Lagerfeuermoment – Die #LaTdH vom 21. Januar

Die Kirchen sind beim Protest gegen die AfD-Deportationspläne vorne mit dabei. Außerdem: Christlicher Antisemitismus, Missbrauch evangelisch und zwei Predigten für die Demokratie.

Herzlich Willkommen!

Selten hat eine Recherche so viel Aktion ausgelöst, wie die Correctiv-Reportage vom Potsdamer Nazi-Treffen über rechtsextreme Deportationspläne: „Geheimplan gegen Deutschland“. Ein seltener medialer Lagerfeuermoment, an dem viele Menschen zugleich von der Berichterstattung über rechtsextreme Pläne und Umtriebe aufgerüttelt werden. Das darf erstaunen, denn die (AfD-)Pläne sind ja keineswegs neu. Über die Recherche selbst und ihre mediale Aufbereitung hat Anette Dowideit, stellvertretende Chefredakteurin von Correctiv, im auch ansonsten hervorragenden Übermedien-Podcast bei Holger Klein Auskunft gegeben.

Eine mittelbare Folge der Berichterstattung rund um das Potsdamer Treffen sind die zahlreichen und großen Demonstrationen gegen die AfD und Rechtsextremismus im Allgemeinen in vielen großen und kleineren Städten des Landes. Gut 250.000 Menschen haben an ihnen in den letzten Tagen teilgenommen. Die allzu stille Mehrheit des Landes hält nicht mehr ganz so still. Zugleich warnen Aktivist:innen und Expert:innen, dass es mit ein paar – auch noch so großen – Demos nicht getan ist: Der Rechtsruck in der Gesellschaft ist weit fortgeschritten. Was man vor allem daran sieht, dass sich andere Parteien – die Union vorneweg, aber auch die Ampel-Regierung – Inhalte der AfD-Politik zu eigen gemacht haben.

An dieser Stelle ein in diesem Lagerfeuermoment der Demokratie unzeitiges „nachgefasst“ (das letzte Woche hier in den #LaTdH gefehlt hat): Zur Jahreswende haben wir hier in den #LaTdH zusammengefasst, wie ein Kirchenasyl in Schwerin gebrochen wurde. Das geschah auf Geheiß der Ausländerbehörde in Kiel. Im Nachgang der eskalierten Stürmung der Kirchenräume rechtfertigte die Integrationsministerin Schleswig-Holsteins, Aminata Touré (Grüne), das Vorgehen im Landtag, berichtet die taz.

Die Argumente, mit denen Schleswig-Holsteins Integrationsministerin Aminata Touré am Mittwoch versuchte, die Darstellung der Nordkirche anzuzweifeln, lassen sich nicht anders als krude bezeichnen. […] Als „völliges Missverständnis“ bezeichnete die Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche Jochims die Behauptung der Ministerin, das Kirchenasyl sei „vereinbarungswidrig“ gewesen.

Wie weit die liberale Gesellschaft den Rechten schon auf den Leim gegangen ist, zeigen solche zugleich unnötigen und verdrehenden Argumentationsketten. Die Beispiele, in denen „Brandmauern“ nach Rechts diskursiv und politisch eingerissen werden, sind inzwischen zahlreich. Auch in den vergangenen Tagen wollen einige weiter darüber diskutieren, wie man nur möglichst viele AfD-Wähler:innen „zurückholen“ kann.

Demgegenüber müssen der Schutz der Ausgegrenzten und die Solidarität mit den Opfern rechter Politik und rechtsextremer Gewalt im Vordergrund stehen. Dazu gehört das ehrliche Eingeständnis, dass wir alle rechte Politik bisher mindestens geschehen haben lassen – solange sie nur von der Ampel oder der Union gemacht wird. Seit dem vergangenen Frühjahr diskutiert Europa über eine „neue“ Flüchtlingspolitik, die zugleich menschenverachtend, widerrechtlich und zum Scheitern verurteilt ist. Jede neue Verschärfung der Migrations- und Asylpolitik, jede Gemeinheit gegenüber Arbeitslosen und wirtschaftlich schwachen Menschen, jeder kulturkämpferische Idiotismus macht auch immer etwas mit uns als Gesellschaft. Irgendwann gewöhnt man sich an die Kälte. Man findet sie vielleicht akzeptabel oder sogar geboten, wenn man selbst es (noch) schön warm hat.

