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„Toter Punkt“: Die Angst vorm Sterben der Kirche

Die Kirche muss sterben, damit sie auferstehen kann, glaubt der Theologe Tomáš Halík – und katholische Bischöfe pflichten ihm bei. Allerdings ziehen sie aus dieser „österlichen Botschaft“ keine Konsequenzen.

Zehn Wörter lösten vergangene Woche ein Beben aus: „Wir sind – so mein Eindruck – an einem gewissen „toten Punkt“, sprach Seine Eminenz der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx, und bat seinen irdischen Vorgesetzten in Rom um die Annahme seiner Rücktrittsbitte.

Die in seiner Bischofsstadt ansässige Süddeutsche Zeitung versuchte sich in tätiger Nächstenliebe, widmete der episkopalen Bestandsaufnahme den Lexikoneintrag der Montagsausgabe und riet was nun getan werden könnte:

„Am ehesten noch könnte die Analogie zur Genealogie helfen: Dort gilt als goldene Regel, noch mal ganz genau in den Kirchenbüchern nachzuschauen. Wer wirklich will, findet dort bestimmt auch Hinweise, wie die Kirche wieder die Herzen ihre Mitglieder erreicht.“

Halík-Jünger unter den Bischöfen

Der tschechische Theologe Tomáš Halík hat schon vor einiger Zeit genau nachgeschaut – und Kardinal Marx scheint ihm dabei, wie einige seiner Mitbrüder, „über die Schulter geschaut“ zu haben. Jüngst „outete“ sich der Mainzer Oberhirte Peter Kohlgraf als Halík-Leser und sprach aus, was Marx dem Papst schrieb: Die Kirche wird in ihrer jetzigen Form sterben. Damit seien aber die göttlichen Möglichkeiten noch nicht am Ende.

Tomáš Halík formuliert diese Gedanken schon seit Langem. Prominent Anfang des Jahres in seinem neusten Buch „Die Zeit der leeren Kirchen“ – erschienen unmittelbar bevor der Münchener Erzbischof dem Papst seinen Rücktrittswunsch vortrug. Halík denkt in seinem Predigtbuch über die Zukunft des christlichen Glaubens nach – und widmet sich dabei auch der Frage nach kirchlicher Identität. Im Kern gehe es immer um die Auferstehung. So formuliert es auch der Münchener Erzbischof.

Halík geht aber darüber hinaus. Er modifiziert die Denkfigur der creatio continua („fortdauernde Schöpfung“) zur resurrectio continua („fortdauernden Auferstehung“). Wie ein lebensspendender Fluss durchfließe die Realität des Auferstandenen Geschichte und menschliche Schicksale. Immer wieder werde dies deutlich. Diese Wirklichkeit trete „in den Augenblicken von Konversionen und Reformen, die durch Krisen und Prüfungen angekündigt werden“ in den persönlichen Lebensgeschichten der Gläubigen sowie in der Geschichte der Kirche an die Oberfläche. Dann entstehe eine neue Lebensqualität – eine „hinreißende Attraktivität der christlichen Existenz“.

Mit seinen theologischen Überlegungen weitet Halík den Blick von der resurrectio mortuorum („Auferstehung der Toten“), auf Momente „alltäglicher“ Auferstehung – ganz prämortal. Beispielhaft nennt er die Stimme des Gärtners am Ostermorgen oder den Fall Pauli vor Damaskus. Auch der Kirchenvater aus Hippo ist ihm dafür Bürge:

„Als Augustinus im Garten »Tolle, lege!« vernahm, das ein Kind vor sich hinsang, dann war das nicht nur einfach irgendwann nach der Auferstehung, sondern in diesen Ereignissen war die Kraft und die Wirklichkeit der Auferstehung gegenwärtig, auch dort geschah Auferstehung, dort konnten sie diese Menschen als ein nicht abgeschlossenes, lebendiges Ereignis erfahren.“

Immer wieder insistiert der Theologe, dass zum Auferstehen das „Sterben“ gehöre. In biblischen Erzählungen werde das radikale Veränderungspotential der Begegnungen mit dem Auferstandenen, nach dem Gang „durch das Tal des Todesschattens“, ansichtig. „Auch im Glauben muss etwas sterben, damit es in einer neuen, verwandelten Form auferstehen kann.“

Das lässt sich ebenso in der Erklärung des Münchener Erzbischofs lesen: „Ein amerikanischer Reporter fragte mich in einem Gespräch über die Missbrauchskrise in der Kirche und die Ereignisse des Jahres 2010: „Eminence, did this change your faith?“ Und ich antwortete: „Yes!“ Im Nachgang wurde mir deutlicher, was ich gesagt hatte.“

Die Kirche muss sterben, um auferstehen zu können

Persönliche Tode – darüber wurde schon viel gepredigt und gelehrt. Doch Halík wagt sich weiter aus der Deckung. Auch die Kirche müsse sterben, konkretisiert er:

„Der Gott, von dem die Bibel spricht und der sich den menschlichen Versuchen ihn zu benennen, entzieht und sich manchmal sogar dagegen verwehrt, lässt es von Zeit zu Zeit zu, dass seine Tempel zerstört werden.“

Die Situation der Kirche gleiche der des Jerusalemer Tempels 70 nach Christus. „Ist nicht der Vorhang des Tempels schon längst entzwei gerissen, weht der Geist Gottes nicht schon längt frei über alle Mauern hinweg, die die einzelnen Höfe trennen?“, fragt Halík. Von der erhabenen Tempelform der christlichen Religion, so kommt es dem Theologen vor, stehe höchstens noch eine Klagemauer. Wolle das Christentum authentisch sein, müsse es sterben und auferstehen.

