„Wir sind in eine moralische Panik verfallen“

Die Bundesregierung unterstützt eine massive Verschärfung des EU-Asylsystems. Wie soll sich der Umgang mit Geflüchteten konkret verändern? Und welche Rolle kann die Kirche spielen?

Eule: ProAsyl warnt vor einem „Horrorszenario“ durch eine Änderung des EU-Asylsystems, der die Bundesregierung zustimmen will. Was soll sich an den EU-Außengrenzen durch das neue Verfahren konkret verändern?

Pichl: Die EU-Kommission möchte das Migrationsrecht grundlegend verändern. Die Logiken aus dem EU-Türkei-Deal sollen auf ganz Europa umgelegt werden. Konkret sollen Menschen, die nach Europa kommen, nicht mehr in ein reguläres Asylverfahren hineinkommen. In Asylverfahren können die Menschen ihre Fluchtgründe schildern, zum Beispiel warum sie vor den Taliban aus Afghanistan oder vor den Schergen Assads aus Syrien geflohen sind.

Nach dem neuen Asylsystem soll zuerst geprüft werden, wo die Person zuvor gewesen ist. War sie möglicherweise in einem als solchen bezeichneten „sicheren Drittstaat“? Ist es möglich, die Person dorthin zurückzuführen? Durch vorgeschaltete Zulässigkeitsverfahren, die sog. Grenzverfahren, wird ein ganz wesentliches Element des Rechtsstaates unterminiert: Nämlich das Recht eine:r jeden, vom Staat angehört zu werden und die Möglichkeit zu haben, die eigenen Fluchtgründe darzulegen.

Eule: Die griechischen Inseln mit dem Lager Moria auf Lesbos und die Rettungsmissionen von Seenotretter:innen, die in italienischen Häfen enden, sind vielen Menschen aus den Nachrichten bekannt. Von welchen Grenzen reden wir eigentlich?

Pichl: Eine sehr große Rolle spielt die Balkanregion. Europa ist fragmentiert zwischen EU-Staaten und EU-Anwärterstaaten. Wenn Geflüchtete von Griechenland aus über die sog. „Balkanroute“ weiterreisen, kommen sie durch Länder wie Mazedonien und Serbien, die nicht Teil der EU sind, aber als „sichere Drittstaaten“ deklariert wurden. Die neuen Grenzverfahren werden also nicht nur auf Inseln im Mittelmeer stattfinden, auf Lampedusa oder in der Ägäis, sondern auch in diesen Ländern. Es kann sogar sein, dass Grenzverfahren in Deutschland durchgeführt werden müssen, nämlich für Menschen, die unregistriert bis hierher durchgekommen sind, die in keinem EU- oder Nicht-EU-Staat abgefangen wurden. Dafür müssten möglicherweise auch in Deutschland entsprechende Haftlager eingerichtet werden.

Eule: Eine solche Internierungseinrichtung, ein Haftlager, wäre dann die entscheidende Station auf der Flucht. Kann man sich die Internierung so vorstellen, wie wir es jetzt schon auf Lesbos erleben? Sollen da Gefängnisse gebaut werden?

Pichl: Es gibt bereits konkrete Haftanstalten, die Griechenland auf den ägäischen Inseln gebaut hat, zum Beispiel auf Samos und Kos. Das sind Anstalten, aus denen die Menschen dann auch nicht herauskommen können. Sie wurden sicherlich auch schon im Vorgriff auf das neue EU-Asylsystem gebaut. Moria unterscheidet sich davon dadurch, dass es auf eine gewisse Weise chaotischer abgelaufen ist. Man kann Moria zwar verlassen, ist aber durch eine Residenzpflicht verpflichtet, auf der Insel zu bleiben und nicht auf das Festland weiterzureisen.

Jetzt geht man auch hier einen Schritt weiter: Die Insel nicht nur als „Freiluftgefängnis“, sondern richtige Inhaftierungslager. Auch das ist aber nicht neu, so etwas gab es 2009/2010 schon einmal auf Lesbos. Damals haben europäische Gerichte geurteilt, dass dahin eigentlich keine Flüchtlinge verbracht werden dürfen, weil sie in den Gefängnissen einer willkürlichen Inhaftierung ausgesetzt sein können. Jetzt wiederholt sich diese Geschichte auf eine sehr dramatische Weise.

