Foto: taymtaym (Flickr), CC BY 2.0

Warum nennt ihr euch nicht gleich „liberal“?

Post-Evangelikale beziehen sich bleibend auf die evangelikale Bewegung. Warum ist das so und nicht anders? Können die nicht anständig „vom rechten Glauben abfallen“, wie früher auch?

Lieber Christoph,

danke für deine Erklärungen, was „post-evangelikal“ eigentlich bedeutet. Warum nennt ihr euch dann nicht ehrlicherweise gleich „liberal“, wenn ihr doch vom rechten evangelikalen Glauben „abgefallen“ seid? Was nützt euch der bleibende Bezug auf die evangelikale Theologie/Szene?

Fröhliche Grüße!


Liebe Eule,

wenn wir mit dem Begriff “post-evangelikal” arbeiten, dann referieren wir natürlich immer stark auf Biografie. Die Blickrichtung dieser Gruppe ist weiterhin die auf das Lager der evangelikalen Christen und Gemeindebewegungen. Das ist die ursprüngliche Heimat, hieran arbeitet man sich ab, hiervon strampelt man sich frei, und hier – so zumindest manche – will man eigentlich auch etwas verändern.

Aus protestantischer Sicht drängt sich hier aber natürlich zu Recht die Frage auf, inwieweit das Phänomen der Post-Evangelikalen nicht als Bewegung verstanden werden kann, die ja eigentlich schon immer irgendwie stattfand. Natürlich haben immer einmal wieder evangelikal aufgewachsene Christen ihre Ansichten hinterfragt und zu eher liberalen Haltungen gefunden. Oftmals ja auch im Rahmen einer Wiedereingliederung in die protestantischen Kirchen. Auch in meinem persönlichen Freundeskreis haben viele über ihre Auseinandersetzung letztlich auch ihren Anschluss an die evangelische Kirche gefunden.

Auch eine liberale Theologie sieht das Gebot der Liebe als die wesentliche Essenz der frohen Botschaft an. Gerade die protestantischen Kirchen forcieren Themen um soziale Gerechtigkeit, Inklusion und Nachhaltigkeit. Warum positioniert sich eine post-evangelikale Szene heute also trotzdessen bewusst auch eigenständig, bewusst im Zwischenraum der beiden großen Lager aus Liberalen und Evangelikalen und versucht darin neue Wege zu finden? Ich möchte das im Folgenden an drei Punkten einmal etwas näher beleuchten.

Post-Evangelikales Denken betrifft heute größere Gruppen

Ein wesentlicher Aspekt ist sicherlich, dass das Projekt der „gefährlichen Ideen“ in der evangelikalen Szene heute deutlich größere Gruppen integriert. Es sind teilweise ganze Ortsgemeinden, die ihre evangelikale Theologie hinterfragen, umdenken und für sich versuchen einen anderen Weg zu finden. Meine Heimatgemeinde, die Lebenswert Stadtkirche Köln, ist ein solcher Fall. Hier haben wir als Gemeinde, die vormals im evangelikalen Raum gegründet wurde, gemeinsam andere Haltungen entwickelt und für uns entschieden andere Vorstellungen zu vertreten und dafür auch vor Ort einzutreten.

In einem solchen Prozess bildet man aber insbesondere eben auch eine eigene Identität heraus. Kaum ein „Post-Evangelikaler“ wird mit dem Namen eines Rudolf Karl Bultmann etwas anfangen können, man referiert hier dann doch vornehmlich auf zeitgenössische Sprecher und Publizisten.

Neue Kolumne: post-evangelikal

Wir wollen wissen, was es mit den Post-Evangelikalen auf sich hat. Die Post-Evangelikalen sind keine einheitliche Gruppe: Wir wollen verstehen, was sie trotz Unterschieden eint, welche Fragen sie bewegen und welche Antworten sie für sich neu finden. In unserer Kolumne post-evangelikal befragen wir deshalb Christoph Schmieding. Christoph ist in der Lebenswert Stadtkirche Köln zuhause und fühlt sich der „Emerging Church“-Bewegung zugehörig.