Wird aus diesem Lagerfeuermoment ein Erweckungserlebnis? Wenn doch nur halb so viele Leute wegen der tatsächlichen Abschiebungen auf die Straße gingen, und nicht erst wegen der, die die AfD imaginiert … Ich freue mich über die vielen Demonstrant:innen. Von Erleichterung kann angesichts der Regierungspolitik, dem Rechtsdrall im Diskurs und der Probleme im Osten allerdings keine Rede sein. Aber: Es tut gut, dass man die Mehrheit nun auch mal sieht.

Eine gute Woche wünscht
Philipp Greifenstein

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Debatte

Die Kirchen haben in diesen Tagen ihr öffentliches Eintreten für Demokratie und Nächstenliebe intensiviert und verstärken die allgemeine Aufbruchsstimmung unter den Demokrat:innen im Land. Leitende Geistliche und viele Kirchenmitglieder und Mitarbeiter:innen nahmen an Demonstrationen teil. Ein „Gemeinsames Wort“ der römisch-katholischen Bischöfe in Ostdeutschland wurde veröffentlicht. Was macht das alles jetzt mit unserem Land?

Kirche vorneweg und endlich vor Publikum

Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende, Bischöfin Kirsten Fehrs (Sprengel Hamburg und Lübeck), sprach am Freitag auf der „Hamburg steht auf“-Kundgebung vor ca. 50.000 (Polizei) bis ca. 100.000 Menschen (Veranstalter:innen). Die Kundgebung musste vorzeitig aufgelöst werden, weil der Platz in der Hamburger Innenstadt knapp wurde. Ihr Statement findet sich auf der Website der EKD:

„Ich habe mit muslimischen Frauen gesprochen, die mir berichten, wie die bösen Blicke in Bus und Bahn zunehmen. Und ich höre aus der Diakonie, dass es schwer ist, Pflegekräfte aus dem Ausland dazu zu bewegen, nach Deutschland zu kommen. Wer will denn in einem Land leben, in dem noch der dritten und vierten Generation signalisiert wird: Ihr gehört nicht hierher, und ihr gehört nicht dazu?

Das ist das Ergebnis, wenn Rechtsextremisten an Boden gewinnen. Wenn Vertreibungsfantasien die Runde machen. Dann breitet sich im Land ein kriechender, nasser Frost aus, so wie wir das heute hier erleben. Wir wollen nicht, dass das gesellschaftliche Klima kälter wird. Auch das ist ein Klimawandel, den wir aufhalten müssen!“

Fehrs ist seit Jahren im interreligiösen Dialog der Hansestadt engagiert. Unter der Meldung von der Demo präsentiert die EKD auch den „weitgehenden Beschluss“ der EKD-Synode vom Dezember 2023 zur Auseinandersetzung mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus (PDF). Nur falls sich jemand fragt, auf welcher Grundlage sich die amt. Ratsvorsitzende eigentlich derart in der Öffentlichkeit exponiert. Dort heißt es in Punkt 3:

Die Synode beobachtet mit tiefer Beunruhigung, dass viele demokratisch engagierte Menschen aus der Zivilgesellschaft unter Druck gesetzt werden und Angst haben, sich öffentlich klar gegen Rassismus, Antisemitismus, antimuslimische Ressentiments, Queerfeindlichkeit und Rechtsextremismus zu äußern. Dies tritt bezeichnenderweise vor allem in den Gegenden auf, in denen die AfD besonders stark ist.

