Ukraine-Krieg und Trauma-Forschung: Raus aus der Schnappatmung

Der Ukraine-Feldzug Russlands dauert seit zwei Monaten an. Benjamin Isaak-Krauß erinnert an traumasensible Perspektiven, die uns jetzt helfen können.

Eine der bahnbrechendsten Bewegungen in der Friedensarbeit des letzten Jahrzehnts – neben der empirischen Neubewertung des gewaltfreien Widerstands – ist die Integration der interdisziplinären Traumaforschung in Prozesse der Friedensbildung, Präventions- und Versöhnungsarbeit. Während meines Studiums der Theologie und Konflikttransformation habe ich dabei besonders den Ansatz des „Strategies for Trauma Awareness and Resilience“ (kurz: STAR) schätzen gelernt und wurde in meiner Perspektive auf Friedensarbeit nachhaltig davon geprägt.

Es ist gut zu sehen, dass auch in Deutschland das Bewusstsein für die traumatischen Folgen und ihre generationenlange Halbwertzeit wächst. Mich erreichen derzeit mehr Texte und Fortbildungen zu traumasensibler Arbeit mit Geflüchteten, Veteranen der Bundeswehr und in der Entwicklungshilfe aber auch mit Senioren und Kindern, als je zuvor. Dieses breite Bewusstsein für Trauma und Resilienz ist eine echte Errungenschaft!

Und es ist bitter nötig; Denn wir alle tragen indirekte Traumata in uns, etwa das kollektive Trauma des „Nichthandelns“ bei den serbischen Massakern in Srebrenica, die generationelle Traumata der Kriegskinder und –enkel, und vieles mehr. Aber diese Traumata beeinflussen uns nicht nur individuell. In den politischen Entscheidungsprozessen und der gesellschaftlichen Debatte insbesondere zur Aufrüstung der Bundeswehr spielen die dominanten Trauma-Mechanismen (fight, flight, freeze) eine große Rolle:

Einige Politiker:innen scheinen im fight modus zu stecken und überbieten sich in Forderungen nach Waffenlieferungen oder anderen Wegen, um Stärke zu zeigen. Dabei werden kritische Anfragen schnell als defätistisch oder schlimmer gebrandmarkt. Auch manche Journalist:innen wirken so, als ob sie sich – mangels Möglichkeit ihre Wut an Putin direkt auslassen zu können – nun an den sogenannten „Lumpenpazifisten“ abreagieren.

Die Friedensbewegung dagegen war in den ersten Kriegswochen in einer Schockstarre (freeze) gefangen. Natürlich gab es auch hier einige, die eher im fight-Modus wahllos Gegner bekämpften, sei es Putin oder eben doch das alte Feindbild der NATO. Aber: Wer nur auf die lauten Stimmen hört, überhört leicht das schockierte Verstummen angesichts der Zerstörung. Die Ostermärsche waren ein Zeichen eines langsamen Auftauens, aber der Schock sitzt weiterhin tief und lähmt dabei kreatives Handeln und nötige Reflexion.

In der breiteren Bevölkerung gibt es viele, deren Angststress sich im Fluchtmodus (flight) auswirkt. In persönlichen Gesprächen höre ich viel mehr Menschen, die tatsächlich Angst vor einem Atomkrieg haben, als ich es im Verhältnis der Meinungsbeiträge in den Zeitungen wahrnehme. Hier kommen die längst beerdigt geglaubten Ängste des Kalten Krieges wieder hoch. Natürlich schürt die russische Propaganda gezielt Angst vor den Atomwaffen, aber der Hinweis darauf hilft kaum jemanden, der in der Angst versinkt. Was also könnte helfen?

Auch die weniger bekannte Reaktion des Kümmerns (tend & befriend / fawn) tritt an vielen Stellen auf. Hiermit meine ich Menschen, die sich in die Nothilfe für Geflüchtete stürzen. Diese Reaktion hat zur Stärke, dass sie Selbstwirksamkeit erzeugt. Allerdings führt sie leider oft auch dazu, die eigenen Bedürfnisse zu missachten. Auf Dauer riskiert man so ein sekundäres Trauma oder eine compassion fatigue, wie wir sie etwa in der Flüchtlingskrise 2015 nach dem Abflauen der ersten Hilfswelle beobachten konnten.

Alle diese Reaktionen sind natürlich nicht nur Angststressreaktionen, sie alle haben ihre Wahrheitsmomente. Es geht mir weniger darum, die Diskussion unzulänglich zu psychologisieren, als eine andere Perspektive zu eröffnen und zu fragen, was für traumasensible und resilienzorientierte Handlungsmöglichkeiten sich daraus auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen eröffnen.

Wie kommen wir da raus?

Auf individueller Ebene hilft durchatmen und Selbstregulation, um vom instinktiven Reptiliengehirm zurück ins Großhirn zu kommen, wo wir verschiedene Optionen rational analysieren und kreative neue Wege suchen können. Aber wie geht das kollektiv?

