Kolumne Tipping Point

Was ist radikale Hoffnung?

In der Klimakrise rufen die Kirchen zu Zuversicht und Hoffnung auf, die doch häufig nur Vertröstungen sind. Stattdessen braucht es eine andere, radikale Hoffnung, erklärt „Tipping Point“-Gastautor Peter Aschoff.

Hoffnung. Wann immer von der Rolle und vom Beitrag der Christen und Kirchen in den Krisen der Gegenwart die Rede ist, fällt dieser Begriff. Wir mögen weniger werden und unser Einfluss mag schwinden, aber die Hoffnung ist und bleibt doch unser Alleinstellungsmerkmal, oder?

Mir geht das oft viel zu schnell. Es fühlt sich an wie die Beerdigung eines viel zu früh verstorbenen Menschen vor einiger Zeit, bei der ich kaum Zeit hatte, meiner Trauer nachzugehen, weil schon in der Begrüßung so ausgiebig von der Auferstehung die Rede war. Ich war in dem Moment noch nicht so weit, über Hoffnung nachzudenken.

Aber die Frage ist nicht allein, ob das alles zu schnell geht, ob die Rede von der Hoffnung zu früh einsetzt, sondern auch, welche Hoffnung wir eigentlich verbreiten und was wir damit bezwecken. Die eindringlichen Appelle von Klimaaktivist:innen werden – auch von Kirchenmenschen – immer wieder als Panik, Pessimismus, resignative Apokalyptik und gelegentlich auch morbide Lust am Untergang qualifiziert. Dass der Einsatz etwa der „Letzten Generation“ vom unerschütterlichen Optimismus zeugt, doch noch etwas zum Guten drehen zu können, fällt gern mal unter den Tisch. Vor dieser dunklen Folie drohender Verzweiflung soll dann das Licht der christlichen Hoffnung erstrahlen. Die Aussagen dazu nehmen freilich oft den Charakter von Beschwörungen an:

Eine klimabewegte Kollegin hofft weiter, dass wir das 1,5-Grad-Ziel noch erreichen, obwohl in der öffentlichen Diskussion schon klar ist: Es wäre zwar technisch gerade noch so umsetzbar, politisch aber spricht viel mehr gegen ein hinreichendes Umsteuern der Weltgemeinschaft als dafür. Und ein landeskirchlicher Umwelt- und Klimabeauftragter findet, die Geschichte von Noah und dem Regenbogen sei doch auch unter den Bedingungen des Anthropozän noch tröstlich – auch wenn klar ist, dass eine menschengemachte Klimakatastrophe im gedanklichen Horizont der Schreiber:innen des Pentateuch nicht berücksichtigt und damit auch nicht ausgeschlossen ist.

Viele solche ebenso gut gemeinten wie vagen Bekundungen sind im Grunde Beschwichtigungen: Es wird schon nicht ganz so schlimm kommen, wie es derzeit den Anschein hat. Lasst uns bitte alle positiv bleiben! Oder um den großen Denker und Lenker Friedrich Merz zu zitieren: „Morgen geht die Welt nicht unter.“ Das hatte zwar niemand behauptet, aber es klingt so ungemein gelassen und zuversichtlich inmitten der allgemeinen Verunsicherung.

Ist es eher Bequemlichkeit und die Abneigung gegen drastische Schritte, die jetzt nötig wären, und die massiven Konflikte, die damit verbunden sind? Oder sind wir am Ende deswegen oft so flott mit der Hoffnung zur Stelle, weil wir Angst haben, dass wir (und unser Glaube) der Trauer, der Wut, dem Leid und dem immer größeren Berg an ungelösten Fragen nicht gewachsen sind?

Es ist schon bemerkenswert, dass in keinem der vier Evangelien das Substantiv „Hoffnung“ auftaucht. Ich will damit nicht sagen, dass die Sache fehlt. Aber angesichts der inflationären kirchlichen Hoffnungsrhetorik könnte das durchaus ein Wink sein, diesen Anspruch an uns selbst einmal kritisch zu betrachten, immer und überall Hoffnung liefern zu können oder zu müssen. Vielleicht muss auch die alte Hoffnung sterben (oder wir müssen angesichts des einsetzenden Infernos „alle Hoffnung fahren lassen“), damit sie irgendwann neu geboren werden kann?