Die Synode der EKD steht verlässlich an der Seite von allen, die sich für eine demokratische und offene Gesellschaft einsetzen. Sie ruft die Landeskirchen und Gemeinden auf, allen Versuchen, Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen und Demokratie zu zersetzen, klar und deutlich zu widersprechen, auch in den eigenen Reihen.

Ansonsten richtet sich der Synodenbeschluss vor allem nach innen, an die eigene Mitarbeiter:innenschaft und Kirchenstruktur. Damit hält dieser Synodenbeschluss das Versprechen, das sich die EKD mit den „12 Leitsätzen zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche“ von 2020 (wir berichteten) gegeben hat:

Wir bezeugen Christus und nehmen zu gesellschaftlichen Prozessen öffentlich Stellung, wo dies vom Evangelium her geboten ist und sich in unserem kirchlichen Leben und Handeln praktisch und erkennbar niederschlägt.

In den Städten und Regionen haben weitere leitende Geistliche an Demonstrationen teilgenommen: Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing (Limburg), an einer Kundgebung in seiner Bischofsstadt. Die Landesbischöfin der Nordkirche, Kristina Kühnbaum-Schmidt, in Schwerin. Die Hannoversche Landeskirche rief ihre Mitarbeiter:innen zur Teilnahme an den Demos vor Ort auf. Der Württembergische Landesbischof Ernst-Wilhelm „Speedy“ Gohl erklärte, die „AfD ist für Christinnen und Christen nicht wählbar“. Auch der Südwesten ist eine Hochburg der rechtsradikalen Partei, die in der Vergangenheit unter konservativen und rechten Christen mit ihrer Kulturkampfagenda und Islam- und LGBTQI-Verachtung punkten konnte. Und nicht zuletzt gab es auch auf Social-Media-Plattformen einige Solidarisierungen, vor allem mit der Aktion „Christ:innen / Pfarrpersonen gegen Rechts“ von Pfarrerin Lena Müller aus Berlin.

Eintreten für die Demokratie: Gemeinsames Wort der katholischen Ost-Bischöfe (Bistum Magdeburg)

Die römisch-katholischen Bischöfe aus den ostdeutschen Bistümern (und solchen mit ostdeutschen Regionen) haben sich gemeinsam zu den anstehenden Wahlen im Jahr 2024 geäußert und sich für die Demokratie und gegen Rechtsradikalismus positioniert – das ist in der katholischen Weltkirche zwar nicht singulär, aber in diesen Tagen bemerkenswert. Heiner Koch, Erzbischof von Berlin, Stefan Heße, Erzbischof von Hamburg, Gerhard Feige, Bischof von Magdeburg, Ulrich Neymeyr, Bischof von Erfurt, Wolfgang Ipolt, Bischof von Görlitz, und Heinrich Timmerevers, Bischof von Dresden-Meißen, erklären u.a.:

Krude Ausweisungsphantasien für Migranten und ihre Unterstützer, die Ablehnung von Schutzangeboten für Geflüchtete, die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung, der alleinige Fokus auf Leistungsfähigkeit, die Leugnung des menschengemachten Klimawandels und die pauschale Verächtlichmachung von politischen Akteuren und Institutionen sind mit diesen Grundwerten unserer Gesellschaft unvereinbar.

Bitte: Wählen Sie verantwortungsvoll!

Wir Bischöfe bringen daher ganz klar zum Ausdruck, dass wir vor dem Hintergrund unseres eigenen Gewissens die Positionen extremer Parteien wie dem III. Weg, der Partei Heimat oder auch der AfD nicht akzeptieren können.

Die gelegentliche Überraschung über die Correctiv-Reportage vom „Potsdamer Geheimtreffen“ und die Agenda und praktische Hetz-Arbeit rechtsextremer Kader lässt vermuten, dass doch recht viele Menschen noch gar nicht wissen, wer mit „dem III. Weg, der Partei Heimat oder auch der AfD“ gemeint ist. Der III. Weg ist eine neonazistische regionale Partei in südwestlichen Sachsen, im Osten von Thüringen und Norden von Bayern sowie Teilen von Hessen. Im Vogtland hat ihre Raumergreifungsstrategie durchaus Erfolg. Die „Heimat“ ist einfach nur die alte NPD.