Eule: Die Geflüchteten kämen aus diesen Lagern nicht raus. Aber käme denn jemand hinein, zum Beispiel Rechtsbeistände oder auch Hilfsorganisationen?

Pichl: In den Haftanstalten sollen die Menschen während der Grenzverfahren untergebracht werden, die innerhalb von 12 Wochen abgeschlossen werden sollen. Die Realität ist natürlich anders: Wir sehen, dass es diverse Gründe dafür gibt, warum Menschen nicht abgeschoben werden können. Deshalb wird die Frage sein, wer wird dauerhaft oder über einen sehr langen Zeitraum hinweg dort bleiben müssen. So ist die Situation der Geflüchteten auf den griechischen Inseln schon jetzt.

Eine weitere offene Frage ist, wie Hilfsorganisationen oder Anwält:innen Zugang bekommen. Eigentlich müssen Geflüchtete einen Rechtsbeistand haben. Aber wir beobachten, dass auf den griechischen Inseln der Rechtsschutz praktisch ausgehebelt wird durch ganz drakonische Maßnahmen. Anwält:innen werden kriminalisiert und mit Strafverfahren konfrontiert, sie werden zum Beispiel der Schlepperei bezichtigt. Gegenwärtig gibt es Zugang für Hilfsorganisationen, die dem Staat genehm sind, weil sie unpolitisch sind und nicht gegen die Zustände opponieren.

Eule: Wie soll das Zurückschicken eigentlich funktionieren? Sollen die Geflüchteten von Italien aus nach Tunesien oder Libyen verbracht und von dort aus dann weiter abgeschoben werden oder von der Türkei aus nach Afghanistan und Syrien?

Pichl: Die EU-Migrationspolitik der letzten 30 Jahre ist gekennzeichnet von dem Versuch, Verfahren auszulagern und die Verantwortung abzuschieben. Zunächst an die Außengrenzen-Staaten wie Griechenland, dann aber auch an andere Drittstaaten wie die Türkei, Libyen, Marokko. Die Menschen, die dorthin abgeschoben werden, sind immer der Gefahr ausgesetzt, keinen vollwertigen Flüchtlingsschutz zu haben und weiter abgeschoben zu werden.

Wir haben gerade erst im Wahlkampf in der Türkei erlebt, dass die Flüchtlingspolitik zu einem zentralen Thema wurde. Selbst der Oppositionskandidat gegen Erdogan hat auf einmal versprochen, alle Flüchtlinge zurückzuschicken. Erdogan wird diese flüchtlingsfeindliche Stimmung ganz sicher aufgreifen und in den nächsten Jahren einen harten Anti-Flüchtlings-Kurs fahren, weil es inzwischen auch starken Rassismus gegen Geflüchtete aus Syrien im Land gibt. In Tunesien, das von Deutschland als „sicherer Drittstaat“ eingestuft wird, verbreitet Präsident Kais Saied rechte Verschwörungsideologien über einen angeblichen „großen Bevölkerungsaustausch“. Die EU ist bereit, in unsichere Staaten abzuschieben und Menschen der Ketten-Abschiebung in ihre Herkunftsstaaten auszusetzen. Das ist ein massiver Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention.

Eule: Was ist aktuell der Auslöser für die geplanten Verschärfungen und auch für die Radikalisierung der Asyl- und Migrationsdebatten hier in Deutschland?

Pichl: Ich glaube, die zentraleuropäischen Staaten und auch Deutschland haben sich in den letzten drei Jahren in der Flüchtlingsfrage einen schlanken Fuß gemacht. Wegen der Corona-Pandemie gab es weltweit Grenzschließungen und viele Geflüchtete sind auf dem Weg steckengeblieben. Jetzt erleben wir wieder die normalen Fluchtbewegungen. Das Problem ist also qualitativ nichts Neues, man hat nur die letzten drei Jahre die Augen verschlossen und den strukturellen Fehler begangen, Aufnahmekapazitäten wieder abzubauen, die man nach 2015 in einem sehr starken Bündnis mit der Zivilgesellschaft und mit kirchlichen Trägern aufgebaut hatte.

Man dachte wohl: „Das brauchen wir jetzt nicht mehr, es kommen keine Geflüchteten mehr!“ Aber die Konflikte der Welt sind nicht verschwunden, die Pandemie hat manche dieser Konflikte sogar verschärft. Jetzt haben wir eigentlich wieder den Normalmodus, sind aber in eine große moralische Panik verfallen, in der einige Akteure behaupten, wir durchlebten eine so außerordentliche Situation, dass man jetzt extrem harte Maßnahmen bräuchte.

