Werft die Rituale nicht weg!
Muttertag, Konfirmation und Trauerjahr – Rituale und gesellschaftliche Konventionen stehen zu Recht in der Kritik. Daniela Albert plädiert dafür, sie nicht leichtfertig wegzuwerfen, sondern zu reparieren.
Einmal Handzeichen bitte: Wer hat seit gestern eine herzige neue Kinderbastelei auf dem Regal stehen? Ich auf jeden Fall, denn in der Grundschule unserer Tochter wird der Muttertag noch vorbereitet. Ich schätze, das ist in den meisten Institutionen der Fall, in denen sich Kinder zwischen 0 und 10 Jahren befinden. Meistens schon deshalb, weil Mutter- und Vatertage planbare Anker im Jahr sind, für die sich die Kita nicht extra etwas ausdenken muss, sondern auf einen reichhaltigen Ideenschatz zurückgreifen kann. Und wahrscheinlich auch deshalb, weil die Kleinen ihren Eltern gerne eine Freude machen. Mein Kind jedenfalls war wieder sehr aufgeregt – und das ist auch der Hauptgrund, warum ich dieses kleine Ritual Jahr für Jahr mitmache.
Nun ist es nicht so, dass mein Herz unendlich daran hängen würde. Ich freue mich über die Begeisterung meiner Kinder. Wäre die nicht vorhanden, könnten wir diesen Tag, der ja zurecht nicht unumstritten ist, auch aus dem Kalender streichen.
Wobei ich weniger für Streichen wäre, sondern mehr für einen kreativen Umgang damit. Denn viele Kritikpunkte, die mit dem Muttertag einhergehen, könnte man entschärfen, wenn man den Blick weg von der Person der Mutter und hin zu Verbundenheit, Fürsorge und Beziehung legt. Wir könnten ihn Danke-Tag, Hab-dich-lieb-Tag oder ganz anders nennen.
Einfach ersatzlos streichen, scheint mir hingegen die schlechteste Variante. Denn einen im Kalender festgeschriebenen Tag, an dem wir fürsorgende Menschen feiern, finde ich gerade in einer Zeit, in der Fürsorge oft geringschätzig behandelt wird, eine gute Sache.
Feste feiern, wie sie fallen
Nun kann man natürlich argumentieren, dass es für die Wertschätzung von Fürsorge keinen festen Tag im Kalender braucht, sondern politische Veränderungen; kein selbstgebasteltes Lesezeichen, sondern finanzielle Absicherung; kein auswendig gelerntes Gedicht, sondern einen hieb- und stichfesten Gesetzestext. Dem stimme ich zu.
Und dennoch bin ich ein Fan von kleiner Symbolik, die von Herzen kommt. Von Würdigung und Wertschätzung, die jenseits der großen Bühne stattfindet. Von Ritualen, die Familien dabei helfen, nicht alles selbstverständlich zu nehmen, sondern auch mal Feste zu feiern.
So empfinde ich übrigens nicht nur im Bezug auf den Muttertag. Mein Eindruck ist generell, dass wir uns keinen Gefallen damit tun, wenn wir Rituale, Festtage und Anker im Jahres- oder Lebenskreis einfach ersatzlos ausfallen lassen, weil sich der Blick auf sie verändert hat. Denn oft gehen mit Ritualen und Festen nicht nur eingestaubte Vorstellungen von der Welt einher, sondern sie besitzen durchaus auch sinnvolle Funktionen.
Vor einer Woche haben wir zum Beispiel einen Tag gefeiert, der mein Mutterherz viel mehr hat überlaufen lassen, als es ein Fürsorge-Tag jemals könnte: die Konfirmation unseres großen Sohnes. Im Laufe dieses wunderbaren Tages habe ich ein paar Mal daran gedacht, wie viel Jugendliche verpassen, die ein solches Ritual nicht erleben dürfen.