In der Liste der rechtsradikalen Organisationen, die von den Bischöfen geächtet werden, fehlen allerdings bezeichnender Weise die „Freien Sachsen“ und ihre thüringischen und sachsen-anhaltinischen Wiedergänger. Diese verschwörungsideologische, rassistische Gruppierung arbeitet regional eng mit der AfD zusammen und wird von ehemaligen NPD-Kadern geführt.

An dieser Stelle könnte man sogar einmal darüber fachsimpeln, von welchen Parteien sich eigentlich die bayerischen katholischen Bischöfe distanzieren müssten, wenn sie ein ähnliches „Gemeinsames Wort“ zu Wahlen in ihren Sprengeln veröffentlichen würden: Von der CSU oder Hubert Aiwangers Freien Wählern?

Gemeinsam, aber zeitversetzt?

Die Kirchen im Osten haben aufgrund der anstehenden Kommunal- und Landtagswahlen besonderen Anlass, laut gegen Rechtsradikalismus aufzutreten. Das ist vom Evangelium her geboten und schon allein eine Frage der Selbstbehauptung. Ohne liberale Demokratie auch keine Religionsfreiheit. Ohne den Staat des Grundgesetzes keine vielfältigen Gestaltungsspielräume und Partizipationsmöglichkeiten für die Institution Kirche, die ihr wegen ihrer Größe im Osten allein schon nicht mehr zustünden. An vielen Orten im Osten sind es die Kirche und eine kleine Schar Aufrechter, vor allem linke Aktivist:innen, die versuchen, den braunen Sumpf trocken zu legen.

Es darf darum erstaunen, dass die katholischen Bischöfe für sich alleine und nicht im ökumenischen Konzert kritische Töne gegen die AfD anschlagen. Sind die Evangelischen etwa nicht an Bord? In Sachsen arbeiten die katholischen Bistümer mit der sächsischen Landeskirche (EVLKS) seit Monaten an einem gemeinsamen Wort zu den Wahlen. Zuletzt hatte sich Landesbischof Tobias Bilz deutlich positioniert (ein Vergleich mit seinem „Sommerinterview“ in der Eule vom vergangenen Jahr bietet sich an). Von der Leitung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) hieß es vergangene Woche noch, man wolle das weitere Vorgehen mit den Bistümern Magdeburg und Erfurt im Februar beim routinierten Arbeitstreffen weiter abstimmen. Landesbischof Friedrich Kramer rief dazu auf, „vernünftig zu wählen“.

Nun sind die Katholik:innen voran gegangen. Sie bilden im Osten eine sehr kleine Minderheit. Auf Gehör in der Gesellschaft können die christlichen Kirchen im Osten nur im gemeinsamen Konzert (auch mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren) hoffen. Der Moment ist jedenfalls da. Zugleich betont der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Mitteldeutschland, Christoph Stolte, dass die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände vor den Wahlen im Osten auch vor einer Bildungsaufgabe bei den eigenen Leuten stehen. Man müsse immer wieder dafür werben, dass rechtsradikale Politik mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar ist.

Und nun?

Wärmen wir uns am Lagerfeuer der Demokratie, das von so vielen Menschen in diesen Tagen entzündet wird! „Wir alle sind gefordert, Demokratie nicht nur zu konsumieren, sondern selbst zu gestalten, demokratisch zu wählen, Position zu beziehen, unser Wissen und unsere Meinung einzubringen“, erklärte der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff auf der Demo in Hannover (s. „Predigt“).