Mit der ontologischen Verletzlichkeit hoffen

Ein interessanter Gesprächspartner ist in diesem Zusammenhang der Philosoph und Psychoanalytiker Jonathan Lear. In seinem Buch „Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung“ (Suhrkamp 2020) erzählt er die Geschichte der Crow, eines indigenen Volkes in Nordamerika, deren Kultur und nomadische Lebensweise im späten 19. Jahrhundert zusammenbrach. Die Büffelherden verschwanden aus den Prärien, auf dem Land machten sich unter dem Schutz der Armee weiße Siedler breit. Die stolzen Jäger und Krieger wurden in Reservate gepfercht. „Danach ist nichts mehr geschehen“, sagte später Plenty Coups, der letzte Häuptling der Crow, und beschreibt damit die Totalität dieses Abbruchs. Alle Vorstellungen vom guten und gelingenden Leben werden ohne den Bezug zu Jagd und Krieg hinfällig.

Die Unfähigkeit, sich ihre eigene Zerstörung vorzustellen, ist für Lear der blinde Fleck einer jeden Kultur. Doch die Begegnung mit den Crow und die Erinnerungen von Plenty Coups bringen ihn auf die Spur einer radikalen Hoffnung, die ihre „ontologische Verletzlichkeit“ nicht leugnen oder verschleiern muss. Sie beginnt lange bevor die Lebensweise und damit auch die Identität der Crow an ihr Ende kam.

Im Alter von neun Jahren hat der junge Plenty Coups einen  – Lear bezeichnet es ausdrücklich so – prophetischen Traum. Die Büffelherden verschwinden darin spurlos und das Milchvieh der Siedler bevölkert die Prärie. Dann sieht er sich selbst als alten Mann vor einem Wald sitzen, dessen Bäume alle außer einem umgerissen wurden. Eine menschliche Gestalt erscheint und ermahnt ihn, sich die Meise zum Vorbild zu nehmen. Ihre Tugend ist es, aufmerksam zuzuhören und von anderen zu lernen.

Die Stammesältesten laden den Jungen ein, seinen Traum mitzuteilen. Er bestätigt ihre düstersten Ahnungen, zugleich aber weist Gott den Crow darin einen Weg durch den Untergang. Der Stamm erkennt diese Botschaft als echt an, Plenty Coups wird einige Jahre später sein Häuptling. Unter seiner Leitung gelingt den Crow ein unblutiger und gut organisierter Übergang in die neue Zeit. Sie behalten, anders als manch anderer Stamm, einen wesentlichen Teil ihres Gebietes.

„Der Traum des jungen Plenty Coups war … ein Akt radikaler Antizipation im folgenden Sinne: Er suchte nicht bloß zukünftige Ereignisse vorauszusagen; vielmehr gab er der Vorstellungskraft das Stammes Mittel an die Hand, um mit diesem einem begrifflichen Anschlag standzuhalten.“ (Lear, S. 126)

Nach der Katastrophe weiterleben

Lears Buch ist voller theologischer Bezüge. Zum einen, weil natürlich die Geschichte der Crow vom Eingreifen und der Führung Gottes handelt und weil dieser transzendente und gütige Gott – Ah-badt-dath-deah – monotheistische Züge trägt. Lear selbst sieht in der Bereitschaft der Crow, alle bis dahin gültigen Vorstellungen eines guten und gelingenden Lebens lozulassen, eine Parallele zu Kierkegaards teleologischer Aufhebung des Ethischen in „Furcht und Zittern“ (theologisch entfaltet am Beispiel des Abraham). Und die heutigen Crow setzten in der Begegnung mit dem Juden Jonathan Lear ihr Schicksal in Beziehung zu den traumatischen Erfahrungen des jüdischen Volkes durch die Jahrhunderte.

