Theologie: Eine Zukunft ohne Gestern ist eine Zukunft ohne Kontext
Ein Theologieprofessor wirft ein Licht auf die Missstände der universitären Theologie. Dass er ausgerechnet die historischen Disziplinen als Problem beschreibt, passt nicht zum Vorhaben, Transparenz zu schaffen.
Im November 2022 verfasste Jörg Lauster, Dogmatikprofessor und Prodekan an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU München, einen Gastbeitrag für den Kulturteil der Süddeutschen Zeitung (€). Unter dem Titel „Mehr Licht. Dauerbaustelle Universität: Zum Renovierungsbedarf in der evangelischen Theologie“ beschrieb er die gegenwärtige Situation evangelisch-theologischer Ausbildungs- und Forschungskontexte und stellte Forderungen für die Zukunft der Theologie.
Ausgehend vom Beschluss des Evangelisch-Theologischen Fakultätentags, das Erste Theologische Examen – wie Lauster es sieht – eher geringfügig als grundsätzlich zu reformieren, kritisiert er den hohen historischen Anteil der Theologie, den er mit 80% beziffert. Vermutlich – so erschließe ich mir diese Zahl – geht er hier davon aus, dass im klassischen Fächerkanon aus Altem Testament, Neuem Testament, Kirchengeschichte, Praktischer Theologie und (seiner Disziplin) Systematischer Theologie nur letztere nicht (nur) historisches Wissen vermittele. Es könnte auch sein, dass er die Praktische Theologie als Ausnahme von der Regeln meint. By the way wird je nach Lehrstuhlausrichtung durchaus auch dort historische Forschung betrieben.
Lauster fragt: „Muss ein Studium, das zur religiösen Vermittlung bilden soll, zu 40 Prozent aus Bibelexegese und insgesamt zu mehr als 80 Prozent aus historischem Wissen bestehen?“ Ziel sei doch eine Übersetzung in die Gegenwart! Da blutet mir das Herz als Kirchenhistorikerin. Und ich muss erstmal einhaken:
Meine Kirchengeschichte
Offenkundig habe ich einen gewissen Hang zu Geschichte, sonst wäre das wohl kaum „meine Disziplin“ geworden bzw. seit Studienbeginn gewesen. Mir ist es (fast) immer ein Faszinosum, wenn Kolleg*innen begeistert von (Kult-)Steinen berichten oder irgendwelchen Inschriften an denen sie arbeiten – mensch bemerke: Das sind natürlich auch historische Quellen! –, oder noch mehr, wenn Leute aus ganz anderen Fachbereichen mir ihre (Forschungs-)Interessen erzählen: Nicht immer springt der Funke über. Ich will auch nicht sagen: Studiert nur Kirchengeschichte, weil beste Disziplin. Aber ich möchte dafür werben, dass historisch „mehr“ als nur Vergangenheit meint.
Kirchengeschichte ist die Fachrichtung, die zeigt, welchen Problemen sich Christ*innen schon einmal ausgesetzt sahen, welche Lösungen schon einmal gefunden wurden, welche Versuche scheiterten und wie sehr dies alles nicht vom Himmel gefallen ist. Kirchengeschichte zeigt, wenn es gut läuft, (Fehl-)Entscheidungen und Entwicklungen auf und stellt vermeintliche Selbstverständlichkeiten (z. B. Christ*innentum = Europa) in Frage – auch, weil sie aufweist, dass schon einmal ganz andere als „christlich“ verstandene Handlungsoptionen (z. B. Kreuzzüge) gewählt wurden.
Gerade die jüngere Kirchengeschichte hilft dabei, eigene Identitätsaspekte einzuordnen. Jetzt werden einige Fachkolleg*innen sagen, dass das aber nicht Zielrichtung der (Kirchen-)Geschichte sein kann oder muss. Muss es sicherlich nicht. Manche werden sagen, dass die Gefahr besteht, politische Programme einzutragen. Fair enough. Ist auch auf jeden Fall auch schon so geschehen.
Hilfe zur kritischen Selbstverortung
Für jede Form der Theologie braucht es – und da hilft meines Erachtens eben besonders gut die Kirchengeschichte – eine kritische Selbstverortung derjenigen Personen, die sie betreiben. Dann würde sich wahrscheinlich auch zeigen, dass diejenigen, die sich gegen politische Programme wehren, selbst welche verfolgen. Wird damit der Fokus der Theologie verkehrt, weil es auf einmal um den Menschen geht?
Ich kann den Einwand verstehen, aber gehe davon aus, dass der Hauptanteil einer so beschaffenen The*logie dann nicht diese Selbstreflexion wäre, sondern dass ein Interesse an z. B. „traditionellen“ Wissensbeständen der europäischen Geistesgeschichte, dazugewinnt, wenn markiert wird, dass die Beschäftigung damit nicht per se selbsterklärend und ohne Kontext geschieht. Dass ich mich z. B. als Tochter einer Pastorin mit Frauenordination beschäftige, ist sicherlich ein Teilbereich meines Interesses. Darüber hinaus gibt es andere und sicherlich einige, die mir (noch) nicht bewusst sind.