Ohne die Kirchenmitglieder, die sich in den Kommunen engagieren, geht es nicht. Ihr Anteil an den Wahlhelfer:innen im Osten dürfte überwältigend sein. Aus der jüngsten 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) wissen wir, dass Christ:innen sich besonders häufig ehrenamtlich (in und außerhalb der Kirchen) engagieren. Häufig in mehreren Ehrenämtern zugleich. Doch ist auch spürbar: Dieses Engagement ist fragil und bedarf des Zuspruchs derjenigen, die sonst in der stillen Mehrheit schweigen, und der Kirchenleitenden. Es sind auch und vor allem die Älteren, die sich im Osten vor Ort engagieren. Das bürgerschaftliche Engagement aber ist auch eine Aufgabe für die Jungen. Nur mit Social-Media-Sharepics ist wenig gewonnen.

Was bedeuten die Anti-AfD-Demos für Deutschland? Das werden erst die kommenden Tage und Wochen zeigen. Kann der Rechtsruck zurückgedreht werden? Das bestmögliche Ergebnis scheint mir zu sein, dass sich die Bundesregierung moralisch stabilisiert und aufhört, im vorauseilenden Gehorsam rechte Politik zu machen. Und, dass die Union realisiert, dass es als Papen-Union nichts wird mit der Kanzlerschaft und sie der Demokratie in Deutschland mit einem „Trump-Kurs“ schweren Schaden zufügt. Die CDU Deutschlands muss sich von Christian Wulff inspirieren lassen – und endlich auch ihren ostdeutschen Gliederungen heimleuchten.

nachgefasst I: Antisemitismus

Mit zwei Artikeln haben wir in dieser Woche in der Eule über die christliche Tradition des Antisemitismus nachgedacht. Nicht umsonst geht auch der 3. Absatz des EKD-Synodenbeschlusses zur extremen Rechten (s.o.) noch weiter:

Die Synode verurteilt in aller Schärfe die erschütternden antisemitischen Vorfälle und Übergriffe jedweder politischen Couleur, die im Herbst 2023 in Deutschland und weltweit zu beobachten sind, die von rechts- und linksextremen wie islamistischen Gruppen zu beklagen sind.

In einem eigenen Beschluss „Antisemitismus ist Gotteslästerung“ hat sich die EKD-Synode auch dahingehend positioniert. Man hofft einfach, dass aus den Beschlüssen des Jahres 2023 mehr Greifbares erwächst, als aus denen des Vorjahres.

Friederike Henjes beschreibt bei uns in der Eule den christlichen Antisemitismus als Tradition in Krisenzeiten: In unsicheren Zeiten waren es gerade Christen, die aus Judenhass ihren (auch konkret wirtschaftlichen) Vorteil zogen. Diese Geschichte zu reflektieren und die richtigen Schlüsse aus ihr zu ziehen, bleibt bleibend wichtig (s. „Buntes“). Und Oliver Arnhold schaut in seinem Beitrag auf das Eisenacher „Entjudungsinstitut“ und seine Verbindungen in die (akademische) Theologie – auch weit nach Ende des Nationalsozialismus. Die Geschichte des „Entjudungsinstituts“ ist Eule-Leser:innen nicht unbekannt (s. hier & hier), bleibt aber „Stachel im christlichen Fleisch“.

Bei aller Aufmerksamkeit für den neueren israelbezogenen Antisemitismus (s. #LaTdH von vergangener Woche) und Spielarten linker Judenverachtung, ist klar: Die größte Gefahr für Jüdinnen*Juden in Deutschland und weltweit geht von rechtsextremen Verschwörungsideologen und Terroristen aus. Diese operieren auf Basis von – wenn auch oberflächlich säkularisierten – antisemitischen christlichen Ideen. Ohne allzu viel Wasser in den Wein der sich bemerkbar machenden Anti-AfD-Koalition zu gießen: So groß wie jetzt, da die Pläne der Rechten einen selbst betreffen, war der Aufschrei nach dem 7. Oktober nicht (s. „Predigt“).