Die derzeitige gesellschaftliche Schnappatmung, Dauerkriegsberichterstattung und toxische Debattenkultur helfen jedenfalls wenig weiter. Das Modell von STAR nennt einige Faktoren, die Menschen helfen, aus den Kreisläufen des Traumas und der Gewalt zu entkommen:

Zunächst gilt es Sicherheit zu finden, sowohl physisch als auch emotional. Oft dauert die psychische Belastung noch lange nach der Rettung oder Flucht an einen sicheren Ort an. Hier können psychosomatische Selbstregulierungstechniken helfen, etwa bewusstes Atmen, Abklopfen der Lymphknoten, Schreien, Tanzen oder anderer Formen der intensiven Bewegung. Auch Unterstützung in Gemeinschaft ist hilfreich, um zu merken, dass ich nicht allein bin, sondern in Beziehung mit anderen, die sich um mich kümmern. Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis, das gewährleistet werden muss. Dies ernst zu nehmen und gewaltfreie und gerechten Frieden fördernde Konzepte der Sicherheit ins Auge zu fassen, sind Aufgaben für die Friedensforschung.

Allerdings führen die Konzepte der „Sicherheit durch militärische Abschreckung“ zu einer Eskalation der Verunsicherung. Auch die Beschäftigung und Einübung gewaltfreier Verteidigung kann helfen, die Angst zu überwinden und ein Gefühl der Sicherheit aus solidarischen Beziehungen und gewaltfreier Wehrhaftigkeit zu entwickeln.

Ein zweiter Faktor ist es, Räume zu schaffen, in denen Trauer, Schock und Anteilnahme Platz finden. Hier leisten die Kirchen mit ihren Friedensgebeten wichtige Arbeit. Nicht nur Trauer, auch Angst und Wut oder gar Hass sollten hier zur Sprache kommen können und so auch in ihrer Macht gebrochen werden. Gerade die Psalmen mit ihrer komplexen Bewegung von Trauer und Wut hin zum Vertrauen in Gott können hier neue Bedeutung auch für entkirchlichte Menschen gewinnen. Wichtig wäre, dass die Kirche ein offener Ort ist und vielleicht sogar die Kirchengebäude verlässt, um vor den Augen der Welt zu beten. Gleichzeitig sollten Friedensgebete nicht zu sehr die Ohnmacht betonen, sondern gewaltfreie Handlungsoptionen im Horizont eines gerechten Friedens aufzeigen und vielleicht auch überlegen, wie das Gebet als Handlungsoption theologisch (und nicht nur psychologisch) plausibilisiert werden kann.

Die Rede von der eigenen Ohnmacht hat ihren Platz als Bekenntnis, aber sie kann auch in Sackgassen führen. Aus der Perspektive der Resilienzforschung ist das Erleben von Selbstwirksamkeit, auf individueller wie kollektiver Ebene, von kaum zu überschätzender Bedeutung bei der Überwindung traumatischer Erlebnisse – und auch eines noch nicht im strengen Sinne traumatischen Angststresses.

Hier hat die Nothilfe meines Erachtens neben den konkreten Menschen, denen sie hilft, ihren Sinn: Sie hilft mir, selbst das Gefühl, handeln zu können, wiederzugewinnen und kann so Sprungbrett werden für größeres Engagement. Ähnliches gilt auch in unterschiedlichen Abstufungen für das politische Engagement für Frieden und Gerechtigkeit. Während das Mitlaufen am Ostermarsch eher symbolischen und persönlich entlastenden Charakter hat, wäre ein Training in gewaltfreier Verteidigung oder Zivilcourage im Alltag ein praktischer Schritt hin zu einer gewaltfrei wehrhaften Gesellschaft. Mit Greta Thunberg gesprochen: Hoffnung kommt durch Handeln. Das Einüben und Anwenden gewaltfreier Aktion befreit aus Angststress und eröffnet neue Horizonte.

Kein Öl ins Feuer gießen

Bei unserer Gemeindefreizeit vor Ostern sagte ein Gemeindeglied: „Es erschreckt mich, wie gut es mir tut, mal 48 Stunden keine Nachrichten gesehen oder gehört zu haben. Ich habe den Eindruck, wieder viel klarer denken zu können – auch im Hinblick auf den schrecklichen Krieg in der Ukraine.“

Ich wünsche uns allen solche Auszeiten, z.B. am Wochenende mal einen Nachrichten-Sabbat zu machen. Und auch wenn alles gerade schrecklich ist, gibt es einfache Dinge, die du tun kannst, um dich selbst zu regulieren. Damit endet zwar der Krieg in der Ukraine nicht, aber wenigstens schüttest du vielleicht nicht unüberlegt Öl ins Feuer.

Übrigens, noch immer ist viel Literatur zur Schnittstelle Trauma und Frieden nur in Englisch zu haben. Für den Diskurs in Deutschland wäre es gut, wenn sich Verlage fänden, die wichtige Bücher übersetzen lassen, wie z.B. das „Little Book of Trauma Healing“, ein exzellentes Begleitbuch zum STAR-Training.