Antisemitismus und Theologie: „Wehret den Anfängen“

Der Antisemitismus hat in den evangelischen Kirchen Tradition. Oliver Arnhold zeichnet nach, welche Lehren für uns heute aus der Geschichte des kirchlichen „Entjudungsinstituts“ von 1939-1945 zu ziehen sind.

„Was soll man eigentlich zu etwas sagen, zu dem eigentlich schon alles gesagt wurde? Nichts ist neu. Kann man das noch hören, ‚wehret den Anfängen‘? Hätte man den Anfängen gewehrt – und wir sind die Zeugen unserer Zeit -, dann wären wir nicht heute, wo wir sind. Und dann hätte es diesen Abend vielleicht gar nicht gebraucht.“

Mit diesen Worten begann Michel Friedman am 27. November 2023 seine Rede im Rahmen der Solidaritätsveranstaltung „Gegen das Schweigen. Gegen Antisemitismus“ im Berliner Ensemble. Dass es diesen Abend dringend brauchte, verdeutlicht eine Meldung von ZEIT Online einen Tag nach der Veranstaltung im von Bertolt Brecht gegründeten Theater:

„Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel hat sich die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland drastisch erhöht. Zwischen den Attacken am 7. Oktober und dem 9. November hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) 994 antisemitische Vorfälle registriert. Das sind im Schnitt 29 Vorfälle täglich und damit viermal so viele wie im Durchschnitt des Vorjahres.“

Wie ist es möglich, dass gerade in Deutschland antisemitisch motivierte Straftaten dramatisch zunehmen und der Antisemitismus wieder neue Blüten treibt? Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 zeigt er sich nicht nur in Form von Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, sondern er ist laut ZEIT Online auch mit einer „Entsolidarisierungswelle“ gegenüber Jüdinnen und Juden in weiten Teilen der Gesellschaft verknüpft. „One Holocaust does not justify another one“, so hieß es jüngst auf einem Demoplakat am 4. November in Düsseldorf. Derartige Geschichtsvergessenheit und -verdrehung, die ansteigende Gewalt und Entsolidarisierung gegenüber Menschen jüdischen Glaubens werfen brennende Fragen auf, die Thomas Haldenwang und Felix Klein in der Reihe „Friedman im Gespräch“ wie folgt formulierten:

„Vor 85 Jahren, in der sogenannten ‚Reichspogromnacht‘ 1938, organisierten die Nationalsozialisten exzessive Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, an der die breite Bevölkerung in Deutschland teilhatte. Synagogen wurden angezündet, auf offener Straße wurden Menschen geschlagen, ermordet und deportiert: nur weil sie Juden waren. Generationen später, über 75 Jahre nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Regime, werden Menschen auf deutschen Straßen verachtet, bedroht und geschlagen: nur weil sie Juden sind.

Wieso hält sich dieser Menschenhass so nachhaltig in unserer Gesellschaft? Wo liegen die gesellschaftlichen und strukturellen Wurzeln des Judenhasses? Was lässt sich denjenigen, die Judenhass schüren und instrumentalisieren, entgegnen? Ist die Gesellschaft hilflos in der Bekämpfung des Judenhasses oder wollen wir gar hilflos sein, um nichts tun zu müssen? Was tun, wenn das ewige Mantra ‚Nie wieder‘ nicht genügt und das ständige ‚Wehret den Anfängen‘ lange verpasst wurde?“

Vom Pogrom zum Wahn der „Entjudung“

Richten wir den Blick in die Vergangenheit, in eines der der dunkelsten Kapitel evangelischer Kirchengeschichte, und nehmen damit auf, was der jüdische Gelehrte Baal Schem Tov gesagt hat: „Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung“. In der angesprochenen Reichspogromnacht vor 85 Jahren nahm der evangelische Landesbischof Martin Sasse am Buß- und Bettag 1938 wie folgt Stellung zu dem von den Nationalsozialisten initiierten Pogrom:

„Der feige Mord eines Juden an dem Gesandschaftsrat vom Rath in Paris hat unser gesamtes deutsches Volk aufs tiefste [sic] empört.

