Solidarität oder Barbarei: Die Demokratie in Gefahr

Endzeitstimmung und Abstiegsängste prägen die Stimmung der Zeit. Gleichzeitig demonstrieren viele Menschen für die Demokratie und gegen rechts. Tobias Foß wünscht sich eine Kirche, die aneckt.

„Gelingt es nicht,
wenigstens einen solidarisch-inklusiven Weg
aus der Krise aufzuzeigen,
dann setzt sich unweigerlich die Rechte [durch].“
Ingar Solty

Deutschland befindet sich in einer Demokratiekrise. Nicht von ungefähr musste sich der Bauernverband bei seinen Demonstrationen im Januar immer wieder bewusst vom Rechtextremismus abgrenzen. Die Gefahr ist einfach viel zu groß, von rechts unterwandert zu werden. Viele Menschen sind enttäuscht von der Politik. Laut einer Umfrage des Rheingold-Instituts glauben drei Viertel der Menschen, die zwischen 18 und 65 Jahre alt sind, „dass unsere Politiker keine Ahnung haben, was sie tun.“ Der gegenwärtige Vertrauensverlust in die Regierung führt dabei immer stärker in einen Fundamentalangriff auf demokratische Strukturen.

Bereits im September 2023 wurde deutlich: Nur 59% der Menschen im Westen sind mit der Demokratie zufrieden – im Osten sind es sogar nur 39% (Deutschland-Monitor). Eine Verdrossenheit mit demokratischen Strukturen insgesamt findet statt – dies untermauert etwa der Thüringen-Monitor, eine Langzeitanalyse der politischen Einstellungen von thüringischen Bürger*innen:

„Eine Minderheit der befragten Thüringer*innen (18%) stimmte dem Kernpostulat der Rechten zu, demzufolge‚ die herrschenden Eliten das Ziel verfolgen, das deutsche Volk durch Einwanderer auszutauschen‘. Und 41% dachten, dass ‚Ausländer nur kommen, um unseren Sozialstaat auszunutzen‘“, schreibt die Redaktion von Sozialismus.de in ihrer „Zwischenbilanz“ zur Ampel-Koalition. Die AfD boomt und genießt derzeitig Rekordumfragen – bundesweit lage sie schon bei 23 % und in Sachsen bewegt sie sich zwischen 34-37 %.

Das Umfeld der AfD plant den Anpassungsdruck auf migrierte Menschen so zu erhöhen, dass letztendlich eine „Remigration“ stattfindet und Menschen aus dem Ausland Deutschland wieder verlassen müssen. Eine ausländerfeindliche nationale Abschottung brodelt, die mit der jetzigen Politik brechen will. Auch im Fazit zum Sachsen-Monitor 2023 ist zu lesen: „Ressentiments und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit haben in der sächsischen Bevölkerung im Vergleich zu 2021/22 in einem erheblichen Ausmaß zugenommen.“ Umso hoffnungsvoller ist es, dass derzeit viele Menschen bundesweit gegen den Rechtsruck und Ausländerhass demonstrierten – hoffentlich ein Lichtblick, der nicht gleich wieder verpufft.

Angst und der Abstieg ins Private

Doch die Stimmung in der Bevölkerung ist generell schlecht. Das Rheingold-Institut stellt fest, dass zwar bei vielen Menschen in Deutschland eine Art Endzeitstimmung herrsche, aber gleichzeitig dieses Krisen- und Ohnmachtsgefühl aus dem Alltag verdrängt werde. Die Parole laute: Rückzug ins private Familienleben und Misstrauen gegen die Politik!

„Den Deutschen gelingt die Maximierung ihrer Zuversicht durch die Minimierung ihres Gesichtskreises. […] Auf der Strecke bleiben durch diesen Umgang mit den Krisen gesellschaftliche Verantwortungsübernahme wie auch eine konstruktive Gesprächskultur.“ (Stephan Grünewald, Psychologe und Gründer des Rheingold Instituts)

Für die erforderlichen Schritte einer sozial-ökologischen Transformation unseres Zusammenlebens und unserer Wirtschaft sind diese Tendenzen totales Gift. Die Bürger*innen befinden sich gerade nicht in einer (visionären) „Zeitenwende, sondern in einer gedehnt wirkenden Nachspielzeit. Sie hoffen, dass die Verhältnisse, die sie kennen und schätzen, wenigstens noch eine gewisse Zeit fortbestehen. Eine aktivierende, von Ideen getragene Aufbruchsstimmung bleibt weitgehend aus“, beschreibt die Sozialismus.de-Redaktion die Stimmung treffend.