Warum sich Personen mit Kant, Hegel & Co. beschäftigen, fällt auch nicht vom Himmel. Sicherlich hängt es damit zusammen, dass andere sich damit befasst und dabei vielleicht etwas übersehen haben, auf das sie jetzt hinzuweisen sind. Es kann aber auch sein, dass es gar nicht so sehr um den Inhalt geht, sondern darum, dass es halt „alle“ machen. Das ist aber keine ausreichende Begründung. Lauster berichtet auch von Menschen, die „den wissenschaftlichen Eros gegen einen unersättlichen Posten- und Machthunger eingetauscht haben.“ Ihm geht es zwar um Drittmittelbewilligungen, aber dass forschende Personen verschiedene Motive haben, zeigt es immerhin.
Und dann ist es vielleicht auch karriereförderlich für junge Wissenschaftler*innen, die „klassischen“ Bestände zu beackern. So setzt sich das System ungebrochen fort. In Fächern mit starker kulturwissenschaftlicher Prägung ist die Reflexion über eigene Forscher*innen-Positionen schon weiter vorangeschritten. Als intersektionale Feministin wünsche ich mir, dass Privilegienbewusstsein und Identitätskategorien wie Geschlecht, Rassifizierung, Milieu etc. mit einbezogen werden in die Selbstreflexion – wie auch in den Umgang mit einem Forschungsobjekt.
Die Universitätskritik eines Professors
Zurück zu Lauster, der die theologischen Fächer entrümpeln will: Innovationsoffenheit erkennt er vor allem in einer Kirche, die angesichts ihres Nachwuchsmangels flexibel wirkt. Probleme sieht er eher bei Kolleg*innen, die sich noch an Bologna abstrampeln, und in den überkommenen intransparenten Strukturen der akademischen Nachwuchsförderung. Eine Auswahl sei zu treffen, auch wenn möglichst viele Menschen Zugang zu Bildung haben sollen.
In diesem Kontext kritisiert Lauster auch das theologische Verlagswesen: Dass Promovend*innen hohe Druckkostenzuschüsse zahlen müssten, sei ebenso unverständlich wie die engen, unbeweglichen und abgeschlossenen Zirkel der Herausgeber*innenkreise: „Mehr Licht – das heißt mehr Transparenz und mehr Partizipation. […] Daran nach Kräften mitzuwirken, ist die Verpflichtung aller, die das große Glück haben, in Lebenszeitstellungen an Universitäten lehren und forschen zu dürfen.“ Damit hat Lauster sein Privileg ganz gut eingeschätzt! Tatsächlich muss sich vor allem „von oben“ etwas ändern. Ich bin und bleibe gespannt und hoffe, dass die Kirchengeschichte einen Platz behält. Denn: Eine Zukunft ohne gestern, ein Blick nach vorne ohne Blick zurück, ist zum Scheitern verurteilt.
Etwa vier Wochen nach seinem ersten Artikel wurde Lauster von zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick aufbauend auf seinen SZ-Artikel interviewt. Lauster wiederholt oder ergänzt, dass das Theologiestudium „hoffnungslos aus der Zeit gefallen“ sei: „Wir müssen historischen und philologischen Ballast über Bord werfen, damit wir in der Gegenwart ankommen können.“ Von Griechisch, Hebräisch und Latein sollten „funktionale Sprachkenntnisse“ vermittelt werden. Theologie und Kirche seien aufeinander zu beziehen – auch in der Verbindung der ersten universitären und zweiten kirchlichen Ausbildungsphase für den Pfarrberuf. Klammer auf: Die meisten Menschen, die an Theologischen Fakultäten oder Instituten für (Evangelische) Theologie studieren, studieren es auf Religionslehramt und müssen kein Hebräisch lernen – Klammer zu.
Das Ziel des Studiums, so Lauster, müsse die Vermittlung von Kompetenzen – hier also wieder die Vermittlung christlicher Gehalte in die Gegenwart hinein – sein, gepaart mit mehr hochschuldidaktischer Finesse. Und: „Wer zu viel historisches Wissen verfüttert, darf sich nicht wundern, wenn er am Ende eines Studiums von den Examenskandidaten (sic!) Unvergorenes vor die Füße erbrochen bekommt.“ Außerdem sieht Lauster eine Chance der Übertragung des Theologiestudiums ins Bachelor-/Mastersystem. Als konkrete Idee dafür stellt er eine multiprofessionell besetzte Gruppe vor, die binnen eines Jahres einen Vorschlag für eine Rahmenordnung des neuen Theologiestudiums vorlegt, bevor diese von den entsprechenden Gremien verabschiedet wird.