Eule: Macht es für die Debatte einen großen Unterschied, dass wir über die EU-Außengrenzen und nicht die deutschen Grenzen sprechen?

Pichl: Da bin ich mir nicht sicher. Es gab erst in der letzten Woche eine Recherche der Frankfurter Rundschau, die umfangreiche Push-Backs an der deutsch-österreichischen Grenze belegt hat. Illegale Push-Backs haben wir bisher vor allem in Griechenland oder auf dem Mittelmeer beobachtet. Es gibt Hinweise darauf, dass eine größere Anzahl von Personen abgeschoben wurde, weil zum Beispiel behauptet wurde, sie hätten keinen Asylantrag gestellt. In Interviews erklären die Betroffenen, sie hätten sehr wohl einen Asylantrag gestellt und wären trotzdem nach Österreich gebracht worden – und von Österreich dann wiederum in andere Staaten. Es gibt ganz offensichtlich auch an den deutschen Grenzen systemwidriges Verhalten, das nicht im Einklang steht mit dem europäischen Recht.

Eule: Die aktuelle Bundesregierung hatte sich doch eigentlich vorgenommen, es anders zu machen. Jetzt will die Ampel beim neuen EU-Asylsystem mitziehen, obwohl das ihrem eigenen Koalitionsvertrag widerspricht.

Pichl: Die Ampel-Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik versprochen und sich dazu bekannt, eine Koalition der aufnahmewilligen Staaten anzuführen und das Leid an den Außengrenzen zu beenden. Es wurde vereinbart, Asylanträge in Europa sollen in jedem Fall inhaltlich geprüft werden. Alles, was die Ampel gerade macht mit ihrer Zustimmung zum EU-Asylpaket und den geplanten Verschärfungen des deutschen Asylrechtes, geht in genau die entgegengesetzte Richtung. Damit bricht die Regierung den Vertrag zwischen den drei Parteien der Koalition, der ja erst zwei Jahre alt ist.

Eule: Warum?

Pichl: Eine Erklärung ist sicherlich, dass es zum Beispiel im Bundesinnenministerium eine tradierte Abschottungsmentalität und Strukturen gibt, die fortwirken. Hinzu kommt, dass man sich aktuell ein Narrativ zurecht gelegt hat, demzufolge man der AfD durch einen härteren Kurs das Wasser abgraben kann. Diese Analyse teile ich nicht. Ich möchte dazu auf das Buch „Hinter Mauern“ meiner Kollegen Volker Heins und Frank Wolff hinweisen: Sie argumentieren, dass durch mehr Abschottung an den Außengrenzen und Entrechtung von Geflüchteten auch unsere Gesellschaften intoleranter und illiberaler werden, weil wir dieses Leid als normal akzeptieren. Wenn man Zugeständnisse macht in Richtung einer harschen Migrationspolitik, bereitet man sogar den Boden für rassistische Parteien, die den Diskurs noch weiter nach Rechts verschieben wollen.

Eule: Was könnte man denn außer der Verschärfung des Grenzregimes unternehmen? Was ist die Alternative zu Haftlagern an den EU-Außengrenzen und Abschiebungen?

Pichl: Die erste Alternative ist eine ganz einfache: Sich an das geltende Recht halten. Das geltende Europa- und Flüchtlingsrecht steht diametral zu dem, was wir an den EU-Außengrenzen erleben. Push-Backs sind untersagt, Geflüchtete sollen menschenwürdig aufgenommen werden, sie sollen Zugang zu einem rechtsstaatlichen Verfahren haben. Darauf haben sich die EU-Mitgliedsstaaten geeinigt, das ist Gesetz – und wird leider jeden Tag systematisch missachtet.

Der zweite Schritt wäre, sich die Frage zu stellen, wie man eine menschenwürdige Aufnahme gestalten kann. Mein Eindruck ist, dass die Regierungen die Zivilgesellschaft überhaupt nicht mit ins Boot holen. Es gibt immer noch virulente Teile der „Willkommenskultur“ in Europa. Auch in den Kirchen gibt es viele Menschen, die mit Geflüchteten solidarisch sind. Wir haben allein in Deutschland über 200 aufnahmebereite Kommunen im Bündnis „Sichere Häfen“. Es gibt nicht nur Akteure, die nach mehr Grenzschutz rufen, es gibt auch jene, die sagen: „Wir haben Platz!“ Es gibt also ganz realistische Anknüpfungsmöglichkeiten für eine andere Flüchtlingspolitik.

