Wie werden wir unabhängiger von den Plattformen?
Wie kann die „Zeitenwende 2.0“ in der digitalen Kirche gelingen? Welche Schritte können christliche Akteur:innen und Kirchen unternehmen, um unabhängiger von den Tech-Giganten zu werden? Ein Aufruf zur digitalen Umkehr.
Vergangene Woche habe ich hier in der Eule über die Folgen der „Zeitenwende 2.0“ für die digitale Kirche geschrieben. Die Debatte über Konsequenzen für die Digitalisierung in Kirche und Gesellschaft, die aus dem womöglichen Zusammenbruch des transatlantischen Bündnisses von Europäischer Union und USA folgen, erwischt uns in einer Zeit, da der #digitaleKirche-Diskurs am Boden liegt.
Über Jahre bestehende Gesprächsfäden und Foren sind in der post-pandemischen Zeit abgerissen oder wurden eingestellt. Digitalisierung in den Kirchen ist wieder zu einem Nischenthema geworden. Öffentlichkeitsarbeit, Verwaltung, Glaubenskommunikation und Influencer:innen der Kirchen verlassen sich in einem nie dagewesenen Ausmaß auf die Bereitstellung digitaler Infrastrukturen durch die großen Tech-Unternehmen aus den USA.
Meine Frage, ob denn eine Zeitenwende in der digitalen Kirche nötig ist, wurde von manchen Leser:innen bejaht. Doch im nächsten Atemzug wird gefragt: Wie stellen wir das eigentlich an? Wie werden Kirche (und Gesellschaft) unabhängig von den Plattformen und Werkzeugen, die Tech-Giganten wie Microsoft, Alphabet und Meta anbieten? Wie müssten sich unser persönliches Nutzungsverhalten und das strategische Handeln unserer Kirchen verändern, um eine größere digitale Resilienz gegenüber dem Missbrauch von digitalen Infrastrukturen durch Oligarchen, Extremist:innen und Kriegstreiber aufzubauen? Was können wir heute konkret tun?
Von Erfahrungen und Triebfedern
Ich habe darüber in den vergangenen Monaten immer wieder intensiv nachgedacht: Plattform-Skepsis ist mir keineswegs neu, gerade aus der Perspektive eines „Onliners“, eines Online-Journalisten und Redakteurs eines Online-Magazins. Dass man stets und ständig „im Netz“ arbeiten kann, ohne eine kritische Distanz zur Digitalisierung einzubüßen, überrascht meine Gesprächspartner:innen immer wieder. Hanno Terbuyken und ich haben demgegenüber in unserem Buch „Vernetzt und zugewandt“ festgehalten:
„Eine sparsame, zielgerichtete Nutzung digitaler Werkzeuge kann in einem tiefen Verständnis der Digitalität wurzeln, eine maßlose und unsachgemäße Digitalisierung aber von einem Mangel desselben zeugen. Digitale Jünger:in zu sein bedeutet nicht, immerzu digitale Werkzeuge einzusetzen, sondern ihren reflektierten Gebrauch.“
Über Facebook, Instagram, Twitter/X & Co. als Umgebung für journalistische und glaubenskommunikative Angebote diskutieren wir schon seit Jahren. Verstärkt immer dann, wenn eines der Unternehmen den Reichweiten-Hahn für Nutzer:innen und Medien abdreht. Warnungen vor Instagram und YouTube wegen der Verbreitung gefährender Inhalte, Suchtanreizen und digitaler Brandstiftung wurden jahrelang von Akteur:innen der Kirchen in Öffentlichkeitsarbeit und Verkündigung schnell in den Wind geschlagen. Verschiedene Netzwerkeffekte machten und machen es den dort Handelnden schwer, ihrem durchaus skeptischen Bauchgefühl zu folgen.
Allein Kirchenoffizielle davon zu überzeugen, dass X unmöglich ein geeigneter Debattenort ist, hat fast zwei Jahre der Überzeugungsarbeit bedurft: Dabei hatten im deutschsprachigen Raum die Kirchen die Potentiale des Mikrobloggings noch nie begriffen oder genutzt. Kirchliche Akteur:innen und Organisationen verbleiben auf den Plattformen häufig auch aus Gewohnheit und Ratlosigkeit – weil ihnen eben nichts besseres einfällt und nicht, weil sie vom Leben auf der jeweiligen Plattform besonders überzeugt sind. (Das sieht man den Kanälen übrigens auch an.)