Anker und Rituale auf dem Lebensweg
Und damit meine ich nicht den Berg an Geschenken (der natürlich für viel Freude gesorgt hat und dessen Bedeutung ich keinesfalls geringschätzen möchte) – und nicht mal das „Ja“ zu Gott und Kirche. Ich meine den Teil dieses Tages, den man natürlich auch in anderen Übergangsritualen dieser Art finden kann: Das Zusammenkommen und Feiern eines heranwachsenden Menschen, der seine Kindheit hinter sich gelassen hat und über den und dessen Entwicklung sich Andere freuen.
Dieser eine Tag im Leben, der nur diesem jungen Menschen gehört und durch den er sehen darf, wie viele Leute am Wegesrand stehen und ihm applaudieren, während er schnellen Schrittes Richtung Erwachsenenleben spurtet. Das Feiern einer Kindheit, die zu Ende gegangen ist und einer neuen Lebensphase, die begonnen hat und die der junge Mensch mit Freude und Zuversicht beginnen darf – und in unserem Fall gern auch mit Gott an seiner Seite.
Konfirmationen sind zwar immer noch nachgefragt und oft durchlaufen auch solche Jugendliche die Konfirmandenzeit, die sich sonst in kirchlichen Angeboten nicht wiederfinden. Dennoch geht die Zahl der Konfirmand:innen zurück, in manchen Orten oder Stadtteilen kommen auch gar keine Konfirmand:innengruppen mehr zusammen. Gleichzeitig ist mir nicht bekannt, dass die Zahl der Jugendweihfeiern in Westdeutschland signifikant zugenommen hätte oder das andere Ersatzrituale an die Stelle der Konfirmation getreten wären. Meine Vermutung ist eher, dass eine wachsende Zahl von Jugendlichen kein Übergangsritual mehr feiert.
Das kann man natürlich, wie auch die Muttertagsdebatten, mit einem Schulterzucken quittieren. Es gibt aus Sicht Vieler wahrscheinlich Schlimmeres, als keine solche Feier im Festkalender stehen zu haben. Aber wo fangen wir an, Anker und Rituale aus dem Lebenskreis zu streichen und wo hören wir auf?
„Ja“ sagen zur Festlegung
Gegenwärtig wird unter progressiven Christ:innen gerade intensiv über Sinn und Unsinn von Ehen und Eheschließungen diskutiert. Einige Argumente kann ich gut nachvollziehen, andere nicht. Und auch hier frage ich mich, ob uns Menschen nicht etwas fehlt, wenn wir darauf verzichten, uns im wahrsten Sinne des Wortes zu „trauen“ und das auch zu feiern. Das „Ja“ zweier Menschen zueinander, das ein „Ja“ über einen absehbaren Zeitraum hinaus sein soll, mag nicht immer Bestand haben, bröckelig und manchmal zäh sein. Aber es ist auch der feste Vorsatz, es versuchen zu wollen, sich festlegen zu wollen in einer Welt, in der alles beliebiger und austauschbarer geworden ist und Sicherheiten wanken.
Richtig ist sicher auch: Der Wegfall von alten Traditionen kann Menschen unfassbar erleichtern, gerade dann, wenn diese Traditionen für sie nur noch aus dem sprichwörtlichen Bewahren der Asche bestanden haben, während das Feuer längst erloschen ist. Doch mir fällt mindestens ein Lebensereignis ein, in dem es sich meiner Meinung nach mittlerweile bitter rächt, dass wir zum Teil einengende und angestaubte Rituale haben fallen lassen, ohne Menschen neue Strukturen anzubieten – und das ist das Lebensende. Wir haben den Umgang mit Tod und Sterben verlernt, mit Abschiednehmen und mit Trauern.
Ich schätze, niemand vermisst einen festgeschriebenen oder durch Konventionen aufgezwungenen Umgang mit dem Verlust naher Angehöriger. Dass ich mir im Trauerfall selbst überlegen kann, ob man mir den Verlust schon durch die Wahl meiner Kleidung ansehen soll oder ich lieber bunte Sachen tragen möchte, ist genauso eine Befreiung wie die Tatsache, dass es in meinem Ermessen liegt zu entscheiden, inwieweit ich selbst weiter am gesellschaftlichen Leben teilnehmen möchte, wann ich trotz Trauer Spaß und Freude empfinden kann und mit wem ich diese überhaupt teilen möchte. Für viele Sterbende und ihre Angehörigen ist es gut zu wissen, dass es mittlerweile gute Alternativen zur christlichen Beerdigung auf einem Friedhof gibt und dass man niemandem so etwas wie eine Grabpflege aufbürden muss, wenn das nicht gewollt und zu leisten ist.
