Wo finde ich Antworten beim Thema Abtreibung?
Nicht nur in den USA wird über Abtreibung gestritten. Carlotta Israel hat YouTube geschaut und dabei sehr unterschiedliche Perspektiven entdeckt. Können sie uns helfen?
Ich gebe es zu, ich sehe gern Videos. In Freundschaftsbücher traute ich es mich nie einzutragen, aber eigentlich wäre „Fernsehen“ wohl mein Lieblingshobby gewesen. Mittlerweile geschieht das im Internet und bei YouTube. Da schaue ich viel zu lange irgendwelchen meist nordamerikanischen YouTuberinnen beim decluttern (Aussortieren) zu und dem, was sie alles so erleben.
Falls jemand Empfehlungen haben möchte: Ich kenne mich da wirklich ganz gut aus in der Minimalismus-Stay-At-Home-Mom-YouTuberinnen-Szene. Die meisten Frauen, die ich da angucke, sind weiß, cis, heterosexuell, verheiratet und mehrfache Mütter. Sie zelebrieren Hausfrau-Sein und verdienen über Social-Media Geld, sind teilweise Alleinverdienerinnen. Das allein bringt einen feministisch denkenden Kopf schon zum Rauchen. Wie sehr sie ihre Kinder dabei präsentieren, ist eine ganz andere Frage.
Unter diesen Influencer*innen ist zum Beispiel Sarah Therese, deren kürzlich stillgelegter YouTube-Kanal 1,2 Millionen Follower*innen hat. Im Februar 2019 lud sie ein dreiminütiges Video „little doesn’t mean worthless | from a pro-life Mama“ hoch. Damit betrat sie contentmäßiges Neuland auf ihrem Channel: Sie wollte darin ihre Stimme erheben für die, die keine haben, und aus ihrer Perspektive als junge Mutter sprechen. Sie sei als Mutter da, um ihre Kinder zu schützen und sich für sie zu opfern – ja, sie spricht von sacrifice. Sie fragt: Warum laufen wir vor Verantwortung weg? Und: Warum wird Leben nur wertgeschätzt, wenn es gewollt ist? Und endet in Anlehnung an den Titel mit: Seit wann hieß „klein“ wertlos zu sein?
Zehn Tage später wandte sie sich den Kommentaren zu. Ihr Post zum Thema auf Instagram erhält immer noch weitere meist kritische Kommentare. In dem Video „Pro-Life Woman Answering Pro-Choice Comments“, das deutlich häufiger geklickt wurde als das erste Video, sagt sie gleich zu Beginn ganz direkt, dass sie Abtreibung für „totally wrong“ hält, sie nie eine Option sein sollte, dabei ein Baby getötet wird unabhängig davon, ob es geboren wurde oder nicht, und Abtreibung schlichtweg das Böse ist.
Mit dieser Meinung ist die Kanadierin offensichtlich nicht allein auf der Welt. Das zeigen auch die jüngsten Gesetzesverschärfungen z. B. in Polen, in Texas oder in Florida (einen spannenden Twitter-Thread dazu hat Laura Sophie Dornheim verfasst) und die vermutliche Abschaffung von Roe v. Wade durch den Supreme Court der USA, die in dieser Woche diskutiert wird.
Argumente einer Pro-Life-Mutter gegen Abtreibungen
Zurück zum langen Video. Darin führt sie in die entscheidenden, teilweise ethischen Diskussionspunkte ein – im Hintergrund sind Babygeräusche ihres dritten Kindes hörbar. Ihr erster Kritikpunkt: In der Abtreibungsdebatte würden zu viele Euphemismen verwendet, dabei ginge es doch einfach nur ums Töten. Und ja, das denke ich auch, wenn der Begriff „Schwangerschaftsunterbrechung“ benutzt wird.
Ihr zweites Argument: Ein Fötus ist menschliches Leben. Damit sind wir am Kern der Debatte angekommen. Das Argument, es handele sich z. B. vor der 12. Schwangerschaftswoche nicht um voll entwickeltes Leben, lässt sie nicht gelten, weil auch ihre 3-jährige Tochter auf sie angewiesen, also nicht voll entwickelt ist. Ein Leben in Abhängigkeit sei immer noch ein Leben.