Auch erscheint es vielen Kirchenverwaltungen naheliegend, Software bei großen, etablierten Anbietern einzukaufen. Dafür gibt es auch gute Gründe: Zumeist funktioniert diese Software im Vergleich zu Eigenentwicklungen oder weniger bekannten und/oder fertigen Produkten fehlerfrei. Sie sind durchschnittlich betrachtet auch wesentlich endnutzer:innenfreundlich gestaltet als Non-Profit- oder Open-Source-Alternativen. Wenn doch Probleme auftreten, steht der Support eines großen Unternehmens bereit.
Während der Corona-Pandemie wurde diese Problematik kirchlichen Beschaffungswesens vielen Ehren- und Hauptamtlichen zum ersten Mal direkt vor Augen geführt, als es um die Auswahl eines Videochat-Tools ging. Experimentiert wurde in den verschiedenen Kirchen mit einigen Werkzeugen und Anbietern, aber durchgesetzt hat sich am Ende Zoom. Nicht zuletzt, weil die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zügig einen Rahmenvertrag mit dem Unternehmen schloss, der eine Nutzung gemäß des kirchlichen Datenschutzes (DSG-EKD) ermöglichte.
Absolutheitsdenken führt uns nicht weiter
Es gibt gute Gründe, auf großen Plattformen zu senden und auf Software von etablierten Tech-Unternehmen zu setzen. An diesem Befund vorbeizudiskutieren führt nirgendwohin: Erstens wird man mit Vorwürfen allein wohl kaum jemanden von seinem*ihrem verderblichen Mediennutzungsverhalten abbringen und/oder zur Reform von Beschaffungsroutinen bewegen. Zweitens führt ein moralischer Absolutismus auch digitale Kirche dorthin, wo er analog schon immer hingeführt hat: In die Einöde eines „heiligen Rests“.
Was es vielmehr braucht, ist eine Reflektion und Vergewisserung der eigenen Überzeugungen, die auch digital und nicht nur analog Geltung beanspruchen können. Es geht also um ein gemeinsames Nachdenken, zu dem geübte #digitaleKirche-Akteur:innen ihre Communities und Zielgruppen einladen sollten. Wer in solche Gespräche mit bereits komplett fertigen Antworten einsteigt, dem*der wird es womöglich gehen wie Jesus im Gespräch mit der (namenlosen) kanaanäischen Frau (Matthäus 15, 21-28): Er muss sich von der Frau belehren lassen. Für eine sinnvolle Debatte braucht es beides: Überzeugungen, an denen man sich abarbeiten kann, und eine dialogbereite Haltung.
Ins Gespräch eingebracht werden sollten dringend die komplexen Folgen unserer Mediennutzung und digitalen Arbeitsweisen. Im Essay von vergangener Woche und im aktuellen „Digital Tutorial“-Newsletter verweise ich auf das neue Buch von Ingo Dachwitz und Sven Hilbig „Digitaler Kolonialismus: Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen“ (C.H. Beck 2025). Schöpfungsbewahrung, Ökumene und globale Gerechtigkeit orientieren als Leitwerte das analoge kirchliche Handeln – das sollte digital nicht anders sein.
In den ersten Wochen (!) der zweiten Amtszeit von US-Präsident Donald Trump erleben wir einen nie dagewesenen Kotau der großen US-Plattformen und des Silicon Valley unter die MAGA-Ideologie, die Diversität und den Schutz von Minderheiten bekämpft, und die „America First“-Politik der US-Regierung, die internationales Recht zu ihren Gunsten biegen und brechen will. Doch in #digitaleKirche-Diskursen kommt davon erschreckend wenig an! Halten es Akteur:innen der digitalen Kirchen mit dem lateinischen Sprichwort: Audi, vide, tace, si vis vivere in pace? Höre, sieh und schweige, wenn du in Frieden leben willst? Drückt sich in der Diskursverweigerung einfach nur eine typisch christliche Harmoniekultur aus? Oder lesen Onliner:innen in den Kirchen wirklich keine Nachrichten? Blenden wir die Entwicklungen aus?