nachgefasst II: Missbrauch evangelisch

Am Donnerstag wird endlich die ForuM-Studie zur sexualisierten Gewalt und weiteren Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche vorgestellt. Am Freitag findet dazu noch eine Tagung in Hannover mit den beteiligten Wissenschaftler:innen und Betroffenen statt. Die Eule wird ausführlich berichten. Die bayerische Landeskirche hat in dieser Woche bereits die Zahlen veröffentlicht, die sie an die ForuM-Studie (Teilstudie E) weitergeleitet hat, berichtet der BR. Der Vergleich mit den Meldezahlen der EKM (s. #LaTdH vom 3. Dezember 2023) lässt vermuten, dass das Dunkelfeld (unterschiedlicher Schattierungen) in Bayern sehr groß ist.

Raoul Löbbert und Karsten Polke-Majewski (sowie Illustration: Masha Foya) haben auf ZEITonline (€) eine eigene, dichte Befassung mit dem Themenfeld „Missbrauch evangelisch“ anhand bisher nicht-veröffentlichter Fälle geschrieben. Wie auch bei der Correctiv-Reportage aus Potsdam ist die Frage der medialen Darstellung nicht unwichtig. Betroffenengeschichten und -Schicksale bringen uns abstrakte Zahlen und strukturelle Versäumnisse und Fehler näher. Mein Eindruck allerdings: Hinter der Betroffenheit der Zuschauer:innen verschwindet in unseren Kirchen nicht selten die Verantwortlichkeit.

Wie Verantwortungsübernahme aussehen kann, machen die Pfadfinder:innen vor: Am Montag dieser Woche hat der Verband Christlicher Pfadfinder*innen (VCP), der mit ca. 20.000 Mitgliedern größte evangelische Pfadfinderverband, die Arbeit an einer eigenen Missbrauchsstudie angekündigt, berichtet u.a. Reinhard Bingener in der FAZ (€). Gesucht werden nun weitere Betroffene aus Vergangenheit und Gegenwart und auch Zeitzeug:innen, die über das Leben im Verband seit den 1970er Jahren Auskunft geben können (Aufruf, Schwerpunkt Aufarbeitung auf der VCP-Website). Mehr zum VCP-Vorhaben im Kontext der (evangelischen) Missbrauchsaufarbeitung in den kommenden Tagen hier in der Eule.

Buntes

Ein neuer Typus von Kirche? – Frederik Ohlenbusch (Die Eule)

Am Montag der nun vergangenen Woche hat Frederik Ohlenbusch zum letzten Mal für uns einen Podcast #abgehört. In unserer Podcast-Kritik-Kolumne hat er seit 2022 über 20 Podcasts besprochen, die sich um Kirche, Theologie und anverwandte Themen drehen und/oder von Christ:innen und Kirchen produziert werden. Diesmal den „Aufgeschlossen“-Podcast aus der EKM, der sich mit der Zukunft von Kirchengebäuden befasst. Lesens- und hörenswert!

Mehr Podcasts?

Wie wir mit dem Thema Podcast-(Kritik) in der Eule weiterverfahren werden, ist noch ein wenig unklar. Wir sind hier auf Rückmeldungen unserer Leser:innen und Abonnent:innen gespannt! Klar ist: Es gibt eine Menge Podcasts „aus dem Raum der Kirche“ da draußen, die Aufmerksamkeit (und Kritik) vertragen könnten.

Erst dieser Tage bin ich zum Beispiel über die „Predigtbuddies“ (auch auf Spotify) gestolpert. Anders als es der Name des Podcasts vermuten lässt, handelt es sich zum Glück nicht um noch zwei Dudes, die über das Predigen labern, sondern um eine partnerinnenschaftliche Predigtvorbereitung der Pastorinnen Anja und Lea. Die beiden arbeiten je zum aktuellen Predigtext der evangelischen Text- und Liederordnung. Das hilft bei der eigenen Predigtvorbereitung – und mag manche:r Predigtconnoisseur:in als „Kirche zur zeitsouveränen Nutzung“ auch den Gang in die winterlich kalten Kirchen ersetzen.

