Winterhoff wackelt, seine Thesen nicht!
Unsere Familien-Kolumnistin Daniela Albert kann sich über den Sturz des Kinderpsychiaters Michael Winterhoff nicht freuen: Denn sein Denken wurzelt tief in unserer Gesellschaft.
Ich habe mir diesen Sommer eine lange Social-Media-Pause gegönnt. Im August habe ich mir nicht nur eine Sommerpause von der Kolumne genommen, sondern habe all jene Apps vom Handy gelöscht, die ich sonst viel und gern nutze. Kein Twitter, kein Instagram, kein Facebook. Stattdessen himmlische Ruhe. Zumindest fast.
Es gibt nämlich Aufschreie, die so laut waren, dass ich sie selbst auf einem einsamen Hausboot auf der Mecklenburger Seenplatte gehört habe. Einer dieser Aufschreie handelte von einem gewissen Michael Winterhoff.
Jahrzehntelang war er gefeierter Held in so mancher Talkshow, Bestsellerautor, Redner und angeblich eine Koryphäe, wenn es um Kinder und Jugendliche und ihren Zustand ging (Spoiler: Er attestierte ihnen jedes Mal einen ganz miserablen Zustand). Nun aber brachte eine Doku des WDR Winterhoffs Popularität ins Wanken. Aufgrund der Schilderungen von Betroffenen waren Zweifel an der Seriosität des Kinderpsychiaters und seinen Behandlungsmethoden aufgekommen. Nun maße ich mir nicht an, dies zu beurteilen. Ich vermute, damit werden sich Gerichte und Fachgesellschaften nun noch eine Weile beschäftigen müssen.
Winterhoffs unheimlicher Erfolg
Viel spannender finde ich die Frage, warum überhaupt erst jetzt an Michael Winterhoffs Kompetenz und Seriosität gezweifelt wird. Warum nicht schon, als er Bücher mit reißerischen Titeln veröffentlichte und darin Thesen propagierte, die wissenschaftlich längst widerlegt waren? Warum hat er es mit seiner irrationalen Angst vor kleinen Tyrannen über viele Jahre immer wieder auf die Titelseiten großer Zeitungen, Elternmagazine und auch christlicher Medien geschafft?
Jede:r, die sich ein bisschen mit Erziehungswissenschaft, Psychologie, Jugendsoziologie oder verwandten Fachgebieten beschäftigt, weiß, dass das was Herr Winterhoff uns weismachen will, nichts mit der Realität zu tun hat. Die Journalistin Julia Dibbern hat schon vor Jahren ein Buch geschrieben, in dem sie Winterhoffs Thesen widerlegt. Alles, was sie schreibt, lässt sich mit Zahlen und Fakten belegen. Es ist nämlich keineswegs so, dass die Jugend immer schlimmer wird und unsere Kinder durch moderne Erziehungsstile zu kleinen Tyrannen gedeihen. Mehr noch: das Gegenteil ist der Fall. Der Kriminologe Christian Pfeiffer hat schon vor vielen Jahren herausgefunden, dass die heutige Jugend in mehrerlei Hinsicht die beste ist, die dieses Land je gesehen hat.
Es hätte deutsche Journalist:innen also nur ein bisschen Recherche und guten Willen gekostet, um zu merken, dass Winterhoff keineswegs im Besitz der alleinigen Wahrheit über den Zustand von Kindern und Jugendlichen ist. Trotzdem war er viele Jahre lang gefragter Experte. Warum? Liegt das nur daran, dass sich mit Untergangsszenarien einfach so gut Geld verdienen lässt?
Der Grund der Täuschung: Eine unbequeme Wirklichkeit
Ich glaube es hat noch einen anderen Grund: Das, was Winterhoff verbreitet, ist bequem. Denn in seiner Welt sind die Kinder die Schuldigen an der Misere. Sie – und vielleicht noch die zu weichen, netten und zu wenig autoritären Eltern, die eine lebensuntaugliche Generation heranwachsen lassen. Alle anderen sind bei dieser Zustandsbeschreibung fein raus. Sie müssen sich nicht mehr nach ihrem eigenen Anteil an Problemen von und mit Kindern und Jugendlichen fragen. Denn das wäre doch unbequem.
Kinder haben zwar seit über 20 Jahren das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, aber in etwa die Hälfte der Deutschen hält einen Klaps auf den Po immer noch für unproblematisch! Wir garantieren schon den allerkleinsten Kindern einen Betreuungsplatz, setzen aber dabei auf Masse statt Klasse und lassen Bindung und Beziehung in außerhäuslicher Betreuung oft außen vor.
Unser Schulsystem entspricht mitnichten den Bedürfnissen junger, lernfreudiger Menschen, und wir könnten weit mehr unternehmen, um jedes Kind optimal zu fördern. Und nicht immer haben Kinder den Stellenwert in unserer Gesellschaft, den sie haben sollten. Auch in unseren Kirchgemeinden müssten wir Gespräche führen – denn sind wir ehrlich, auch sonntags im Gottesdienst möchte so manche:r Pfarrer:in Kinder doch lieber nur sehen und nicht hören.
Wir müssten uns eine Menge Fragen stellen – und deren Antworten aushalten. Wir wären als Erwachsenengesellschaft zum Handeln gezwungen und zur Verschiebung unserer Prioritäten. Da ist es doch bequemer, Probleme zurück in die Familien zu geben, in denen sie entstanden sind.
Die einfache Lösung: Schuld hat das Kind
All das allein ist schon äußerst unbequem, aber längst noch nicht alles: Wenn wir uns wirklich fragen, was Kinder und Jugendliche brauchen, wenn wir das Wort „Gewaltfreiheit“ in all seinen Ausprägungen ernst nehmen und uns aufmachen, etwas in ihrem Sinne zu verändern, müssen wir uns zwangsläufig unseren eigenen, dunklen Seiten stellen.
Wir müssten genau hinschauen, was uns selbst geprägt hat und warum es uns oft so leicht fällt, Kindern etwas Schlechtes zu unterstellen. Wir müssten unsere eigene Erziehung ansehen und die schwarze Pädagogik, die unsere Eltern und Großeltern erlebt und weitergegeben haben. Das könnte verdammt schmerzhaft werden. Da bleiben wir doch lieber beim Altbekannten: Die Kinder sind schuld und werden immer schlimmer!
Genau deswegen hat sich bei mir nicht das leiseste Gefühl von heimlicher Genugtuung eingestellt, als ich davon erfuhr, dass das System Winterhoff wackelt. Denn Winterhoff mag einer der Lautesten gewesen sein, der Einzige ist er nicht. Es wird sich immer wieder ein neuer Winterhoff, ein neuer Langer, eine neue Kast-Zahn finden, die einfache Lösungen anbieten und die Erwachsenengesellschaft aus ihrer Verantwortung befreit. Und es werden sich Medien finden, die sie hofieren – weil es in einer Gesellschaft, in der Kinder noch immer so viel Geringschätzung erfahren, einfach allzu leicht ist.