So wird es jetzt immer sein
Auch auf dem Ökumenischen Kirchentag dominiert der Missbrauch in den Kirchen die Schlagzeilen. Die „Mission Control“ der Kirchen ist gescheitert. Ein Kommentar.
Keine Sorge! Der nächste Kirchentag wird wieder „in Präsenz“ gefeiert, viele tausende Christ:innen werden zusammenkommen, feiern, beten und debattieren – das alles in Zukunft ökumenischer, auch auf Evangelischen Kirchentagen und Katholikentagen, und digitaler.
Der 3. Ökumenische Kirchentag aber hat klargestellt, worum es ab jetzt immer gehen wird: Das Thema sexueller Missbrauch lässt beide Kirchen nicht mehr los. Es ist emblematisch: Gerade auf dem gemeinsamen Kirchentag, dem so sehr an der „Message Control“ liegt, zerbröseln die Reste der Fassade. Die Kirchen bekommen das Missbrauchsproblem nicht mehr eingefangen.
Längst haben sich die Betroffenen (leidlich) organisiert und professionalisiert, sie schweigen nicht mehr. Da kann man Betroffenenbeiräte „aussetzen“, wie man will. Die EKD hat es im vergangenen Jahr gleich zwei Mal „erwischt“: Nachdem sie ihre 2019er-Synode absichtlich unter das Schwerpunktthema Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt gestellt hatte, machten die Betroffenen im Herbst 2020 von sich aus auf die Verzögerungen bei den Aufarbeitungsprojekten aufmerksam. Auch vor der konstituierenden Sitzung der neuen EKD-Synode vergangene Woche dominierten sie und die durchgesickerte Aussetzung des EKD-Betroffenenbeirates die Schlagzeilen – neben der erfrischenden Präsenz der neuen Synodenpräses.
Der 3. Ökumenische Kirchentag schließlich sollte einen bunten Blumenstrauß kommunizieren: Die große Bedeutung von Kirchen und Christen für „den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, die geschwisterliche Eintracht am „Tisch des HERRn“, vor allem, dass es möglich war, während der Corona-Pandemie so etwas ähnliches wie einen Kirchentag „im Netz“ zu feiern. Doch dann kam der Samstag, an dem die meisten Kirchentagsveranstaltungen auf Sendung gingen, prominente Gäste aus Politik und Zivilgesellschaft sprachen – und die Missbrauchsdebatten holten den Kirchentag und die beiden großen Kirchen wieder ein.
Der Kirche werden die Leviten gelesen
Auf katholisch.de, dem Nachrichtenportal der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), lautet die Schlagzeile „Sieben Minuten für Betroffene von tausenden Minuten ÖKT-Streaming“ (ein lesenswerter Artikel von Felix Neumann), in den Sozialen Netzwerken werden die Panne bei „Eine Stunde Kirche und Macht“ (wir berichteten), die Einlassungen der beiden Sprecher von EKD und DBK für die Missbrauchsaufarbeitung in ihrer Gesprächsrunde und eine Moderatorinnen-Ausladung hierzu auf Wunsch eines Bischofs diskutiert. In der Runde zur Glaubwürdigkeit der Kirchen liest die Journalistin Christiane Florin wenig später den anwesenden Kirchenleuten die Leviten.
Der Spin wirkt nicht mehr, auf Emotionalisierung zu setzen und im Zweifelsfall den Betroffenen die Verantwortung für das Scheitern von Aufarbeitungsbemühungen zuzuschieben. Die Ausrede, sie wären für eine konstruktive Mitarbeit schlicht zu fragil, wird von ihnen lautstark attackiert und, weil sie die besseren Argumente auf ihrer Seite haben, von immer mehr Menschen nicht mehr geglaubt.
Die Message Control ist auf katholischer Seite bereits vollumfänglich gescheitert: Bischöfe müssen zurücktreten, weil selbst in defizitären juristischen Gutachten mehr als genug belastendes Material zu finden ist, als dass sie weiter Hirte spielen könnten. Der „Synodale Weg“ – zumindest zum Teil dazu gedacht, die schwelenden Debatten nach der MHG-Studie einzufangen – dümpelt vor sich hin. Drei von vier „Synodalforen“ sind Fälle für die Supervision, keine Orte konstruktiver Kompromissfindung. Aus Rom werden jenen Bischöfen, die sich um Beschwichtigung ihres Kirchenvolkes mühen, auf Anraten ihrer Kollegen immer neue Stöcke zwischen die Beine geworfen. Alles dreht sich in einem nimmermüden Kreisel – und die Leute rennen in Scharen davon.
