Wie die Digitalisierung Gemeinde verändert

In ihrem Buch „Vernetzt und zugewandt: digitale Gemeinde gestalten“ beschreiben Hanno Terbuyken und Philipp Greifenstein den Weg zur digitalisierten Kirchgemeinde. Ein sneak peek ins Buch.

Wenn Sie sich dazu entschieden haben, Ihre Kirchengemeinde digitaler zu machen, stehen Sie vor der Herausforderung: Wie machen wir das konkret? Auch wenn digitale Gemeinde ohne die richtige Einstellung nicht funktioniert, muss zum Denken natürlich das Handeln hinzukommen. Die innere Gestalt des Lebens in der Digitalität beschreibt eine Haltung, die grundsätzliche Bereitschaft zur Vernetzung und Entgrenzung der Zusammenarbeit. Die äußere Gestalt ist der konkret sichtbare Einsatz digitaler Werkzeuge.

Das eine geht nicht ohne das andere: Wenn ich einen Instagram-Account für die Gemeinde eröffne, aber nur der Pfarrer das Passwort des Accounts hat, spiegelt sich darin eine andere innere Gestalt von Kirche wieder, als wenn ich allen Mitarbeiter:innen das Passwort zur Verfügung stelle und wöchentliche sogenannte Handover durch verschiedene Verantwortliche gestalte oder aber jeden Inhalt im Kirchenvorstand absegnen lassen möchte.

Digitale Prozesse in der Gemeinde funktionieren nur dann auf Dauer gut, wenn sie nicht als Beiwerk, Mehrarbeit oder nebensächlich betrachtet werden. Eine kritische Masse an Mitmachenden ist wichtig. Digitalisierung ist nicht Kür und Innovation, sondern Notwendigkeit und Alltag. Es gibt daher einige Fragen, die jede Kirchengemeinde für sich beantworten muss, wenn sie sich auf den Weg zur digitalen Gemeinde macht.

Die äußere Gestaltung der digitalen Kirchengemeinde verrät manchmal mehr als uns lieb ist über die innere Gestalt unserer Gemeinschaft, über unser Verständnis von Kirche-Sein. Digitalisierung sorgt nicht per se für Veränderung, aber sie sorgt nicht selten dafür, dass Missstände erkannt werden, weil wir sie durch eine andere Linse, eben die der Digitalisierung betrachten.

„Vernetzt und zugewandt: digitale Gemeinde gestalten“ – Ein Praxishandbuch von Philipp Greifenstein und Hanno Terbuyken

Wie kann die Digitalisierung von Kirchgemeinden gelingen? In den letzten Jahren hat die Digitalisierung der Kirchen an Fahrt aufgenommen. Doch es gibt noch viel zu tun! Die Lebenswelt der meisten Menschen ist digital, viele Gemeinden sind es noch nicht. Im Praxishandbuch „Vernetzt und zugewandt“, das beim Neukirchener Verlag erschienen ist, zeigen die Autoren, wie die Digitalisierung einer Kirchgemeinde gelingen kann: Ein hilfreicher Begleiter für haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende aller Konfessionen, um die eigene Gemeinde fit für die digitale Gesellschaft zu machen.

Dieser Artikel ist ein (leicht gekürzter) Vorabdruck aus dem 2. Kapitel des Buches, das sich mit den Konsequenzen der Digitalisierung für Gemeindebild und -Praxis befasst.

Wer sich ernstlich auf den Weg macht, die eigene Kirchengemeinde zu digitalisieren, wird immer auch mit Fragen nach dem Verständnis unserer Gemeinschaft als soziale Gruppe am Ort und als Kirche konfrontiert. Das liegt auch daran, dass Digitalisierung niemals wertfrei ist. Es geht eben nie nur um Technik oder Werkzeuge. Der Digitalität wohnen eigene Grundmuster und Überzeugungen inne, die das Leben einer digitalisierten Gemeinde bestimmen. In diesem Sinne ist Digitalisierung Teil von Kirchenentwicklung.

Solche Selbstverständnisfragen sind zum Beispiel: Wollen wir uns darauf einlassen, dass sich althergebrachte, eingespielte Vorgänge verändern dürfen? Wollen wir neue Freiheiten leben? Wollen wir eine neue, größere Gleichberechtigung zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen zulassen? Wollen wir eine Gemeinde werden, die stärker bedarfsgerecht statt absender-orientiert handelt? Für wen sind wir eigentlich da?