Das vielleicht einmal als kurze Raffung dieses Interviews. Gegenüber dem SZ-Artikel sind einige Pointen geschärft und eine klarere Vision entworfen: Aha, Bachelor/Mastersystem. Aha, Abkehr von dem historisch-überlieferten 5-Fächerkanon, in dem die Religionswissenschaft oder die Ethik als möglicherweise gegenüber der Dogmatik noch einmal abzugrenzende Disziplinen nicht vorkommen. Und aha, anregendere Vermittlung.
Kleinere Brötchen backen
Vielleicht wäre es gut, mit dem Backen kleinerer Brötchen zu beginnen: Die Idee, Hochschuldidaktik mehr wertzuschätzen – warum das nicht in professoralen Alltag integrieren durch Fortbildungsprogramme? Und dann die mittleren Brötchen: Z. B. in der Schweiz hat es ja auch geklappt, die Theologie ins Bachelor-/Mastersystem zu überführen. Anschauungsmaterial gibt es also schon. Vielleicht wäre es sogar sinnvoll, sich theologische Ausbildung global anzuschauen. Die Vermittlung des Christ*innentums in die jeweilige (= kontextuelle) Gegenwart hinein, stellt sich ja überall als Aufgabe. Dann wäre es doch gut, Expert*innen anderer Ausbildungskonzepte kennenzulernen. Dabei würde wahrscheinlich auch eine koloniale Prägung theologischer Ausbildung auffallen, die Schritt für Schritt vor Ort dekolonisiert wird. Spannend!
Bei dieser Beobachtung könnte auch eingesehen werden, dass die eurozentrische natürlich nicht die non-plus-ultra-Perspektive ist, sondern deutsche Theologie genauso kontextuell ist wie andere auch. Die eigene Kontextualität (anzu-)erkennen, wäre ein aus meiner Sicht sehr gewinnbringender Fokus für diesen „neuen Fächerkanon“. Das scheint mir ehrlich gesagt das größte Brötchen zu sein, das zu backen, der deutschen evangelischen Theologie aufgetragen ist. Ich bin mir nicht sicher, ob die Idee, das in einem Jahr mehr oder weniger zu konzeptionalisieren, nicht doch ein wenig realitätsfern ist.
Dass in Instituten für Evangelische Theologie (an Universitäten, an denen die Ev. Theologie keinen Fakultätsstatus (mehr) hat und kein Pfarramtsstudiengang angeboten wird, Anm. d. Red.) wahrscheinlich schon ein ganz anderer Wind weht als an den Fakultäten, wäre ebenfalls ernst zu nehmen. Hier werden die klassischen „fünf“ Fächer meines Wissens nach nicht mehr unbedingt durch Einzelpersonen repräsentiert. Auf der Vermittlung – Didaktik – der jeweiligen theologischen Disziplin liegt ein starker eigener Fokus. Die Fakultäten sollten erstmal auf Tuchfühlung mit den Instituten gehen, die sich deutlicher der Vermittlungsaufgabe aussetzen, eigene Lehrstuhldenominationen zu entwickeln, noch häufiger mit Universitätsleitungen ringen und darin eingeübter sind, die eigene Relevanz unter Beweis zu stellen.
Das Backen frischer Brötchen ist richtig anstrengend, wenn Menschen überzeugt, Mehrheiten organisiert, ganz neue Konzepte entwickelt werden müssen – und mensch sich am Ende selbst umstrukturieren muss. Vielleicht war es auch gar nicht so geschickt, eine so umfassende Kritik öffentlich zu droppen, hinter der sich anscheinend noch nicht wirklich viele Leute versammeln? Verschiedene Problemlagen so miteinander zu vermengen – Studiensystem, Personenförderung, eigene Wissenschaftskultur? Schließlich: Selbst wenn die Kirchen so flexibel wären, wie Lauster es darstellt: Sind sie wirklich bereit, ihre Ersten Theologischen Prüfungen vollkommen an die Unis zu delegieren? Da fällt mir ein: Diese Diskussion gibt es – historisch gesehen – seit etwa hundert Jahren immer mal wieder. Und auch aktuell sind Fakultätsexamina in den Leitungen der Landeskirchen mal mehr und mal weniger gern gesehen.
Jörg Lauster hat ein paar Baustellenscheinwerfer aufgestellt, vielleicht konnte ich noch ein paar dazustellen. Was genau sie ausleuchten, was renoviert bzw. sogar neugebaut werden soll, tritt teilweise klarer hervor, anderes bleibt noch im Dunkeln. Zum Schluss nur so viel: Auch beim Neubau werden alte Techniken verwendet. Sollten wir also doch besser ein Zelt aufstellen, das auf neue Bedürfnisse hin variabel eingesetzt werden kann? Vielleicht wackelt auch schon mehr und anderes am bisherigen Bau der Theologie, als von universitären Büroräumen aus wahrgenommen wird?