Dieses Verbrechen erhellt schlaglichtartig, worum es heute im christlichen Abendlande geht. Es geht um den weltgeschichtlichen Kampf gegen den volkszersetzenden Geist des Judentums. Der Nationalsozialismus hat in unserer Zeit diese Gefahr am klarsten erkannt und in verantwortungsvollem Ringen um die deutsche Volksgemeinschaft der jüdisch-bolschewistischen Gottlosigkeit den schärfsten Kampf angesagt. Aufgabe der Kirche in Deutschland ist es, aus christlichem Gewissen und nationaler Verantwortung in diesem Kampfe treu an der Seite des Führers zu stehen.

Die Leitung der Thüringer evangelischen Kirche ist in Erkenntnis dieser Aufgabe nicht müde geworden, auf den unüberwindlichen Gegensatz zwischen Christentum und Judentum hinzuweisen. Im Namen des christlichen Glaubens hat sie an ihrem Teile den Kampf gegen den zersetzenden Geist des Judentums geführt und jegliche Verherrlichung des jüdischen Volkes aufs schärfste bekämpft.

Wer aus einem falschen Verständnis des Evangeliums heraus heute noch wähnt, die Verfälschung von deutscher christlicher Frömmigkeit durch den jüdischen Geist aufrecht erhalten zu müssen, den rufen wir gerade in diesem ereignisreichen Jahr 1938 erneut zu ernster Besinnung und Umkehr auf. Der Kampf gegen die jüdische Weltgefahr ist in ein entscheidendes Stadium getreten. Die Stunde gebietet, dem deutschen Volke die Quellen der ewigen Wahrheit neu und rein zu erschließen.“1

Der nationalsozialistischen Propaganda entsprechend wird in der Erklärung des Landesbischofs das Attentat des jungen Mannes Herschel Grynszpan, der damit auf die ausweglose Situation seiner Eltern aufmerksam machen wollte, die nach der Vertreibung aller Juden polnischer Nationalität aus Deutschland unter menschenunwürdigen Bedingungen im Niemandsland zwischen Deutschland und Polen festgehalten wurden2, zum Anlass für die Rechtfertigung genommen, mit äußerster Brutalität gegen alle Menschen jüdischen Glaubens loszuschlagen und zu hetzen. Strukturell gibt es durchaus Parallelen zu heute, wenn ein politisches Ereignis wie der Krieg in Gaza zum Anlass genommen wird, um gegen alle Menschen jüdischen Glaubens zu hetzen oder Gewalt gegen sie auszuüben.

Bischof Sasse legitimierte in seiner Stellungnahme aber nicht nur die in der Pogromnacht ausgeübte Gewalt, sondern forderte weitergehend als Gebot der Stunde eine „Entjudung“ der Gesellschaft und insbesondere der christlichen Religion.

Die aufkochende antisemitische Stimmungslage in Deutschland wollte auch Walter Grundmann, Professor für Neues Testament und Völkische Theologie in Jena, für seine eigene wissenschaftliche Karriere nutzen. Er nahm die Idee einer „Entjudung“ des Christentums auf und verfasste am 21. November 1938 ein Exposé, in dem er detailliert die Arbeitsstrukturen eines kirchlichen „Entjudungsinstituts“ entwarf. Dieses wurde nicht einmal ein halbes Jahr später auf der Grundlage einer Entschließung von elf evangelischen Landeskirchen am 6. Mai 1939 symbolträchtig auf der Wartburg bei Eisenach mit einem Festakt eröffnet. Das mit Sitz in Eisenach von 1939-1945 arbeitende „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ erwies sich in seiner Tätigkeit anschlussfähig sowohl zu einer seit Jahrhunderten propagierten christlichen Judenfeindschaft als auch zu der antisemitischen Ideologie der nationalsozialistischen Machthaber.3