Dabei gibt er zu bedenken, dass der auferstandene Christus nicht in seiner früheren Gestalt zurückgekehrt sei, sondern „wie ein unbekannter Fremder“ auftrat. Erst durch seine Wunden habe er sich (wieder) identifizieren lassen – diese Wunden seien dann auch Heilung und Trost für die Jünger gewesen. Theologisch sei diese Glaubenserfahrung der Weg zur Hoffnung. „Die Evangelien wollen offensichtlich betonen, dass das Mysterium der Auferstehung der Toten eine radikale Verwandlung ist, keine bloße Wiederbelebung einer Leiche“. Wohin das führt? Halík äußert sich zunehmend kirchenpolitisch.

Sexualmoral, Weiheamt, Wahrheitsanspruch – mit der Auferstehung ereigne sich „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist.“ Halík stellt fest und betont immer wieder, dass die kirchliche Gemeinschaft für viele Fragen keine Antworten habe. Die Kirche müsse stets mit den Suchenden suchen, sich immer wieder öffnen und bewusst werden, dass der Geist wehe, wo er wolle. Er lasse sich nicht in Kirchenmauern begrenzen, sondern setze sich in den persönlichen Lebensgeschichten fort. Gerade bei den Minderheiten und Ausgegrenzten sei theologische Erkenntnis zu finden. Bei den Minderheiten müsse die Wahrheit gefunden werden, fordert er.

Für Halík ist die Säkularisierung nicht das letzte Kapitel der religiösen Geschichte. Vielmehr handle es sich um die Zeit „für eine tiefe Transformation der Religion und die Zeit für die Reform der Kirche.“

Die gläserne Decke

Sterben der Kirche – lieber wird von Reform und Transformation gesprochen. Halík bewegt sich wie alle kirchlichen Akteure im Spannungsfeld zwischen Theologie und Ekklesiolatrie. Die österliche Botschaft der resurrectio continua stößt mit Blick auf die Kirche Jesu Christi an ekklesiologische Grenzen. Die amtlich abgesicherte Kirchenstiftung und -verfassung (vgl. Lumen Gentium 8) kann theologischen Ideen und Narrativen vom kirchlichen Sterben, Verwandeln und Auferstehen nicht wirklich Raum geben. Was theologisch erdacht wird, ist ekklesiologisch undenkbar.

Dass allein die theologische Idee, Kirche könne sterben (und auferstehen) zu Nervosität führt, wurde nach Marx‘ öffentlichkeitswirksamen Statement überdeutlich. Ulrich Waschki sorgte sich um die öffentliche Wahrnehmung der Kirche: „Bei allen berechtigten Reformforderungen müssen wir aufpassen, dass wir unsere Kirche nicht kaputtreden.“ Die Öffentlichkeit nehme Kirche sowieso schon als „maroden Laden, der nur noch aus Trümmern moralischer Verkommenheit besteht“ wahr. Ein gewisser Druck könne aufrechterhalten werden, aber doch bitte „ohne dabei zu überziehen“, wie kürzlich Erik Flügge in Bezug auf die Segnungen homosexueller Paare auf katholisch.de schrieb. Ausdauer ist gefragt. Zu viel Druck führt zum Scheitern. Was unkontrolliert, gar unverfügbar daherkommt, könnte letztlich doch stören und gefährlich werden.

Theologische Gedanken stoßen schnell an eine gläserne Decke. Dies wurde diese Woche auch in Halíks Handeln deutlich. Nachdem Kardinal Marx – im halíkschen Duktus – um Annahme seines Rücktritts gebeten, eine systemische Bestandsaufnahme dargelegt und seine (mit diesem Schritt verbundene) österliche Hoffnung formuliert hatte, unterstütze Halík eine Petition, die an den Papst appellierte den Rücktritt des Münchener Oberhirten nicht anzunehmen. Der Theologe, der die Botschaft von der resurrectio continua stark macht, agiert gegen den Kairos, der die Praktikabilität seiner theologischen Rede hätte erweisen können.

Mit Blick auf die Nichtannahme des Rücktritts in brüderlicher Zuneigung, die der Papst Kardinal Marx am 10.06.21 übermittelte (wir berichteten), zeigt sich, welch systemsprengendes Potential die von Halík formulierte und im deutschen Episkopat rezipierte Idee der resurrectio continua im Gegensatz zu konventionell-lebenserhaltenden Maßnahmen der „Kirchenreform“ hat.

Nach einem kurzen Beben – das auch manch ein Bibelredaktor in seine Version der Ostergeschichte eingefügt hat – gilt wohl aber weiter: Was nicht sein darf, kann nicht sein – auch wenn es noch so sehr einem proprium des christlichen Glaubens entspräche: der Hoffnung auf Auferstehung.