Ich werbe dafür, dass der #digitaleKirche-Diskurs zu den aktuellen Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen über Plattformen und Digitalität aufschließt. Es steht viel auf dem Spiel: Nicht allein die (vermeintliche) Sicherheit der Ausspielwege kirchlicher Verkündigung, sondern das digitale Spielfeld, auf dem wir die wichtigen Debatten unserer Gesellschaft führen. Es geht nicht nur um die Gestaltung unserer Freiheit, sondern um die Gesundheit und das Wohlergehen von Kindern, Jugendlichen und vulnerablen Gruppen. Es geht nicht nur um die einfache Bedienung von Software, sondern um Sicherheit. Datensicherheit ist in einer Welt des Datenkolonialismus und der hybriden Kriegsführung keine Orchideenfach mehr, sondern gehört zur Daseinsvorsorge.
Prüfet alles, das Gute behaltet!
Die Jahreslosung für 2025 aus dem 1. Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki (1. Thess 5,21) lautet: „Prüft alles und behaltet das Gute!“ Viel wurde in den vergangenen Monaten bereits über diesen Satz gepredigt. Ich verstehe den Kontext des Satzes so (1. Thess 5, 15-20):
Wir sollen anschauen, was uns Gutes und Schlechtes begegnet. Wir sollen nicht vorschnell verdammen, noch uns in blindem Lob oder Gehorsam üben. Wir sollen nicht sophistisch dem Buchstaben nach diskutieren, sondern nach den geistigen und geistlichen Grundlagen fragen, von denen aus wir handeln. Wir sollen danach fragen, was unser Handeln für unsere Nächsten und für das Gemeinwohl bedeutet.
Es geht also um mehr als um Awareness im Sinne einer marktkonformen Lebenskunst, wie sie uns nicht zuletzt auf Instagram & Co. tagtäglich vorgelebt wird („Does it spark joy?“). Es geht um eine Bewusstseins- und Haltungsänderung, die man gut biblisch als Umkehr beschreiben kann. Jede Umkehr beginnt damit, sich ehrlich zu machen. Die digitale Umkehr hat (mindestens) einmal eine persönliche, eine gemeinschaftliche und eine institutionelle Dimension. Was also können wir heute konkret tun?
Die digitale Umkehr
Christliche Akteur:innen auf Social-Media-Plattformen sollten vor sich und ihren Communities Rechenschaft über das eigene Mediennutzungsverhalten ablegen. Wie viel Kraft verwende ich für das Leben in der Digitalität, auf den Plattformen und im Netz? Wofür wende ich Zeit und Gedankenschmelz auf? Worum geht es mir? Um Reichweitensteigerung oder um eine qualitätvolle Formatgestaltung und Community-Building? Wie viel Zeit verbringe ich privat und beruflich mit Social-Media-Apps? Halte ich das Umfeld, in dem ich professionell kommuniziere, eigentlich selbst als Privatmensch aus? Wo und womit fühle ich mich digital wohl oder unwohl?
Als Communities in der digitalen Kirche sollten wir darauf aufbauend überlegen, wie wir Orte schaffen können, an denen wir freier, sicherer und souveräner miteinander kommunizieren können, und welche Werkzeuge wir einsetzen sollten, die uns diesem Ziel näher bringen. Ohne Absolutheitsdenken und Vollständigkeitsfimmel!
Für eine christliche Influencer:in kann dies zum Beispiel bedeuten, ihrer Community auch jenseits der Architektur einer Social-Media-Plattform ein Angebot zu machen (Podcast, Newsletter, Forum, Buch, analoge und digitale Meetings etc.). Influencing sollte nicht im Bespielen von Social-Media- und Entertainment-Plattformen aufgehen, sondern muss weiter- und tieferführen. Nur erprobte und eingeübte Alternativen können dann auch die Plattform-Nutzung überflüssig werden lassen.
Es geht also darum, in einem ersten Schritt eigene Kanäle und Infrastrukturen aufzubauen, um dann in einem zweiten Schritt diese von der Parallel- zur Primärstruktur zu befördern. Schon heute lösen die Alternativen übrigens häufig nicht nur besser ein, was sich Theolog:innen unter gedeihlicher Kommunikation und Digitalität vorstellen, als die großen Social-Media-Plattformen, sie sind auch nachhaltiger in ihrer Wirkung und (bei Bedarf) monetarisierbar.