Für die wissenschaftliche Institutsarbeit wurden bis 1941 ca. 180 Mitarbeiter, darunter 24 Universitätsprofessoren von 14 evangelisch-theologischen Fakultäten sowie kirchliche Würdenträger und aufstrebende Gelehrte zur ehrenamtlichen Gemeinschaftsarbeit in Arbeitskreisen und an Forschungsaufträgen des Instituts sowie zu Publikationstätigkeiten gewonnen. Insgesamt 46 Forschungsaufträge und Arbeitskreise zielten darauf ab, jüdische Elemente aus Theologie und Kirche in Deutschland zu entfernen, wobei der Gegensatz zwischen christlicher und jüdischer Religion sowie die Überlegenheit der arischen gegenüber der jüdischen Rasse stets betont wurde.

Arbeitsschwerpunkte waren beispielsweise die Entwicklung einer „rassedifferenzierten“ Religionstypologie, die Formulierung einer christlich-germanischen Religionsgeschichte, die an die Stelle des Alten Testaments treten sollte, sowie die Entwicklung einer „Völkischen Theologie“, die Volkstum, Rasse, Blut und Boden als gottgegebene Schöpfungsvorgaben deklariert und theologisch legitimierte. Grundmann versucht unter anderem im Rahmen seiner Institutsarbeit eine nicht jüdische Herkunft Jesu nachzuweisen.

Neben der Forschungsarbeit betrieben die im Institut tätigen Theologen vielfältige praktische Maßnahmen volksmissionarischer Natur: Anfang 1940 erschien ein vom Institut herausgegebenes „entjudetes“ Neues Testament: „Die Botschaft Gottes“. Im Juni 1941 ein „entjudetes“ Gesangbuch: „Großer Gott wir loben dich“. Darüber hinaus wurden weitere Veröffentlichungen zur Reform des Gottesdienstes erarbeitet, unter anderem auch ein „entjudeter“ Katechismus: „Deutsche mit Gott“ und ein volksmissionarisches Lebensgeleitbuch, das jedoch aufgrund kriegsbedingter Druckbeschränkungen nicht mehr erscheinen konnte.

Die neuesten Erkenntnisse des Instituts, das seinen Sitz in Eisenach hatte, wurden über Tagungen und Veröffentlichungen einem breiten Kreis von interessierten Theologen und Laien im gesamten Deutschen Reich zugänglich gemacht. Im Herbst 1941 wurde durch das Institut die Arbeitsgemeinschaft „Germanentum und Christentum“ gegründet, in der skandinavische und deutsche Wissenschaftler die „germanische Kulturforschung“ vorantreiben wollten. Im November 1941 entstand eine weitere Außenstelle des Instituts in Hermannstadt (Rumänien), wo sich sechs Arbeitsgruppen mit liturgischen und religionspädagogischen Fragen zur „Entjudung“ des Christentums beschäftigten.

Kirchenpolitik unter dem Hakenkreuz: Die Frage der „Judenchristen“

Darüber hinaus nahm das Institut auch Einfluss auf kirchenpolitische Entscheidungen in der Deutschen Evangelischen Kirche. Heinz-Erich Eisenhuth, seit 1936 Professor für Systematische Theologie in Jena und ab 1943, als Grundmann zum Wehrdienst einberufen wurde, kommissarischer wissenschaftlicher Leiter des kirchlichen „Entjudungsinstituts“, verfasste im Dezember 1941 im Rahmen seiner Tätigkeit im Institut ein Gutachten: „Zur Frage der Beteiligung der Judenchristen am christlichen Gottesdienst“. „Judenchristen“ meint hier diejenigen Menschen, die zwar nach nationalsozialistischen Rassekriterien Juden, aber durch die Taufe Glieder der evangelischen Kirche geworden waren. In Eisenhuths Gutachten hieß es dazu:

„Judenchristen sind und bleiben nach der Taufe Juden, so daß ihre religiöse Erlebnis- und Äußerungsart stets jüdischen Charakter an sich tragen wird. Die Kennzeichnung der Juden mit dem Judenstern soll das Bewußtsein für die unüberbrückbare Kluft und Trennung zwischen den Rassen wach erhalten. Das deutsche Volk darf nie mehr vergessen, daß es nicht nur in diesem Krieg bestes und edelstes Blut deutscher Menschen hat opfern müssen, weil es gegen die Weltmacht der Juden zu kämpfen gezwungen war. Erst die völlige Überwindung des Judentums auf allen Gebieten läßt den deutschen Menschen zu seinem eigenen, von Gott ihm geschaffenen Wesen zurückkommen. […]“

Deshalb schlug Eisenhuth in dem Gutachten folgende Maßnahmen vor:

„1. Judenchristen sind als Feinde des Reiches von jeder Form der gottesdienstlichen Gemeinschaft auszuschließen.
2. Deutsche Pfarrer dürfen an Judenchristen keine Amtshandlungen vollziehen.
3. Von Judenchristen dürfen keine Kirchensteuern erhoben werden.“4

Eisenhuths Gutachten folgend verfasste die Deutsche Evangelische Kirchenkanzlei am 22. Dezember 1941 ein Schreiben an die obersten Behörden der deutschen Evangelischen Landeskirchen mit der Bitte „geeignete Vorkehrungen zu treffen, daß die getauften Nichtarier dem kirchlichen Leben der deutschen Gemeinde fernbleiben“ sollen. „Die getauften Nichtarier werden selbst Mittel und Wege suchen müssen, sich Einrichtungen zu verschaffen, die ihrer gesonderten gottesdienstlichen und seelsorgerischen Betreuung dienen können.“ Der Kirchenhistoriker Karl Kupisch beurteilt diese Anweisung der Evangelischen Kirchenkanzlei treffend mit dem Kommentar:

„Es gibt wohl kein grausameres und von tiefster unchristlicher Denkweise zeugendes kirchliches Dokument als diese Anordnung.“5

Die Tradition des christlichen Antijudaismus in Theologie und Kirche

Die besondere Bedeutung des Eisenacher Instituts liegt somit darin, dass hier mit unbeirrbarer Zielstrebigkeit auf der Basis eines Konsenses führender Vertreter in Theologie und Kirche der Versuch unternommen wurde, die Kirche und Theologie zu „entjuden“, um sie der Ideologie des Nationalsozialismus anzupassen, während gleichzeitig die deutschen und europäischen Juden zunächst ausgegrenzt und verfolgt, dann in den Vernichtungslagern ermordet wurden. Dabei konnte der Antisemitismus der Institutsmitarbeiter auf eine über die Jahrhunderte währende Tradition von christlichem Antijudaismus in Theologie und Kirche aufbauen.6

Die Folgen dieser Synthese für die christliche Lehre und das christliche Bekenntnis lassen sich anhand der Wirksamkeit des Instituts ebenso anschaulich verdeutlichen wie der Umstand, dass die christliche Religion als Glaubens- und Heilslehre und auch die Wissenschaft instrumentalisierbar ist. Im Falle des Eisenacher „Entjudungsinstitutes“ diente eine vorgeschobene Verteidigung christlicher Werte dazu, einen barbarischen Unrechtsstaat zu legitimieren und zu stützen, dessen Unmenschlichkeit für alle, die es sehen wollten, auch sichtbar war. Den Mitarbeitern und den Unterstützern des kirchlichen „Entjudungsinstituts“ und der Kirchenbewegung kommt damit eine geistige Mitverantwortung an den Verbrechen zu, die während der Zeit des Nationalsozialismus an jüdischen Menschen begangen wurden.7

Daraus ergibt sich die Frage, wie die evangelische Kirche mit diesem Erbe nach Kriegsende umgegangen ist und ob führende Institutsvertreter nach 1945 persönliche Schuld empfanden und Verantwortung für ihre Taten übernahmen. Exemplarisch werde ich dazu auf Grundmanns Werdegang nach 1945 eingehen und dessen Sicht auf seine eigene Rolle während der Nazizeit beschreiben. Sie deckt sich mit derer anderer führender Vertreter im Institut.

