Kolumne Gotteskind und Satansbraten

Struwwelpeters Erben

Soll man Kinder dressieren wie Hunde? Daniela Albert ärgert sich über die schwarze Pädagogik, die immer noch in unserer Gesellschaft steckt.

Als dreifache Mutter und Erziehungswissenschaftlerin blicke ich manchmal mit schwerem Herzen in die Welt. Was mich im Augenblick umtreibt, ist die Tatsache, dass die Rechte von Kindern in Deutschland noch immer eine untergeordnete Rolle spielen (trotz des seit Dienstag freien Weges für Kinderrechte in der Verfassung).

In der Coronakrise bleiben Kinder die kleinen, großen Verlierer. Nach wie vor gibt es keine Konzepte, Kinder krisensicher zu beschulen. Familien werden auch zu Jahresbeginn in eine unmögliche Situation gebracht. Blanke Überforderung macht sich mancherorts breit, denn der Druck steigt. Kein Ende in Sicht und auch keine Lösungen.

Konditionierung mit dem Klicker

Schnelle Lösungen verspricht stattdessen der Privatsender RTL, der Kinder mal wieder als kleine Problemfälle vor die Kamera zerrt. Begleitet werden Familien in der neusten TV-Sendung nicht etwa von einer ausgebildeten Pädagogin, sondern von einer Hundetrainerin.

Denn was bei Hunden funktioniert, funktioniert auch bei allen anderen Säugetieren, verspricht Aurea Verebes und erklärt den verzweifelten Eltern eines kleinen Mädchens ihren sogenannten Klicker. Dieser erzeugt ein Geräusch, wenn man draufdrückt. Ziel von Frau Verebes ist es, dass die Kleine bei diesem Geräusch negatives Verhalten beendet und sich ihrer Mutter zuwendet – weil sie weiß, dass sie dann belohnt wird. So traurig, so wahr.

Immerhin: Die deutsche Presselandschaft bewertet dieses neue Format diesmal überraschend kritisch; seitdem unsere Feuilletons (und zwar nicht nur die konservativen) den Film Elternschule lautstark gefeiert haben, erwarte ich von dieser Seite ja immer das Schlimmste. Trotz alledem: Dass solche TV-Shows im Jahr 2021 überhaupt möglich sind, ist ein Skandal.

Das Watt der schwarzen Pädagogik

Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir in Deutschland mühsam durch tiefsten Schlamm waten. Wie bei einer Wattwanderung vielleicht, in der man im weichen Schlickwatt gelandet ist. Man gibt sich Mühe, vorwärts zu kommen, doch dann hängt man auf einmal mit dem Gummistiefel fest. Unser Watt, durch das wir waten müssen, heißt schwarze Pädagogik.

Sie hat das Aufwachsen von Kindern in unserem Land Jahrhunderte lang geprägt. Mal mehr, mal weniger. Ihre Grundlage war ein Gedanke, der sich auch in der Bibel finden lässt: Der des Kindes als Sünder, verdorben von klein an. Dieser Gedanke, der ja auch eine Aussage über den Menschen im Allgemeinen ist, wurde von Christ:innen irgendwann einseitig auf das Kind übertragen. Kinder, so dachte man, müsse man den Teufel früh austreiben – durch Strenge, Härte und ohne die Rute zu schonen.

Natürlich sind wir heute weiter. Theoretisch. Praktisch fand die Uni Ulm gerade heraus, dass noch immer über 40 Prozent der Deutschen Schläge auf den Hintern für ein angebrachtes Erziehungsmittel halten. Gerade bei sehr frommen Christ:innen dürfte die Zustimmung noch viel höher sein, lässt sich aus zahlreichen Untersuchungen vermuten. Auch das mussten wir im vergangenen Jahr hier leider anhand eines erschreckenden Videos diskutieren.

Erklären lassen sich solche Einstellungen nur so: Das Bild vom verdorbenen Kind oder wie später die nationalsozialistische Lungenärztin Johanna Haarer es nannte – dem Haustyrann – sitzt noch tief in den Köpfen.

Unsere Chance

Diese Tatsache macht mich an manchen Tagen ein bisschen mürbe. Müde in jedem Fall und wütend, denn ich stelle mir vor, was wir in Deutschland für unsere Kinder erreichen könnten, wenn wir uns endlich aus dem Schlick kämpfen und festen Boden betreten könnten. Stellt euch vor:

Wir könnten Kinder erziehen, die Annahme und Gehör statt Klickertraining erfahren, von denen flächendeckend niemand mehr das Wort Ohrfeige kennt und die nicht gelernt haben, dass man ihnen bei Problemen Auszeiten, Liebesentzug oder Verbote verordnet, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Ich bin es leid, gegen düstere Vorstellungen von kleinen Tyrannen anzuschreiben, die sich aus dem Erbe von Jahrhunderten schwarzer Pädagogik speisen. Ich bin es leid, dass gute Ansätze und aufklärende Bücher (wie zum Beispiel Julia Dibberns „Die Tyrannenlüge“) verpuffen, während sich andere mit plakativen Gegenbehauptungen eine goldene Nase verdienen. Und ich bin es leid, dass die Situation von Kindern in unserem Land von den beiden großen Kirchen nicht mehr Aufmerksamkeit bekommt – und das, obwohl Jesus uns etwas ganz anderes gelehrt hat!

Und deshalb habe ich einen Wunsch: Vor allem evangelische Landeskirchen lieben ihre Themenreihen: In Predigten, Gesprächskreisen, als Motto für die Fastenzeit oder die Zeit zwischen Sommer und Advent. Ich hätte einen Themenvorschlag für 2021: „Struwwelpeters Erbe – wie schwarze Pädagogik uns bis heute prägt und wie wir sie mit Jesus überwinden können“.

Ich finde es wichtig, dass wir in der Kirche über den tiefen Schlick sprechen, in dem wir, wenn wir ehrlich sind, alle noch irgendwie stecken. Denn ich glaube, wenn wir diesem Thema eine breite Öffentlichkeit geben, machen wir die Welt nicht nur für unsere Kinder besser.