Doch die Veränderungen der Trauerkultur bergen auch ihre Schattenseiten: Sterben und Trauern sind so individuell geworden, dass den meisten von uns eine Idee davon fehlt, wie damit umzugehen ist. Spreche ich die Bekannte, deren Mann kürzlich verstorben ist, auf ihren Verlust an, wenn ich sie im Supermarkt sehe oder mache ich Smalltalk, als sei nichts? Nicht wenige umgehen diese Frage, indem sie schnell in die nächste Abteilung huschen, als hätten sie die Trauernde nicht bemerkt. Was brauchen Eltern, die gerade ihr Kind verloren haben, wie kann ich einen Witwer begleiten, der seinen ersten Geburtstag ohne seine Frau feiern muss? An die Stelle von festen, manchmal engen und wenig hilfreichen Strukturen ist ein großes Nichts getreten. Ratlosigkeit, Schweigen und daraus resultierend: Einsamkeit.
Nicht nur Trauernde bekommen diese zu spüren, sondern auch Menschen, die wissen, dass ihr Lebensende naht. Denn auch hier fehlen uns Worte, ein Gespür für das richtige Maß der Begleitung und Vorbilder im Umgang damit. Stattdessen würden wir am liebsten wegsehen, wenn irgendwo jemand aus dem Leben geht. Die Kirchen haben sich auch an dieser Stelle mit ihrer Botschaft schüchtern aus der Welt zurückgezogen – und haben die Hoffnung mitgenommen, die gerade in dieser letzten Phase des Lebens einen Unterschied machen könnte.
Reparieren statt Wegwerfen
Freiheit und Individualität, ein selbstbestimmter Lebensweg, der sich nicht durch Konventionen und unpassende Traditionen bestimmt, sondern auf dem ich mein Leben und Lieben, mein Trauern und Sterben selbst gestalte – das kann befreiend sein – oder haltlos und heillos.
Viele Rituale und Traditionen, die über Generationen selbstverständlich zum Lebens- oder Jahreskreis gehört haben, müssen in einer Welt, die sich so gewandelt hat, hinterfragt werden. Doch wir sollten uns davor hüten, ein Vakuum zu hinterlassen. Manches bedarf einer gründlichen Hinterfragung und Modernisierung: Ein Muttertag, der nur die Fürsorgearbeit von leiblichen Müttern im Rahmen von traditionellen Kleinfamilien würdigt, ist aus der Zeit gefallen. Die Würdigung von sonst eher unsichtbarer Fürsorge und die damit einhergehende Freude von Kindern nicht. Über das Verhältnis von Männern und Frauen und die patriarchalen Strukturen, die dieses noch immer prägen, sollten wir weiter diskutieren – über den Wert des Versprechens „In guten wie in schlechten Tagen“, das sich zwei Menschen geben, nicht.
Ganz klar, Rituale und Traditionen müssen bunter und inklusiver werden. Sie sollten ein Geländer zum Langhangeln sein, auf einem Gelände, das wir oft nicht gut überblicken können, und keine Fußfessel. Wir müssen zukünftig mehr über Diversität und soziale Ungerechtigkeit reden (eine Konfirmation ist übrigens ein zutiefst sozial ungerechtes Ereignis, aber darüber schreibe ich ein andermal vielleicht). Aber lasst uns aufhören, alles immer gleich in die Tonne zu kloppen, was irgendwie nicht mehr passt. Wir merken doch auch gerade in anderen Bereichen, dass Reparieren oder Umnähen viel nachhaltiger ist als etwas wegzuwerfen.
Alle Ausgaben der Familienkolumne „Gotteskind und Satansbraten“ von Daniela Albert in der Eule.
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