Drittens wendet sie sich verschiedenen erhobenen Einsprüchen zu: Ein Kind könne nicht dafür büßen, wie die sozialen und/oder finanziellen Umstände der Mutter aussehen oder dafür, dass es aus einem Akt sexualisierter Gewalt entstanden ist. Ein gesundheitliches Risiko für die Mutter lässt sie nicht gelten. Sie kenne drei Frauen, bei denen es dann doch ok war, die Schwangerschaft auszutragen.
Insgesamt fundiert sie ihre Argumente mit persönlichen Geschichten, Testimonials für ein Leben ohne Abtreibung. Meistens sei „nur“ der Lebensplan der Mutter das Argument für eine Abtreibung. Bei Abtreibungen stürben auch Frauen und sie hätten einen negativen Effekt auf das ganze Leben.
Ein anderer Blick: Beratung im Schwangerschaftskonflikt
Aber ich gucke ja viele Videos. So zum Beispiel auch welche, die in Folge einer Lehrveranstaltung an der LMU München entstanden sind auf dem Kanal „ethik erklärt“. Hier wurde im März 2022 das Video „Autonomie im Schwangerschaftskonflikt“ hochgeladen. Im Untertitel und Kommentar steht die Frage nach psychosozialer Beratung und ihrer Rolle bei der Entscheidungsfindung. Damit ist hier der Blick schon darauf gelenkt, welche Position evangelische Beratungsstellen haben, haben sollten oder könnten.
Das Video setzt mit der schwangeren Lea ein, bei deren Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Behinderung vorliege. Ihr Freund möchte kein Kind mit Behinderung und ihre Eltern sind gegen einen Schwangerschaftsabbruch. Leas Fragen werden zusammengefasst: Wie geht es anderen Müttern mit Kindern mit Behinderung? Welche Betreuungen und Unterstützungen gibt es?
Sie geht zur psychosozialen Beratung in evangelischer Träger*inschaft. Dort möchte sie ihre Fragen stellen, auch wenn sie vorher Angst hat, in eine Richtung gegen Abtreibung gedrängt zu werden. Drei Grundsätze für evangelische Beratungen werden zusammengefasst: 1. Menschen müssen ergebnisoffen in ihrer Entscheidungsfindung durch Aufklärung unterstützt werden. 2. Unterstützungsangebote für die verschiedenen Varianten werden dargelegt. 3. Die Beratung ist freiwillig. Lea ist nach der Beratung erleichtert. Es wird zusammengefasst: „Die evangelische Kirche setzt sich zwar für den Lebensschutz ein. Dieses Ziel lässt sich aber nur mit und nicht gegen die Frauen erreichen.“
Haben Frauen sich zu opfern?
Sarah Therese und das „ethik erklärt“-Video. Zwei Videos, die vom Algorithmus wahrscheinlich nicht gemeinsam vorgeschlagen werden. Aber doch behandeln sie das gleiche Thema: „Abtreibung“. Beide Videos kommen nicht ohne persönliche Geschichten aus. Diese veranschaulichen das Problem und sollen Lösungen zugänglicher machen. Wahrscheinlich ist es aber auch ein Thema, das darauf drängt, weil es per se persönlich ist. So war auch vor 50 Jahren die Kampagne im Stern „Wir haben abgetrieben“ für die bundesdeutsche Diskussion in den 1970er-Jahren impulsgebend. Aber zurück zu YouTube.
Beide Videos gehen bereits von starken Prämissen aus: Sarah Therese versteht alles, was im Uterus nach einer Befruchtung wächst, von Anfang an als menschliches Leben. Bei „ethik erklärt“ wird für die evangelische Kirche ganz klar die freie und informierte Entscheidung der Frau in den Fokus gestellt, auch wenn am Lebensschutz festgehalten wird. Sarah Therese würde das „pro abortion“ nennen und damit nicht die Bezeichnung der „pro choice“-Bewegung aufnehmen. Für sie steht der Lebensvollzug jeder Mutter* bereits als Opfer fest. So versteht sie ihr eigenes Leben und so sollten Schwangere auch bei medizinischen Indikationen ihr Leben gegen das ihres Kindes zurückstellen – oder wenn die Befruchtung in einem gewaltsamen Akt geschah. Das Recht auf Lebensplanung geben Personen mit einer befruchteten Eizelle also ab.