Eine Karriere nach dem Holocaust: Walter Grundmann

Das Eisenacher Institut wurde im Juli 1945 vom neu gebildeten Thüringer Landeskirchenrat aufgelöst. Nach seiner Rückkehr aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft versuchte Grundmann vergeblich, das Institut in ein kirchliches Forschungsinstitut umzuwandeln und weiterzuführen. Er wurde als Professor in Jena auf der Grundlage eines von den Amerikanern angestrengten Entnazifizierungsverfahren entlassen, war aber bereits 1949 wieder als Pfarrer in der thüringischen Landeskirche tätig.

Mit der neuen Anstellung war für Grundmann auch wieder der Weg in die wissenschaftliche Theologie geebnet: Das theologische Oberseminar Naumburg bestellte ihn ab 1952 zu regelmäßigen Vorlesungen und wollte ihn 1954 schon als hauptamtlichen Dozenten übernehmen, als ihn die thüringische Landeskirche zum Rektor des Katechetenseminars in Eisenach berief. Dort war Grundmann hauptverantwortlich für die Ausbildung der jungen Theologen in der thüringischen Landeskirche. Erneut einen neutestamentlichen Lehrstuhl an einer Universität zu besetzen, was bei der Nachfolge von Johannes Leipoldt, ebenfalls einem ehemaligen Institutsmitarbeiter, durchaus zur Debatte stand, gelang Grundmann aufgrund seiner NS-Vergangenheit nicht. Allerdings dozierte er in den 70er Jahren im Theologischen Seminar / Kirchliche Hochschule in Leipzig.

Auch publizistisch war Grundmann weiter erfolgreich tätig: Er veröffentlichte unter anderem in der Evangelischen Verlagsanstalt Berlin wissenschaftlich anerkannte Kommentare zu den synoptischen Evangelien und zu neutestamentlichen Briefen sowie eine Geschichte Jesu Christi. Seine Bücher wurden sowohl von der Evangelischen Kirche in der DDR als auch von bundesdeutschen Verlagen herausgegeben und gehörten zur Standardliteratur in der Theologenausbildung sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland. Zu seinen Hauptwerken nach 1945 zählte auch eine dreibändige Arbeit zur „Umwelt des Urchristentums“, die Grundmann zusammen mit dem ehemaligen Institutsmitarbeiter Leipoldt veröffentlichte. Grundmann zählte damit „zu den auflagenstärksten DDR-Theologen“8. Darüber hinaus publizierte er Aufsätze in theologischen Fachzeitschriften.

In Anerkennung seiner Verdienste wurde er 1974 von der thüringischen Landeskirche zum Kirchenrat ernannt. Dem DDR- Staat gegenüber zeigte er sich überaus loyal. Im Jahr 1956 wurde Grundmann erfolgreich von der Staatssicherheit angeworben. Aus den Stasiakten zu Grundmann geht hervor, dass er sich dezidiert für einen staatsnahen Kurs der Kirche aussprach. Kurz vor seinem Tod am 30. August 1976 in Eisenach arbeitete er noch an einem Paulusbuch, das er allerdings nicht mehr fertigstellen konnte.