Die Beschäftigung verläuft hier so oft auch über angelsächsische Autoren wie etwa einen N.T. Wright, quasi die Einstiegsdroge – im fortgeschrittenem Stadium wird’s dann ein “Love wins” von Rob Bell oder ganz hip(ster) und brandaktuell – eine Nadja Bolz-Weber.

Auch im deutschsprachigen Bereich haben sich mit verschiedenen Blogs und Podcast-Formaten wie etwa Hossa Talk oder dem, von mir insbesondere geschätzten, Remix-Podcast der Mosaik Community in Düsseldorf, mittlerweile ganz eigene mediale Gesprächsplattformen entwickelt.

Besonders prominent natürlich auch das Worthaus Projekt von Siegfried Zimmer, das gar auf dem Freakstock Festival eingeladen war und dort Lesungen und Seminare veranstaltet hat. Ein post-evangelikales Denken ist im Falle der Jesus-Freaks-Bewegung also bereits auch in etablierten evangelikalen Biotopen angekommen.

Mit dem „Fest der gefährlichen Ideen“ wiederum, entstehen auch ganz neue Veranstaltungen, gar Festivalformate, wo sich progressive Christen, die vornehmlich einen freikirchlichen Hintergrund haben, treffen, austauschen und inspirieren lassen können. Man kann hier mittlerweile tatsächlich von einer eigene Subkultur sprechen, die so natürlich durchaus auch eine gewisse “Wir-Identität” stiftet.

Vielleicht möchte man noch nicht in allen Fragen tatsächlich die Ufer wechseln

Ein weiterer Aspekt wäre der, dass der Zwischenraum, in welchem die post-evangelikalen Diskurse stattfinden, ein sehr heterogener Raum ist. Viele Topoi der evangelikalen Theologie werden hinterfragt, aber es liegt letztlich am persönlichen Glaubensleben über welchen Zaun man da am Ende wirklich springen will, oder an welchen Punkten man vielleicht doch eher an den tradierten Vorstellungen weiter festhalten möchte. Pluralität ist hier sehr wichtig und wird groß geschrieben.

So möchten viele einer konsequenten “Entmythologisierung” der biblischen Texte vielleicht nicht folgen. Man möchte in seinem Glaubensleben Wunderzeugnissen, dem übernatürlichen Wirken Gottes und generell spirituellen Erfahrungen vielleicht mehr Freiraum geben, als eine liberale Theologie diesen vielleicht einzuräumen vermag.

Vielleicht wendet man sich von einer Theologie der Verdammung durch Sünde im Kern zwar ab, möchte aber den Ansatz einer Christologie, einer Heilsgeschichte nicht vollends aufgeben, sondern hier auch an manchen Motiven wie etwa dem der “Vergebung von Schuld” weiterhin festhalten.

Wie man sieht, sind hier also durchaus auch Spannungen, Paradoxien auszuhalten, denen man vor allem versucht dialogisch zu begegnen. Es muss nicht alles bis ins letzte geklärt werden. Man ist auf der Suche. Auch darum geht es.

Der Wunsch nach befreiter Spiritualität

Was mir in diesem Zwischenraum der post-evangelikalen Szene vor allem begegnet ist die Suche und der Wunsch nach einer tiefen, lebendigen Spiritualität. Einer Spiritualität, die sich zwar in ihrer Ausformulierung von der evangelikal geprägten charismatischen Spiritualität befreit hat, aber sich dennoch traut zu forschen, zu empfinden, auch unklare Dinge zuzulassen, Gott auch sinnlich zu erfahren. Nicht zuletzt hier bestehen durchaus Berührungsängste mit einer liberalen Theologie. Eine solche „offene Spiritualität“ will man sich vielleicht nicht nehmen lassen.

An dieser Stelle kommt selbstredend dann auch der verschiedenartige kulturelle Hintergrund zum tragen. Freikirchliche, im speziellen natürlich auch die pfingstlerisch-, charismatische Glaubenskultur, gestaltet sich einfach sehr anders aus als eine liberal geprägte protestantische Gemeindekultur.