Veränderung akzeptieren, mit den Menschen rechnen

„Culture eats strategy for breakfast” ist einer der meistzitierten Sätze in Managementkursen. Und er stimmt. Wie wir in konkreten Situationen handeln, kann jede Festlegung darauf, was man eigentlich strategisch erreichen möchte, direkt wieder umwerfen. Wer Veränderungen möchte, muss akzeptieren, dass Dinge wirklich nicht so sein werden, wie sie vorher waren, und damit im Herzen auch einverstanden sein. Das „Gelassenheitsgebet“ des US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr, das von den Anonymen Alkoholikern (AA) und vom Zentrum Innere Führung der Bundeswehr genutzt wird, fasst zusammen:

„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Das ist als Erinnerungsstütze im Leben wie bei der Digitalisierung einer Kirchengemeinde hilfreich, besonders wenn wir uns einmal kurz die Urfassung des Gebetes anschauen: Da bittet Niebuhr um „courage to change what must be altered, serenity to accept what cannot be helped“, den „Mut zu ändern, was sich ändern muss, Gelassenheit hinzunehmen, was wir nicht verbessern können“. Denn es gibt natürlich Dinge, die sich ändern müssten, die wir aber nicht ändern können, weil uns Kraft und Zeit, Engagement und Geduld ausgegangen sind.

Digitalisierung für und mit Menschen rechnet damit, dass Menschen nicht mitmachen wollen, der Digitalisierung als Ganzes oder einzelnen digitalen Werkzeugen sehr skeptisch gegenüberstehen. Teil des Technikglaubens des Silicon Valley ist die Annahme, durch die Digitalisierung würden wir Menschen uns auf magische Weise verändern und zu ganz neuen Menschen werden. Christ:innen wissen, dass wir das – im Hinblick auf die innere Gestalt – nicht werden können. Uns „neu zu machen“ ist Gott und seiner erlösenden Botschaft vorbehalten. Wir können uns verändern lassen, aber unter den Bedingungen unserer gefallenen Welt müssen und können wir auch einen guten Umgang damit finden, dass wir Menschen nun einmal ganz menschlich sind. Und das heißt: Die meisten Menschen bringen nur ab und zu wirklich den Mut für Neues auf.

Müssen wir „alle mitnehmen“?

Es mag im Kontext der Kirche radikal klingen, aber manchmal dürfen Menschen vorangehen und Dinge alleine machen. Wenn eine:r oder zwei dagegen sind – egal, gegen was – und deshalb Entscheidungen nicht getroffen werden, wird ihnen eine Veto-Macht gegeben, die im Normalfall gar nicht gewollt ist. „Einstimmig“ bedeutet andersherum nämlich auch: Jede Person kann alles aufhalten.

Werfen Sie einen Blick ins entsprechende Kirchengesetz, in dem die Aufgaben und Arbeitsweisen des Kirchenvorstands und vergleichbarer Gremien beschrieben sind! Dort wird in der Regel festgehalten, wie Entscheidungen grundsätzlich getroffen werden sollen – nämlich als Mehrheitsentscheidung und nicht einstimmig. Wenn es de jure ein Veto gibt, zum Beispiel durch den Pfarrer in katholischen Pfarreien, wird das explizit erwähnt.

Es ist übrigens ok, wenn nach positiv verlaufenen Mehrheitsabstimmungen die Nein-Stimmen den angestoßenen Prozess auch weiterhin kritisch beobachten. Das kann sogar positive Effekte haben, weil dann die Frage nach dem tatsächlichen Erfolg ernsthaft gestellt wird. Es ist möglich und nicht selten nötig, dass sich einzelne Menschen schon auf den Weg begeben, vor dem andere noch zurückschrecken. Das wandernde Gottesvolk braucht immer auch eine Nachhut. Skeptiker: innen können in den Digitalisierungsprozess wertvolle Erkenntnisse einspeisen, zum Beispiel über das Nutzungsverhalten der Menschen und Gruppen, die sie besonders im Blick haben.

Für die Frage, ob eine Gemeinde digitaler werden kann, ist die Abkehr von der Einstimmigkeit aber wichtig. Denn in die Zukunft orientierte Experimente werden immer auf Widerstand bei jenen treffen, die nicht wollen, dass sich etwas verändert. Menschen mitzunehmen bedeutet, ihnen zu erklären, was passiert, ohne sie zu zwingen, sofort daran teilzunehmen.