Ohne Reue und Schuldbekenntnis

Wie konnte es sein, dass Grundmann auch 1945 in Kirche und Theologie wieder Fuß fasste? Es lag nicht daran, dass Grundmann nach 1945 seine eigene Rolle während der Nazizeit kritisch reflektiert oder gar Schuld bekannt hätte. Die fehlende Reue kann meines Erachtens aufgrund der schweren Verfehlungen Grundmanns auch nicht damit entschuldigt werden, dass dazu in der SBZ oder der späteren DDR sehr viel Mut gehört hätte.9

Erschwerend hinzu kommt, dass Grundmann bezüglich seiner Rolle im Institut eine eigene Geschichtsdeutung entwickelte, die dann nach 1945 gläubige Zuhörerinnen und Zuhörer fand und sogar in kirchenhistorische Standardwerke wie die von Kurt Meier Eingang fand.10 Zur Selbstrechtfertigung seines Tuns und zu seiner vermeintlich moralischen Reinwaschung benutzte Grundmann Konflikte, die sich im Rahmen seiner Institutsarbeit mit anti-christlichen Kräften in nationalsozialistischen Parteistellen ergeben hatten. So formuliert er in seiner Autobiographie aus dem Jahre 1969:

„Wenn man uns, die wir die notvolle Situation der Christenheit in Deutschland nach der Kristallnacht 1938 zum Ausgangspunkt unserer Arbeit nahmen, wie Bilderstürmer ansieht und als Konformisten beurteilt, so wird uns Unrecht getan und der innerste Grund unseres Bemühens nicht gesehen.“

Grundmann beschrieb nach 1945 die Arbeit des Eisenacher Instituts als notwendige Abwehr gegenüber den kirchenfeindlichen Bestrebungen des nationalsozialistischen Staates. Die „Entjudungsarbeit“ des Instituts sei die einzige Möglichkeit gewesen, überhaupt ein Überleben der Kirche während der Nazizeit sicher zu stellen. Grundmann stilisierte sich somit selbst zum Widerstandskämpfer gegen den antichristlichen NS-Staat.

Mit dieser Selbstrechtfertigung gelang es ihm, seine eigene Entnazifizierung in der Kirche voranzutreiben und seine vermeintlich moralische Integrität zu wahren. Zudem profitierte er vom Mangel an geeignetem qualifiziertem theologischem Personal innerhalb der Kirche der DDR. Dies führte offensichtlich dazu, dass die Leitung der Thüringer Landeskirche und auch der Akademien, in denen Grundmann nach 1945 lehrte, sich zwar der Vergangenheit Grundmanns durchaus bewusst waren, allerdings großzügig darüber hinwegsahen. Ein Schuldbekenntnis oder die Reue der beteiligten Personen für das, was sie verbrochen hatten, war für eine Anstellung in der Kirche oder theologischen Wissenschaft nicht gefragt.

Antisemitische Kontinuität bis heute

Da es der Mehrheit der Institutsmitarbeiter nach 1945 gelang, weiter publizistisch und wissenschaftlich tätig sein, stellt sich andererseits aber auch die Frage nach Kontinuitäten in deren Wissenschafts- und Kirchenverständnis sowie in der Verbreitung antijüdischer Denkmuster, die weiterhin auch in den Schriften nach Kriegsende tradiert wurden. So werden in Grundmanns Kommentaren nach 1945, wie Torsten Lattki herausgearbeitet hat, die gleichen antijüdischen Konzepte weiterverfolgt, allerdings weniger offensichtlich, da nun der Bezug zur nationalsozialistischen Rasseideologie fehlt.11

Derartige Konzepte, die Jesus vom zeitgenössischen Judentum absetzten, das als Dunkelfolie dafür diente, um Jesu Herrlichkeit umso heller erstrahlen zu lassen, gehörten allerdings – das gehört zur Wahrheit eben auch dazu – zum theologischen Mainstream neutestamentlicher Wissenschaft in den 1950er bis in die 1970er Jahre.