Meine These wäre, dass hinsichtlich theologischer Fragen die Anschlussfähigkeit an die protestantischen Kirchen sicher eklatanter ist, betreffend der gelebten Spiritualität oftmals aber ein größere Schnittmenge mit der katholischen Welt besteht. Auszeiten in Klostergemeinschaften, kontemplative Gebetspraktiken oder angeleitete Meditation werden gerade in einer nach frischer Spiritualität suchenden post-modernen Christenheit ganz neu entdeckt und wertgeschätzt.

Der Wunsch nach einem dritten Weg

Nicht zuletzt deshalb wünschen sich viele Post-Evangelikale eben einen solchen dritten Weg, der hier für verschiedene Motive Offenheit zeigt. Man möchte intellektuelle Reflexion und lebendige Spiritualität gleichsam leben können und nicht „auf einer Seite vom Pferd fallen“.

Hier bestehen bezüglich einer liberal geprägten Theologie sicherlich Vorbehalte, weil sie Christsein, so vielleicht das Empfinden, zu wenig existentiell und zu einseitig kulturell beschreibt. Vielleicht empfindet man dies dann wieder als unbefriedigend, oder gar wiederum einengend, weil mit zu vielen Prämissen behaftet.

Inwieweit hier natürlich dann generell einfach auch Vorurteile einer liberalen, protestantischen Welt gegenüber bestehen, dass wäre sicherlich einmal zu diskutieren. Auch diese wären ja aufgrund der Sozialisation im freikirchlichen Raum, der sich ja oftmals sehr bewusst vom protestantischen Milieu abgrenzt, nicht nur möglich, sondern gar wahrscheinlich.

Von Seiten des evangelikalen Lagers hört man zur Zeit vermehrt Stimmen, die einem solchen „dritten Weg“ allerdings eigentlich wenig Zukunftsaussichten prognostizieren. Es wird vermutet, dass früher oder später der Re-Entry in die entsprechenden Lager erfolgen werde.

Eine Prognose, die ich derzeit so nicht teilen mag, da mir augenscheinlich ist, dass gerade dieses Feld, das die post-evangelikalen Diskurse aufmachen, heute viele Menschen in ihrer Lebens- und Glaubensrealität sehr tief abholt. Dass sich hier viele „Glauben Wollende“ wiederfinden, weil sie hier ihrem Fragen nach Gott und ihrer Suche nach Spiritualität Ausdruck verleihen können ohne ständig an irgendwelche Grenzen zu stoßen.

Kleines Fazit

Eine eigenständige, wachsende Identität, Ergebnisoffenheit in der Auseinandersetzung mit liberaler wie auch evangelikaler Theologie und die Suche nach einer lebendigen Spiritualität – dies wären für mich einige der wesentlichen Motive, die eine post-evangelikale Szene ausmachen und die diese auch als eigenständiges Diskussionsfeld skizzierbar werden lassen. Als Zwischenraum, als Diskussionsebene, die sich derzeit entkoppelt sowohl von der protestantischen, als auch evangelikalen Welt.

Im Kern geht es schon auch darum sich von theologischen Diskursen jeglicher Art in gewisser Weise einmal frei zu strampeln, sich einfach die Freiheit zu gönnen, Dinge nochmal völlig neu, ergebnisoffen und nicht zuletzt auch sehr persönlich und individuell zu verhandeln.

Die post-Evangelikale Szene kann nur ein Gewinn sein

So gesehen kann der post-evangelikalen Diskurs eigentlich nur als Gewinn angesehen werden. Als ein Moment, der letztlich beide Lager befruchten könnte, da er in beiden Welten gleichermaßen lebt und sich inspirieren läßt. Vielleicht besteht gerade auch hierin die Chance, die oftmals doch sehr breite Kluft zwischen Evangelikalen und Liberalen zumindest ein stückweit zu überbrücken. Schaun wa mal!

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und bis zum nächsten Mal!