Dass und inwiefern auch eine erzeugende Person in diese Entscheidung zu involvieren ist, scheint bei Sarah Therese überhaupt nicht vorzukommen. Frauen haben sich zu opfern. Bei „ethik erklärt“ wird Leas eigener Entscheidungskonflikt durch die in Partner und Eltern personifizierten Meinungsextreme einerseits dramatisiert und andererseits veranschaulicht. Überhaupt diese Positionen aussprechen zu dürfen, übersteigt Sarah Thereses Wertekosmos. Dessen Eindeutigkeit würde Lea von ihrer Wahl entlasten, aber auch nur davon. Von nichts sonst.
Wieder ein anderes Video. Eine „beta stories“-Dokumentation des BR, in der es um Pränataldiagnostik geht. Es werden Wissens- und Erfahrungs-Expert*innen gezeigt. Meiner Meinung nach bereitet der Film Informationen gut auf und lässt verschiedene Personen sprechen, ohne sie und ihre Positionen zu verurteilen. Das Video soll Wissen verbreiten. Die Portraitierten nehmen rückblickend auf den Weg ihrer persönlichen oder wissenschaftlichen Entscheidungsfindung mit und bieten so Identifikationsmöglichkeiten für Menschen vor diesen Fragestellungen, die ja auch Lea im „ethik erklärt“-Video beschäftigen.
Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch sind nicht das Gleiche, aber sie sind eng miteinander verknüpft. Und so sind es auch in diesem Video neben den Informationen die Personen, die es bereichern und be-greifbar machen.
Wo stehe ich nach ingesamt etwa 45 Minuten Video-Anschauen?
Erstens: Die Frage nach dem Schwangerschaftsabbruch taucht bei ehemaligen Beauty- und nun Momfluencerinnen wie Sarah Therese auf, kann Teil von Lehrveranstaltungen sein wie bei „ethik erklärt“ oder Inhalt öffentlich-rechtlich produzierter Informationssendungen. Kurz: Die Frage taucht überall auf.
Sie taucht ganz besonders dann auf, das wundert jetzt und zweitens niemanden, wenn eine Person schwanger ist. Diese Frage ist persönlich und als solche sollte sie ernstgenommen werden. Meiner Meinung nach schützen festgelegte Gedanken nicht davor, dass eine*r auch andere kommen. Dafür sollte dann aber keine Schuld empfunden werden! Sarah Therese würde Leas Beratungswunsch gar nicht verstehen, weil sich für sie keine Frage zu stellen hat. Schwanger sein, was für sie synonym mit Mutter sein ist, heißt für sie, sich zu opfern. Das kann sie für sich ja gern so halten, wie sie will, aber daraus bitte kein Sendungsbewusstsein ableiten. Die fingierte Lea oder die real-existierenden Erfahrungsexpert*innen von „beta-stories“ stellen sich nun mal Fragen und tun dies in einem gesellschaftlichen und politischen Kontext.
Drittens: Niemandem ist es zu wünschen, sich bei einer vorliegenden Schwangerschaft die Frage nach einer Abtreibung stellen zu müssen, aber es passiert. Es passiert schon länger (auch viel länger als in diesem Video erzählt), es passiert häufiger als gedacht. Es ist nicht nur persönlich ein schwieriger Weg dahin und danach. Ein Verbot wie z. B. in Polen ist gefährlich. Schlimmes aufgrund von unterlassenen Abtreibungen kann aber auch woanders passieren – wie in diesem Video über Italien. Auch in Deutschland ist es nicht leicht, einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen, weil immer weniger Ärzt*innen solche vornehmen.
Ich bin keine Juristin, nur wenige Paragraphen des Strafgesetzbuchs haben einen so prominenten Platz in meinem Kopf wie § 218, der Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert, § 218a, der Straflosigkeit in manchen Fällen garantiert; dann wieder § 219 – die Beratungspflicht, und in Deutschland momentan am heißesten diskutiert § 219a, der die sogenannte Werbung verbietet. Die Forderungen, welche Paragrafen zu fallen haben, differieren teilweise auch in der Regierung. §219a soll nach Meinung des Bundeskabinetts wenn möglich noch bis zur Sommerpause fallen. Möge das nach einer gerichtlichen Odyssee einzelner mutiger Ärzt*innen – ganz besonders Kristina Hänel – gelingen. Informationsweiterverbreitung auch zu diesem Thema ist wichtig.
Bis dahin „helfen“ ein paar Videos ansatzweise. Und vielleicht bildet Fernsehen/YouTube doch ein bisschen.
* Übrigens: Es können z.B. auch Väter schwanger sein. Auch dazu ein paar Videoempfehlungen: hier & hier.