Und dann wären da die Podcasts aus dem Hause der Evangelischen Akademie zu Berlin. Die kirchlichen Akademien stehen ja mitten im Medienwandel (s. „WIDERSTAND“-Projekt), Podcasts stellen eine wertvolle Erweiterung des Präsenzbetriebs dar. Fünf weitere Folgen des „Bildstörungen“-Podcasts gibt es zum Beispiel in den kommenden Wochen. Der Podcast von Karoline Ritter und Katharina von Kellenbach geht christlich-theologischen Traditionslinien hinter modernen antisemitischen Stereotypen nach (s. „nachgefasst I“).

Predigt

„An was soll ich glauben, wenn nicht an uns Menschen?“ – Michel Friedman (Berliner Ensemble)

Der Moderator und öffentliche Intellektuelle Michel Friedman richtete im Rahmen des Solidaritätskonzerts am 27. November im Theater am Schiffbauerdamm einen „flammenden Appell“ gegen das Schweigen und den Hass gegen jüdische Menschen in Deutschland an die Zuschauer:innen. Seine Rede ist bleibend aktuell – und auch ein Musterbeispiel für eine (säkulare) Predigt, die die liberale Demokratie gegen ihre Feinde verteidigt.

[E]s gibt Menschen, die sagen: „Einige sind niemand.“ Dann gibt es Leute, die darauf antworten: „Niemand ist niemand.“ Aber das reicht nicht. Die doppelte Negation reicht nicht. Wir wollen doch eine andere Welt. Wir wollten doch eine Welt, wo man nicht Angst haben muss, wo die Fremdbestimmung nicht mein Leben bestimmt. Was die anderen sagen. Wie sie mit allem umgehen. Sondern Selbstbestimmung. Frei sein. Was ist das anderes, als sich selbst sein können? Alles, was ich bin, bin ich. Ich kann es ablegen, ich kann es wieder anziehen. Ich kann ein Mischmasch draus machen. Es ist egal. Das ist frei sein als Mensch. Das haben wir uns doch versprochen.

Wir haben es doch eigentlich versprochen, dass egal wem eine Gruppe es schwer macht „Selbst zu sein“, dass wir diese Menschen, die angegriffen werden, umarmen, sie schützen. Nicht ihretwegen. Nicht aus Solidarität. Nicht, weil wir es aus politischer Correctness machen, sondern weil ich dachte, dass wir verstanden haben, dass jeder und jede von uns irgendwann mal von den Brandstiftern ins Visier genommen wird. Und, dass wir uns versprechen, egal wer grade dran ist: Wir schützen uns, weil auch eines Tages wir, die gerade schützen, den Schutz brauchen. Und deswegen ist das Schweigen so erbärmlich.

Wie Christian Wulff den Opernplatz begeistert – Christian Wulff (HAZ)

Die Hannoversche Allgemeine dokumentiert die Rede von Altbundespräsident Christian Wulff (CDU) auf der Anti-AfD-Demo in Hannover im Wortlaut. Die Rede zeigt nicht zuletzt, dass die Union doch noch nicht tot ist, sondern nur falsch beraten und schlecht geführt. Der weite historische Bogen tut der Rede genauso gut wie diese christdemokratische Einschärfung gegen Ende der Rede:

Radikale in unserem Land verwandeln Nächstenliebe in Hass, Barmherzigkeit in Wut. Wir müssen dies gemeinsam umkehren: Das wird nicht von heute auf morgen gehen! Es wird uns viel zumuten! In dem Wort „zumuten“ steckt aber auch das Wort MUT. Mut haben wir. Das spüren alle hier!

Ein guter Satz

„Jeder ist jemand.“

– George Tabori, zitiert und evoziert von Michel Friedman im Berliner Ensemble (s. „Predigt)