Dieser persönlichen und gesellschaftlichen Stimmung liegt eine große Angst vor sozialem Abstieg zugrunde. Viele Menschen befürchten, dass der Wohlstand in Deutschland schwindet. Immer mehr Menschen werden mit sozialen Kipppunkten konfrontiert. „Pauperisierung, Prekarisierung und Polarisierung“ (Christoph Butterwegge) hängen zusammen und nehmen zu. Eine solche Gemengelage führt immer stärker in Abschottung und Resignation und befördert den Nationalismus. Frei nach dem Motto „Wenn die Krise schon da ist, dann Germany First – uns Deutschen soll es zuerst gutgehen!“ Und: „Alles soll so werden, wie es einmal früher war, denn früher war alles gut.“

Neue Schritte der Solidarität

Um Ohnmachtsgefühle, Resignation und Angst zu überwinden braucht es eine Politik, die gerade die sozio-ökonomischen Ängste ernst nimmt und den Gestaltungsspielraum für Bürger*innen vergrößert. Die Verweigerung etwa Superreiche zu besteuern und das zwangs-neurotische Festhalten an der Schuldenbremse sind nicht hilfreich. Eine solche Politik gefährdet die Demokratie und verstärkt den populistischen Rechtsruck in Deutschland. Armut und soziale Spaltung gehen mit Demokratieverdrossenheit einher – deswegen muss hier angesetzt werden:

„Tatsächlich zeigt sich [in Deutschland] eine deutliche Korrelation zwischen Einkommenshöhe und geringerem Vertrauen in staatliche und demokratische Institutionen,“ erklärt Bernhard Müller in seinem Beitrag „Die Welt im Umbruch. Sozialdemokratische Antworten“. „Unter den Einkommensreichen gibt es nur wenige – deutlich unter 10 % –, die der Polizei oder dem Rechtssystem nicht oder wenig vertrauen. Unter den dauerhaft Armen sind es hingegen knapp 22% bzw. fast 37%.“

Es müssen also solidarisch-inklusive Wege in der Polykrise aufgezeigt werden, sonst drohen demokratische Errungenschaften zu kippen – ein „Rückfall in die Barbarei“ (Friedrich Engels). Hierfür sind konkrete politische Maßnahmen wichtig, die die Spitzen der Ungleichheit drosseln und die gesellschaftliche Solidarität fördern, zum Beispiel eine weitere Mindestlohnerhöhung, die Besteuerung von hohen Vermögen, das Aussetzen der Schuldenbremse und eine Umverteilung von Vermögen. Auch eine Vision davon muss gepflegt werden, wie unser neues Zusammenleben überhaupt aussehen kann und davon, dass neue Wege nicht nur erforderlich, sondern gemeinsam tatsächlich möglich sind: Ungerechtigkeit und dramatische Schieflagen können verändert werden!

Eine Kirche, die aneckt

In diese Richtung können kirchliche Netzwerke streiten. So fordert etwa die Diakonie, das Klimageld für einen sozial gerechten Klimaschutz endlich einzuführen.

„Den größten CO2-Fußabdruck haben Haushalte mit hohen Einkommen. Dagegen leiden Haushalte mit mittleren oder geringen Einkommen überproportional unter den aktuellen Preissteigerungen, obwohl ihr CO2-Ausstoß viel geringer ist. Die ärmsten Haushalte haben den kleinsten CO2-Fußabdruck, aber die größten Belastungen durch die klimabezogenen Preissteigerungen. Das muss umgekehrt werden.“

Schon 2011 hatte sich der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) und EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider für eine Reichen-Steuer ausgesprochen. Eine grundsätzliche Mobilisierung von Christ*innen und kirchlichen Einrichtungen hat aber nie stattgefunden. Die Kirche könnte sich viel stärker einmischen – das Potential ist da. Das prophetische Amt ist wachzurütteln, Maßnahmen zu fordern, für sie zu streiten und dabei eine Utopie (einen „Noch-nicht-Ort“) aufzuzeigen.