Die digitale Umkehr wird christliche Medienproduzent:innen herausfordern, denn wer eigene Formate und Infrastrukturen gestaltet, kann sich nicht mit rage und engagement bait und reaction takes begnügen. Es geht vielmehr darum, eigene Inhalte und eigenständige Formate zu entwickeln, selbst Geschichten zu schreiben und endlich Abstand von den Plattformdynamiken zu nehmen, die vulnerable Menschen und unsere Demokratie gefährden, unsere Gesundheit beeinträchtigen und uns doch häufig in Fleisch und Blut übergangen sind. Jede:r Christ:in eine Brandmauer gegen Empörungsspiralen?
Für verantwortliche Akteur:innen in unseren Kirchen – als immer noch ziemlich mächtige Institutionen und ressourcenstarke Organisationen – bedeutet das Sich-ehrlich-Machen eine gewissenhafte Prüfung, ob die gegenwärtige digitale Beschaffungspolitik und Pflege von Hard- und Software jenen Kriterien gehorchen, die sich sich bei Ernährung, Mobilität und Bauen auferlegt haben. In kirchlichen Richtlinien oder Gesetzen zur Beschaffung wird analog viel Wert auf Nachhaltigkeit, Ökologie und Regionalität gelegt. Daran kann man digital gut anknüpfen. Und die Klimaschutzrichtlinie der EKD gilt doch auch „im Digital“, oder?
Von der Theorie in die Praxis
Bereits in den „Zwölf Leitsätzen zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche“ hatte die EKD-Synode 2020 beschlossen, auch digital eine kontakt- und nutzer:innenfreundliche Kirche werden zu wollen: „Dabei achten wir besonders auf Teilhabechancen, Barrierefreiheit, und Respekt für alle.“ Was davon ist auf den großen Plattformen zum Beispiel des Meta-Konzerns eine realistische Möglichkeit? Die Digitalisierung sei auch eine Chance „für eine stärker vernetzte und effizientere Verwaltung“, hielt man vor fünf Jahren fest, und sah sich als Kirche in der Mitverantwortung „für einen achtsamen und sozial verantwortlichen Umgang mit dem digitalen Wandel in unserer Gesellschaft“.
Papst Franziskus schließlich wies in seiner Enzyklika „Fratelli Tutti“ (47-50) auf die Gefahren der Digitalisierung für die „weise menschliche Kommunikation“ hin. Dabei identifiziert er in der extremen Beschleunigung des Daten- und Informationstransfers und den wirtschaftlichen Interessen der Plattformbetreiber die Hauptursachen dafür, dass das Leben in der Digitalität krank machen kann und eine Gefahr gerade für junge Menschen darstellt: „So wird die Freiheit eine Illusion, die uns verkauft wird und die mit der Freiheit, vor einem Bildschirm zu surfen, verwechselt wird.“
Die theoretischen Grundlagen für eine digitale Umkehr sind längst geschaffen. Die Kirchen selbst haben sie in Thesenpapieren, Synodenbeschlüssen, Enzykliken, Studien, Denkschriften und Ankündigungen produziert. Nun käme es auf ein beherztes Handeln an, dass sich an ihnen auch orientiert und sich nicht nach Plattforminteressen oder Herdentrieb richtet. In der Beschaffung sollten bevorzugt Open-Source-Lösungen und europäische Entwicklungen zum Zuge kommen. Längst gibt es auf diesem Feld bereits Erfahrungen in einigen evangelischen Landeskirchen und katholischen Bistümern. Es gibt wahrlich genügend Fäden, die fortzuweben sich lohnt!
Ein weiterer notwendiger Schritt aus der Abhängigkeit von den Tech-Giganten und zugleich ein aufmerksamkeitsökonomisches Aufbruchsignal wäre eine Grundsatzentscheidung der Kirchen, kein weiteres Geld für Formate auszugeben, die nur auf den großen Social-Media-Plattformen laufen – und erst recht nicht (mehr) für Reichweite oder Werbung auf Instagram & Co. zu bezahlen. Genug ist genug.
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