Vergleicht man die geschilderten Beobachtungen mit dem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, wie er von Norbert Frei, Franka Maubach, Christina Morina und Maik Tändler mit ihrem Buch „Zur rechten Zeit“ bezüglich der Kontinuitäten rechten Denkens in der BRD und der DDR beschrieben wird, so ergeben sich Übereinstimmungen, die auch für das Überleben und das schnelle Wiedererstarken antisemitischer Denkmuster in der heutigen Zeit Erklärungen bieten können:

„Der genauere Blick auf die Jahrzehnte seit 1945 zeigt, dass die vermeintlichen Randprobleme auf der Rechten die bundesdeutsche Geschichte kontinuierlicher durchzogen und stärker geprägt haben als vielfach angenommen: Ende der vierziger Jahre hob im Westen die bis heute anhaltende Rede vom ‚endlich‘ nötigen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit an, während man im Osten begann, diese Vergangenheit unter den großen Teppich des Antifaschismus zu kehren.

Ende der fünfziger Jahre offenbarte die antisemitische ‚Schmierwelle‘ die Beharrungskraft rechter Feindbilder in der westdeutschen Gesellschaft, aber Schändungen jüdischer Friedhöfe gab es auch in der DDR. In den späten sechziger Jahren manifestierte sich in der Bundesrepublik erstmals der – freilich nicht zwingende – Zusammenhang von Wirtschaftskrise und rechten Mobilisierungserfolgen, und die NPD zog in mehrere Landesparlamente ein.

Seit den späten siebziger und vor allem in den achtziger Jahren verdichteten sich diese Phänomene zu jenen massiven Herausforderungen, vor denen wir heute stehen. Damals verstärkte sich auf beiden Seiten der Mauer Fremdenfeindlichkeit bis hin zur offenen Gewalt. Zur selben Zeit entstanden die Neue Rechte und bis dahin ungekannte Strukturen rechten Terrors, aus denen jene Täter kamen, die Anfang der neunziger Jahre – nicht selten unterstützt von scheinbar braven Bürgern – vor allem im Osten, aber auch im Westen der Republik Hunderte von rassistisch motivierten Anschlägen verübten; vereinzelt gab es sogar Pogrome.

Die Wucht der Parolen-Politik, die gegenwärtig von einer sich in der AfD und ihrem Umfeld sammelnden nationalistischen und fremdenfeindlichen Bewegung ausgeht, ihre Fähigkeit, die politische Agenda der Republik zu bestimmen, sind ohne diese Vorgeschichte kaum zu verstehen.“12

Zu der zu Beginn gestellten Frage, warum sich der Menschen- und speziell der Judenhass so nachhaltig in unserer Gesellschaft gehalten hat, ist also festzustellen, dass in beiden deutschen Staaten nach 1945 versäumt wurde, den Anfängen dadurch zu wehren, dass gesellschaftlicher Antisemitismus gründlich aufgearbeitet und effektiv bekämpft worden wäre.

Heute ist Antisemitismus nicht nur ein Problem im rechtsextremistischen Spektrum, sondern er ist vielmehr in der „Mitte der Gesellschaft“ angekommen. Dies liegt auch, wie an dem Beispiel Grundmann beschrieben, an Kontinuitäten, mit denen trotz Auschwitz nach 1945 nicht gebrochen wurde. Nur durch die Beschäftigung mit der Geschichte und dem Lernen aus den Fehlern der Vergangenheit sowie daraus resultierend einer klaren Haltung gegen jede Form von menschenverachtenden Einstellungen und Taten besteht eine Chance, auch die gesellschaftlichen und strukturellen Wurzeln des Judenhasses zu erkennen und diesen effektiv entgegenzuwirken.


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Anmerkungen:

1 Zitat nach Oliver Arnhold: „Entjudung” – Kirche im Abgrund. Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928-1939. SKI Bd. 25/1. Berlin 2010. S. 411f.