Es darf eben nicht sein, dass – weil die Menschen in der Polykrise keinen solidarischen Weg mehr sehen – Menschenrechte gleichgültig werden, der Nationalismus aufblüht, der Kampf um Ressourcen entfesselt wird und die rechten Kräfte sich freuen. Wir stehen an einer Weggabelung. Jung Mo Sung, Professor für Religionswissenschaften an der methodistischen und katholischen Universität in São Paulo, hat es so ausgedrückt:

„Im Wesentlichen erleben wir einen Kampf zwischen zwei mythischen Horizonten: einem, der eine Zivilisation verteidigt, die auf der grundlegenden Gleichheit aller Menschen beruht und einem anderen, der diesen Universalismus im Namen eines anderen Werts verleugnet: dem ‚Willen zur Macht‘ (Nietzsche), dem Willen, den anderen, den Schwachen, den Menschen zweiter Klasse, den eigenen Willen mit Gewalt aufzuzwingen.“ („Der Kampf zwischen der Gleichheit aller Menschen und dem autoritären Neoliberalismus. Theologische Überlegungen“ in micha.links 3/2023)

Kirche muss Garant dafür sein, für das Reich Gottes einzustehen, Raum zu geben für Diskussion und sich gleichzeitig für eine gerechte gesellschaftliche Transformation zu engagieren. Eine solche Kirche wird nicht nur zuhören und brav eine vermeintliche Meinungsvielfalt feiern, sondern Grenzen setzen, wo sozial-ökologische Kipppunkte erreicht werden oder die Demokratie unterminiert wird. Solche Grenzen setzt etwa das Netzwerk der antifaschistischen Kirchen: „Sie kämpfen gegen Rechts, engagieren sich für queere Anliegen und beten auch bei Demos. Sie ecken an.“

Es ist gut, dass die Kirche bei den gegenwärtigen Demonstrationen gegen rechts mit vorangeht (s. #LaTdH vom 21. Januar). Es ist gut, dass der Württembergische Landesbischof, Ernst-Wilhelm Gohl, und auch sein sächsischer Amtskollege Tobias Bilz deutlich machen, dass die AfD ist für Christinnen und Christen nicht wählbar ist. Das „Gemeinsame Wort“ der ostdeutschen katholischen Bischöfe ist mit seiner Ablehnung der AfD so deutlich ausgefallen wie keine andere kirchliche Stellungnahme in jüngster Zeit (s. „WTF?! RE: Januar 2024“). Der sächsische Landesbischof Tobias Bilz staunt im Interview mit der KNA darüber, „wie medienwirksam wir auch hier in der Diaspora wahrgenommen werden, wenn wir Klartext sprechen. Das gemeinsame Wort der katholischen Bischöfe in Ostdeutschland zur AfD – was das für einen Hall macht!“

Kirche eckt an: Gegen Rechts, für Meinungsvielfalt und für eine sozio-ökologische Gerechtigkeit, die gerade die Randständigen unserer Gesellschaft im Blick hat. Ängste, Nöte und soziale Schieflagen müssen ernst genommen werden. Wir sollten ihnen nicht mit Nationalismus, sondern mit Solidarität begegnen. „Wir gehören nach unten“, hat eine solche Einstellung der religiöse Sozialist Leonhard Ragaz genannt. In einer solchen Ausrichtung lässt sich Kirche verstricken in die Sorgen der Menschen und trägt Verantwortung dafür, gesellschaftliche Strukturen der Ungerechtigkeit zu bekämpfen.


Kolumne „Tipping Point“

In unserer Kolumne „Tipping Point“ schreibt Tobias Foß über die sozial-ökologische Transformation. Welchen Beitrag können Christ:innen und Kirchen leisten? Welche Probleme müssen bewältigt werden? Welche Kipppunkte gilt es in Theologie und Glaubensleben wahrzunehmen?

Mit „Tipping Point“ wollen wir in der Eule an Fragestellungen im Licht der Klimakrise dranbleiben. Dabei stehen nicht allein Klima- und Umweltschutz im Zentrum, sondern auch die Auswirkungen von Klimawandel und Umweltzerstörung auf unser Zusammenleben. Die Klimakrise verändert schon jetzt unsere Gesellschaft(en). In „Tipping Point“ geht Tobias Foß diesen Veränderungen auf den Grund und beschreibt Ressourcen und neue Wege.

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