Mit einer kleinen Gruppe von Menschen voranzugehen ist einfacher, als auf allgemeine Zustimmung zum Satz „Jetzt kommt mal alle mit!“ zu hoffen. Ja, das Gottesvolk zieht mit Mose aus Ägypten aus, aber die innere Gestalt des Volkes verändert sich erst auf dem Weg. Diesen Weg geht Mose nicht allein, sondern bedarf der Hilfe anderer Akteur:innen, die mit Politik und Inspiration helfen.

Meine engen Grenzen: Hilfe suchen

Machen wir uns einmal ganz ehrlich: Aus jahrelanger Erfahrung und sehr vielen Gesprächen mit Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen aus den Kirchen wissen wir Autoren, wie schwer gerade der Anfang der Digitalisierung einer Kirchengemeinde ist. Es müssen wirklich viele Hürden übersprungen werden, denn Mentalität, Milieus und der Zeitgeist in unseren Kirchen deuten eher in Richtung Verzagtheit, Bewahrung und Selbstaufgabe.

Da können so ein paar engagierte Digitalisierungs-Fans empfindlich stören! Häufig handelt es sich bei den Digitalisierer:innen um Menschen, die mit den Leitungskulturen in unseren Gemeinden und Kirchen wenig vertraut und schlecht vernetzt sind, denen eine eigene Machtbasis fehlt. Gerade wenn Jugendliche durch solche Grenzen abgeschreckt werden, verbauen wir uns nicht nur den Weg zur Digitalisierung, sondern auch zur Zukunft der Kirche allgemein.

Wer Digitalisierung anschiebt, braucht Hilfe. Umso mehr gilt das für diejenigen, die nicht nur ein Strohfeuer-Projekt initiieren wollen, sondern langfristig digital in der Kirchengemeinde arbeiten wollen. Alles, was mal jemand angefangen hat, muss, damit es weitergeht, auch jemand weiter machen. Das jahrelange Mitleben und Mitleiden mit digitalbegeisterten Christen hat uns gelehrt: Hier geht enorm viel kaputt! Engagierte Kirchenmitglieder werden durch unnötige Verzögerungen und Hürden demotiviert und entmutigt. Nicht wenige haben sich wegen solcher Erlebnisse schon von ihrer Kirchengemeinde abgekehrt. Die Arbeit an der Digitalisierung umfasst für Hauptamtliche in den Kirchengemeinden deshalb auch die Seelsorge an den ehrenamtlichen Digitalisierer:innen.

Viele kleine digitale Flammen sind in den vergangenen Jahren schnell wieder erloschen. Das ist nicht per se schlimm. Um Enttäuschungen vorzubeugen, bedarf es aber eines einigermaßen realistischen Erwartungsmanagements. Auch hier sind die Hauptamtlichen und die Gemeindeleitung gefragt: Welche Ressourcen stehen überhaupt zur Verfügung? Wie viel Arbeitszeit und Geld können wir einsetzen? Wie viel Zeit geben wir uns für einen neuen Prozess? Dabei kann es helfen, von vornherein in Projekten zu denken. Nichts auf Erden ist für die Ewigkeit.

„Vernetzt und zugewandt“ im Bücherregal, Bild: Neukirchener Verlag

Woher kommt mir Hilfe?

Um Kirchengemeinden bei der Digitalisierung zu helfen, hat sich in den vergangenen Jahren ein erstaunlich großes Netz an Akteur:innen etabliert. Da wären in den einzelnen Bistümern und Landeskirchen: Internetbeauftragte, Öffentlichkeitsarbeiter:innen und IT-Abteilungen. Zuständigkeiten und Aufgabenspektren der einzelnen Abteilungen und Beauftragten sind zum Teil sehr unterschiedlich, aber es gibt sie: Jene Menschen, deren vornehmliche berufliche Aufgabe die Digitalisierung ihrer Kirche ist. Das ist immer noch relativ neu in unseren Kirchen und stellt einen großen Fortschritt im Vergleich zu den 2000er Jahren dar.

Die Vielfalt an Digitalisierungsthemen und auch so mancher Hype, der in den vergangenen Jahren durch die Tech-Branche flitzte, hat die Fokussierung kirchlicher Arbeitsstellen und -strategien auf das, was wirklich anliegt, deutlich erschwert. Internetbeauftragte der Kirchen beschäftigen sich gerne mal mit „KI“, dem Metaversum oder Robotik. Auch die Reflexion solcher digitaler Trends ist natürlich wichtig, aber die Unterstützung von Kirchengemeinden und engagierten Haupt- und Ehrenamtlichen in der Fläche bleibt auch in den 2020er Jahren eine Herausforderung.