2 Vgl. Lutz van Dick: Der Attentäter. Herschel Grynszpan und die Vorgänge um die „Kristallnacht“. Reinbek 1988.

3 Zur Geschichte des kirchlichen “Entjudungsinstituts” vgl. auch Susannah Heschel: The Aryan Jesus. Princeton 2008 und der Eule-Artikel auf Deutsch: „Wie Jesus zum Arier wurde“; Oliver Arnhold: „Entjudung“ von Theologie und Kirche. Das Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1939–1945“. Leipzig 2020; Christopher Spehr / Harry Oelke (Hg.): Das Eisenacher „Entjudungsinstitut“. Göttingen 2021.

4 Zitat nach Oliver Arnhold: „Entjudung” – Kirche im Abgrund. Das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben 1939-1945. SKI Bd. 25/2. Berlin 2010, S. 591f.

5 Karl Kupisch: Die deutschen Landeskirchen im 19. und 20. Jahrhundert. Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 4, 2. Teil. Göttingen 1966, S. 170.

6 Der Versuch, antijudaistische, völkische oder rassebiologische Merkmale von Antisemitismus in den Schriften Grundmanns zu unterscheiden, um dann zu behaupten, dass Grundmann keinen rassebiologischen Antisemitismus vertreten habe (vgl. Karl Wilhelm Niebuhr: Das Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ und das Wirken Walter Grundmanns nach 1945, in: Stefan Alkier, Martin Keßler, Stefan Rhein (Hg.): Evangelische Kirchen und Politik in Deutschland. Konstellationen im 20. Jahrhundert. Tübingen 2023, S. 429-460), ignoriert nicht nur den inneren Zusammenhang von völkischem und rassebiologischem Antisemitismus, sondern lässt sich auch anhand der vorliegenden Quellen zum „Entjudungsinstitut“ kaum halten.

7 Demgegenüber muss dem Versuch von Niebuhr (Niebuhr 2023 (Anm. 9)) widersprochen werden, die Bedeutung des Instituts dadurch kleinzureden, dass er auf die „recht kurze Zeit seines Bestehens“ und eine vermeintlich „begrenzte Reichweite seiner Produkte“ (S.443) verweist. Dies steht bereits im Kontrast zu Erkenntnissen des jüdischen Wissenschaftlers Max Weinreich, der sich 1946 mit der Beteiligung von deutschen Intellektuellen an der antisemitischen NS-Propaganda beschäftigt hat. Weinreich ordnet das kirchliche „Entjudungsinstitut“ in die Reihe der vom NS-Staat ins Leben gerufenen antisemitischen Forschungseinrichtungen wie folgt ein: „Obwohl es weniger glanzvoll war als die anderen, hatte es doch seinen Platz im Kreis der fünf antijüdischen Forschungsinstitute der Hitlerzeit. Was seinen Einsatz an Energie betrifft, war es einzigartig.“ (Max Weinreich, Hitler’s Professors: The Part of Schaolarship in Germany’s Crimes against Jewish People. New York 1946, S. 62). Weinreichs Beobachtungen werden auch durch die Arbeiten von Heschel und Arnhold (Heschel 2008 oder Arnhold 2020 (beide Anm. 3) bzw. Arnhold 2010 (Anm. 4)) bestätigt.

8 Niebuhr 2023 (Anm. 9), S. 448.

9 Vgl. Niebuhr 2023 (Anm. 9), S. 444f.

10 Vgl. z.B. Kurt Meier: Die Deutschen Christen. Das Bild einer Bewegung im Kirchenkampf des Dritten Reiches. Halle/Saale 1964, S. 291.

11 Torsten Lattki: „Das Bundesvolk kommt um im Gericht“. Der wenig verhüllte theologische Antijudaismus Walter Grundmanns in der DDR, in: Hans-Joachim Döriung/Michael Haspel (Hg.): Lothar Kreyssig und Walter Grundmann. Zwei kirchenpolitische Protagonisten des 20. Jahrhunderts in Mitteldeutschland. Weimar 2014, S. 78-92.

12 Norbert Frei/Franka Maubach/Christina Morina/Maik Tändler: Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus. Berlin 2019, S. 208f.