Eule: Annette Kurschus, die EKD-Ratsvorsitzende, hat vergangene Woche bei ihrem Besuch in Brüssel vorgeschlagen, man solle sich die Aufnahme der Menschen aus der Ukraine zum Vorbild nehmen. Für Ukrainer:innen wurden die Regeln ja massiv gelockert, weil es schnell gehen musste und sicherlich auch, weil sie Europäer:innen sind und man das der deutschen Bevölkerung vermitteln konnte. Dass wir so nicht mit allen Geflüchteten umgehen, ist einfach nur Rassismus?

Pichl: Das Flüchtlingsrecht war schon immer auch rassistisch geprägt. Es wurde stets auch dazu benutzt, genehme Flüchtlingsgruppen aufzunehmen und andere auszusortieren. Das Flüchtlingsrecht nach 1945 entstand im Kontext des Ost-West-Konflikts. Am Anfang wollte man eigentlich nur die Systemflüchtlinge aus der DDR aufnehmen und war dann auf einmal verwundert, dass auch Menschen aus dem Globalen Süden vor der Tür standen.

Ich stehe dem Vorschlag von Frau Kurschus eher ambivalent gegenüber. Man kann vieles übernehmen: Den schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sprachkursen zum Beispiel und die dezentrale Unterbringung ohne lange Verweildauer in Erstaufnahmeeinrichtungen. Auch viele Geflüchtete aus Afghanistan oder Syrien haben schon Verwandte oder Freunde hier, bei denen sie viel leichter privat unterkommen könnten als in großen Sammelunterkünften. Es war richtig, bei den ukrainischen Geflüchteten schnell die sog. Massenzustrom-Richtlinie anzuwenden, sie also nicht in das normale Asylverfahren reinzupacken, weil es auch so viele Menschen waren.

Doch bergen Pauschallösungen immer auch die Gefahr, dass das individuelle Recht auf Asyl ein Stück weit in den Hintergrund gedrängt wird. Die Entscheidung darüber, wer kommen darf, ist dann eine politische Entscheidung. Der Gewinn des Rechtsstaates ist es demgegenüber, dass auch Menschen eine Chance bekommen, bei denen die Mehrheitsgesellschaft oder die Politik denken, sie kämen doch aus „sicheren“ Staaten. In individuellen Verfahren können diese Menschen sehr häufig doch belegen, dass sie Schutz brauchen.

Eule: In dieser Woche findet in Nürnberg und Fürth der Kirchentag statt. Annette Kurschus sagte in Brüssel, es sei wichtig, den „Geist der Wahrheit“ in die Debatten zu tragen, also sachlich und ohne Lügen zu diskutieren. Gibt es darüber hinaus noch etwas, das die Kirchen leisten können?

Pichl: Die Kirche ist in der Flüchtlingspolitik immer schon ein entscheidender Faktor gewesen. Sie setzt sich für Solidarität und Humanität ein aus ihrem eigenen ethischen Wertekanon heraus, der auch nicht so leicht zu erschüttern ist durch die alltäglichen populistischen Debatten. Ich hoffe, dass sie sich weiterhin immun hält gegenüber einer rechten Vereinnahmung. Das ist entscheidend und wichtig. Hinzu kommt die konkrete Solidarität mit Geflüchteten in vielen Projekten, die es gilt, weiter aufrecht zu erhalten.

Ich glaube auch, dass die Kirche wieder präsenter werden sollte im politischen Diskurs. Aufgrund der Debatten um das Kirchenasyl oder die Seenotrettung hat sich die Evangelische Kirche ein bisschen in eine Verteidigungsposition hineinmanövriert, sich von Negativkampagnen vielleicht zu sehr beeindrucken lassen. Angesichts der Lage müsste man wieder in eine selbstbewusste Haltung kommen, die kirchliche Position wieder stärker in die politische Debatte einbringen, weil uns solche Gegengewichte sonst wirklich fehlen.


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Das Interview führte Philipp Greifenstein.