Auf dem Glaubwürdigkeitspodium mit Florin bittet der Limburger Generalvikar Wolfgang Rösch, man solle doch nicht nur nach den Gründen für die Kirchenaustritte suchen, sondern auch danach fragen, warum Menschen blieben. Man landet wenige Momente später bei Florins „Trotzdem“. Seit Jahr und Tag werden alle guten Nachrichten aus der römisch-katholischen Kirche, die es zweifelsohne gibt, und alle Bemühungen um gesellschaftliche Relevanz, seelsorgliche Nähe und spirituelle Aufbrüche in der Fläche, vom Missbrauchsskandal erdrückt.
Die Zeit der „Mission Control“ ist vorbei
Die Evangelische Kirche hat sich darum bisher erfolgreich herumgemogelt. Viele Jahre lang sind die evangelischen Christen, die mehr oder weniger kritische Öffentlichkeit und auch Journalist:innen und Politiker:innen irgendwie intuitiv davon ausgegangen, bei den Evangelischen sei es schon nicht so schlimm. Aber es ist längst so schlimm genug, dass (fast) alle Botschaften, die die Kirche doch so engagiert in die Gesellschaft aussenden will, aufgrund ihres Glaubwürdigkeitsverlusts ungehört verhallen.
Und so wird es bleiben, solange die Evangelische Kirche nicht konsequent aufklärt, aufarbeitet und vorbeugt. Die Zeit der „Mission Control“ ist vorbei. Es dämmert langsam auch den evangelischen Christen, dass ihnen das Gleiche blüht wie ihren katholischen Geschwistern. Vorbei auch die Zeit, da sich vor allem Kirchenmänner, die sonst um kein Wort verlegen sind, hinter dem „EKD-Beauftragenrat für den Schutz vor sexualisierter Gewalt“ und seiner Sprecherin, Bischöfin Kirsten Fehrs (2018-2020, Lübeck/Hamburg, Nordkirche), verstecken konnten.
Fehrs hat im vergangenen Herbst ihr Sprecheramt in die Hände des Braunschweiger Landesbischofs Christoph Meyns gelegt. Ein riesiger Verlust. Zwar waren auch zwischen Fehrs und mehreren BetroffenenvertreterInnen Konflikte aufgebrochen, doch wird ihr als einziger wenigstens die Sensibilität zugesprochen, mit Betroffenen vernünftig zu reden. Dem EKD-Beauftragtenrat fehlt es an fachlicher Expertise, an Empathie und nicht zuletzt an Durchschlagskraft.
Was Fehrs als Sprecherin des Gremiums auf den Synoden 2018, 2019 und noch im Herbst 2020 ankündigte und versprach, ist in den Landeskirchen bis dato nur zum Bruchteil durchgeführt. Die guten Schlagzeilen hatte man ja schon eingesackt, keine Not sich mit der Umsetzung zu beeilen. Und wenn es brenzlig wurde, schob man die kompetente Kommunikatorin aus dem Norden vor.
Gerne lästert man in den EKD-Gliedkirchen über die Zentrale in Hannover. Auf keinen Fall will man in den 20 Landeskirchenleitungen Kompetenzen zur EKD abgeben, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Aber für Spott besteht wahrlich kein Anlass, die Bilanz der Landeskirchen sieht nicht besser aus als die der Zentrale.
Offene Fragen für die evangelischen Christ:innen
Es sind viele offene Sachfragen zu klären. Fragen, die sich viele evangelische Christ:innen bisher zu wenig gestellt haben. Denn mit einer Aussage hatte der EKD-Beauftragtenrats-Sprecher Landesbischof Meyns in seiner Gesprächsrunde mit seinem DBK-Pendant Bischof Ackermann (Trier) Recht: In der Evangelischen Kirche hat kein Bischof das letzte Wort.
Die Evangelische Kirche muss jetzt mit Aufklärung, Aufarbeitung und Prävention des sexuellen Missbrauchs ernst machen, sonst steht ihr eine Krisen-Dekade bevor, wie sie die Katholiken gerade hinter sich gebracht haben – und es wird immer so weiter gehen.