Wenn wir Autoren sagen: „Suchen Sie sich Hilfe in ihrer Kirche!“, dann wissen wir darum, dass eine solche praktische Unterstützung leider nicht überall zu finden sein wird. Dieser Befund sollte aber nicht dazu führen, nicht aktiv nach Unterstützung zu suchen und nachzufragen und dabei das Kirchenorganigramm nach „oben“ abzuklappern. Nur wenn auch die Leitungsebenen von Bistümern und Landeskirchen vom tatsächlichen Bedarf an konkreter Unterstützung erfahren, kann sich am Beratungsnotstand in den Kirchen etwas ändern.

Häufiger noch als überhaupt keine Hilfe zu finden, kommt es hingegen vor, dass Hilfsangebote der eigenen Kirche übersehen oder aktiv ausgeschlagen werden. So manches Puzzleteil der Digitalstrategien unserer Kirchen wird gut versteckt. Hier setzen sich bei der Digitalisierung Probleme fort, die wir in unseren analogen Kirchen zur Genüge kennen: Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut. Gerade der Austausch über mehrere Ebenen und kirchliche Handlungsfelder hinweg – zum Beispiel zwischen Akademien und Kirchengemeinden – ist wahnsinnig schwer, weil gleich eine ganze Kette von Multiplikator:innen eingebunden werden muss.

Networking gegen die Einsamkeit

Digitalisierung schließt die Überwindung von hierarchischen und geografischen Grenzen ein. Auch außerhalb des digitalen Raums steht keine Kirchengemeinde für sich allein. Vom Pastoralen Raum angefangen über Kirchenkreis oder Dekanat bis hin zu Bistum und Landeskirche gibt es Partnerorganisationen in der eigenen Kirche, die Aufgaben und Angebote übernehmen können. Hinzu kommen Nachbarn wie die Kommune, Vereine und weitere Organisationen, mit denen man zusammenarbeiten kann. Es gibt andere Religionsgemeinschaften, die in der gleichen Nachbarschaft wirken. Es gibt lokale Geschäfte, Theater, Veranstaltungsräume und so weiter. Alle diese Nachbarn sind da und haben vielleicht sogar die gleichen oder ähnliche Ideen oder stehen vor denselben Problemen wie Ihre Kirchengemeinde.

Ein häufig wiederholter Satz im Digitalisierungsdiskurs der Kirchen ist, dass #digitaleKirche keine Landeskirchen- oder Bistumsgrenzen kenne. Beim Blick auf die häufig nebeneinanderher laufenden Digitalisierungsstrategien von Landeskirchen und Bistümern kommt man da ins Zweifeln. Es kocht doch jeder immer noch gern sein eigenes Süppchen! Doch sowohl auf höheren Kirchenleitungsebenen als auch auf Graswurzelebene gibt es bereits zahlreiche vernetzte Strukturen.

Besonders Digitalbegeisterte aus kleineren Kirchen und/oder strukturschwachen Regionen sind darauf angewiesen, sich anderswo umzuschauen und Hilfe zu suchen. Sie sind mit ihrem nachbarschaftlichen Mindset der vernetzten Arbeit über traditionelle Organisationsgrenzen hinweg ihren Kirchen voraus: Der schrittweise Rückbau kirchlicher Infrastruktur aufgrund des Rückgangs der Kirchenmitgliedschaft wird solches Handeln in Zukunft auch dort notwendig machen, wo heute noch der Glaube vorherrscht, man könne alles alleine für sich regeln.

Not macht erfinderisch und Kirche kann heute schon nicht als alles bestimmender Player auftreten. Sich mit anderen Akteur:innen zu vernetzen, bedeutet immer auch, einen Teil der Deutungs- und Handlungshoheit aufzugeben. Das kann für die an Reichtum und Macht gewohnten Kirchen in Deutschland nur von Vorteil sein. Denken wir einmal an Jesus, von dem in den Evangelien häufig genug berichtet wird, dass er auf seinen Reisen bei Freunden und Unterstützer:innen untergekommen ist, ein Dach über dem Kopf fand und an einen gedeckten Tisch eingeladen wurde.

Auch unseren Kirchengemeinden heute wird nicht selten ein Tisch bereitet, wenn sie ihre Umgebung nicht als ihnen feindlich oder skeptisch gegenüber eingestellt wahrnehmen, sondern sich als Partner im Sozialraum anbieten. Die Notwendigkeit vernetzter Arbeit ist eine der Grundprinzipien der digitalisierten Gesellschaft. Auch hier verändert Digitalität zunächst die äußere Gestalt von Kirche, hat aber transformierende Auswirkungen darauf, wie wir uns als Kirche verstehen.


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