Zu Recht: Die Propheten in Israel und Juda hatten jene seltene Fähigkeit, sich die eigene Zerstörung vorzustellen. Und verdammt jung waren manche von ihnen auch. Während alle anderen noch den Kopf in den Sand steckten, bestand ihre Aufgabe darin, das Volk erst mit der Möglichkeit und – weil die Reaktion ausblieb – dann auch der Unausweichlichkeit des Endes zu konfrontieren. Mit diesem widerborstigen Auftrag waren Jeremia & Co ähnlich populär wie heute die „Letzte Generation“. Manche wanderten für ihre unverblümten Ansagen sogar in den Knast:

Joschafat sagte: Ist hier sonst kein Prophet des Herrn, den wir befragen könnten? Der König von Israel antwortete Joschafat: Es ist noch einer da, durch den wir den Herrn befragen könnten. Doch ich hasse ihn; denn er weissagt mir nie Gutes, sondern immer nur Schlimmes. Es ist Micha, der Sohn Jimlas. (1. Könige 22,7f)

Aber indem sie Gott als treibende Kraft des Untergangs auswiesen, legten die prophetischen Nervensägen auch die Grundlage für einen Neuanfang jenseits der Katastrophe des Exils.

Nichts für schwache Nerven

Wir haben die Hoffnung nicht gepachtet. Und Vertrösten und Abwiegeln im Angesicht kumulierender Krisen sind keine Hoffnungszeichen, eher ein Indiz für Realitätsverweigerung. Hoffnung muss in solchen Zeiten geweckt und geschenkt werden, und das ist eine prophetische Aufgabe. Der Blick in Abgrund, der sich gerade auftut, gehört unumgänglich dazu. Um es mit Lear zu sagen:

„Es handelt sich bei ihr nicht bloß um sehnsüchtigen Optimismus, sondern um einen nachhaltigen und intellektuell aufmerksamen Umgang mit der Welt, der in einer furchtbaren Lage handfeste positive Folgen zeitigte.“ (S. 206)

Was geht unter? Die klimatisch stabile Welt des Holozän, die 12.000 Jahre lang Bestand hatte. Und mit ihr die Illusion vom unbegrenzten Wirtschaftswachstum, vom unbekümmerten und identitätsstiftenden Konsum, von der Beherrschung der Kräfte der Natur durch den Willen und die Vernunft der Menschen. Und in der Folge viele verbreitete Vorstellungen vom guten, schmerzfreien Leben: Wie wir wohnen, essen, uns fortbewegen und uns erholen – vieles davon behaftet mit Privilegien, die als selbstverständlich und „normal“ gelten.

Wie abrupt und chaotisch dieser Untergang verläuft, kann niemand sagen. So oder so werden wir mit unserer Verletzlichkeit Bekanntschaft machen. Genau dagegen wehren sich die Rechten gerade mit Händen und Füßen, maßloser Wut und wüstem Geschrei. Radikale Hoffnung hingegen bedeutet, mitten in dem ganzen Tumult noch Gottes Nähe und Führung zu entdecken. Sie wäre ein Geschenk von unschätzbarem Wert. Aber sie ist nichts für schwache Nerven.


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Kolumne „Tipping Point“

In unserer Kolumne „Tipping Point“ schreibt Tobias Foß über die sozial-ökologische Transformation. Welchen Beitrag können Christ:innen und Kirchen leisten? Welche Probleme müssen bewältigt werden? Welche Kipppunkte gilt es in Theologie und Glaubensleben wahrzunehmen?

Mit „Tipping Point“ wollen wir in der Eule an Fragestellungen im Licht der Klimakrise dranbleiben. Dabei stehen nicht allein Klima- und Umweltschutz im Zentrum, sondern auch die Auswirkungen von Klimawandel und Umweltzerstörung auf unser Zusammenleben. Die Klimakrise verändert schon jetzt unsere Gesellschaft(en). In „Tipping Point“ geht Tobias Foß diesen Veränderungen auf den Grund und beschreibt Ressourcen und neue Wege.

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