich selbst Go spielen kann, eben nicht immer gleich um Wohl und Weh für die Menschheit als Ganze. An vielen Stellen ist durchaus etwas mehr moralischer Pragmatismus gefragt.

Gerade deswegen ist es schade, dass Huber sehr viel Platz dafür benötigt, sich dann eben doch mit recht grobem Gerät über die Baustellen der Debatten zu bewegen. Die Darstellung der Risiken überwiegt weitestgehend die der Chancen der Digitalisierung. Dabei kommen in der kurzen Rede über Soziale Medien entscheidende Beobachtungen unter die Räder, die eigentlich der Perspektive Hubers entsprochen hätten. Während sich in einigen Passagen eine Larmoyanz über das Verschwimmen von Wirklichkeit und Realität oder die fast schon pathologische Abhängigkeit von Social Media findet, bleibt außen vor, dass es durchaus auch andere Gründe dafür gibt, warum sich Menschen in die Sphäre der neuen Medienwelt begeben – oder begeben müssen.

Leider zeichnet sich hier ein Paternalismus ab, der verkennt, dass gerade jüngere Menschen durchaus wissen, welchen Wirkmechanismen sie sich da aussetzen. Unfreiwillig komische Einschübe unterbrechen die gelehrten Ausführungen zu den großen Zusammenhängen: „In beunruhigendem Umfang wird das Smartphone in Autos, auf dem Fahrrad, dem Roller und beim Schieben des Kinderwagens benutzt“ (S. 56). Dieser von Vorurteilen geschwängerten Blick auf die Lebenswelt vor allem junger Menschen geht so dann auch an lebensweltlich relevanteren Problemen vorbei.

Die Unausweichlichkeit von Technik in unserem Alltag konkretisiert sich beispielsweise in Netzwerkeffekten, technisch gestützten Entscheidungen wie der Kreditwürdigkeit oder dem Big Brother auf dem Weg zur Arbeit bzw. auch am Arbeitsplatz selbst. Widersprüchlichkeiten, die sich daraus ergeben, lassen sich nicht einfach durch die Blödheit oder ein Suchtverhalten von Menschen erklären.

Immerhin bietet das Buch so beiden von Huber postulierten Gruppen von Diskursteilnehmer*innen – Euphorikern wie Apokalyptikern – Gesprächsstoff: #digitaleKirche-Akteur*innen können sich daran erfreuen, dass ein emeritierter Professor mal wieder selbstbewusst an ihnen vorbeiredet. Theologisch interessierte Oberstudienräte finden gelehrte Einwände gegen die in den Feuilletons dieser Republik erhobenen Großthesen über die Chancen der Digitalisierung. Auch für diesen Diskurs sind wir am Ende selbst verantwortlich.

#digitaleKirche in der Eule

#digitaleKirche ist eines der Schwerpunktthemen der Eule. Gemeint sind damit alle Fragen, die durch die Digitalisierung auf die Kirchen zukommen und Fragen der Lebensgestaltung von Christ:innen in der Digitalität. Alle #digitaleKirche-Beiträge der Eule gibt’s hier.

Mit dem Zusammenspiel von Mensch und Maschine (Künstlicher Intelligenz) befasste sich im Mai Katharina Ortega hier im Magazin. Michael Greder hat für die Eule bereits 2018 „Digital Mensch bleiben“ besprochen, das Digitalisierungs-Buch von Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und „Medienbischof“ der EKD. Zuletzt haben wir hier der Digitaldenkschrift der EKD gedacht, die vor einem Jahr erschienen ist.


Menschen, Götter und Maschinen
Eine Ethik der Digitalisierung
Wolfgang Huber
18 € (Taschenbuch)
C.H. Beck