Kolumne Gotteskind und Satansbraten

Der unsichtbare Kampf – und warum wir ihn sichtbar machen müssen

Pflegende Eltern führen unsichtbare Kämpfe um Unterstützung und Anerkennung. Daniela Albert schreibt über eine Familie, deren Kampf in unserer Gesellschaft kein Einzelfall ist.

An diesem heißen Sommerabend in der Dachgeschosswohnung sorgt ein Ventilator für angenehm kühle Luft. Ich bin zu Gast bei einer befreundeten Familie. Die eisgekühlten Getränke und der Duft der dampfenden Pizzakartons, die unser Freund gerade vom Italiener um die Ecke geholt hat, tun ihr Übriges. „Fast wie auf der stilvollen Terrasse unseres örtlichen Italieners“, scherzen wir, als wir unsere Pizzen zerteilen.

Doch auf dieser Terrasse werden wir in absehbarer Zeit wohl keinen lauen Sommerabend gemeinsam verbringen können. Genau in diesem Moment piept der Überwachungsmonitors im Nebenzimmer. Unser Freund steht auf und geht hinüber. Seine Frau lächelt schwach und beginnt trotzdem zu essen. „Alles gut“ sagt unser Freund, als er nach wenigen Minuten wieder zu uns kommt. Im Laufe des Essens erfahren wir, dass das jeden Abend so ist. „Solange es nur dieses Piepen ist, ist alles in Ordnung, da zucken wir nicht mal mehr mit der Wimper.“

Wenn ich mir vor Augen führe, was die beiden alles schon erlebt haben, ist der kleine Alarm, der nur signalisiert hat, dass eins der Kabel nicht mehr richtig lag, tatsächlich eine Kleinigkeit. Die Familie ist anderes gewöhnt: Rettungssanitäter und Notärzte, die mitten in der Nacht ins Schlafzimmer stürmen, danach die Fahrt ins Krankenhaus und bange Stunden auf der Intensivstation.

Ihre Tochter leidet unter Epilepsie und hatte deshalb schon öfter Anfälle, die dramatisch waren.

Mittlerweile kann man die Krankheit dank Medikamenten und nächtlicher Überwachung gut kontrollieren. Und trotzdem ist an Normalität für diese Familie nicht zu denken. Neben ihrer Epilepsie leidet ihre kleine Tochter nämlich an einer Störung aus dem Autismusspektrum. Dinge, die für uns selbstverständlich sind, können für sie mitunter reizüberflutend oder beängstigend sein. Familienausflüge, Urlaube, mal Essen gehen oder zur falschen Zeit im falschen Supermarkt einkaufen – undenkbar oder mit größten Schwierigkeiten verbunden.

Die Familie hofft, dass sich ihre Situation deutlich verbessert, wenn sie einen Assistenzhund anschaffen. In einem Testlauf haben sie schon erlebt, wie sehr der Hund ihre Tochter beruhigt und unterstützt. Dadurch könnte die Fünfjährige viel besser am Familienleben teilnehmen – und auch ihre Eltern und ihre große Schwester würden davon profitieren. Die Kosten für die Anschaffung eines speziell ausgebildeten Tieres sind allerdings hoch. Deshalb hat die Familie inzwischen eine Spendenaktion gestartet. Denn leider gibt es dafür keine finanzielle Unterstützung.

Die ungesehenen Kämpfe von pflegenden Familien

Warum erzähle ich das? Weil die Geschichte unserer Freund:innen exemplarisch ist für den ungesehenen Kampf, den Eltern von pflegebedürftigen Kindern täglich austragen und von dem wir in der Regel kaum etwas mitbekommen.

Es geht nicht immer um einen Assistenzhund, aber es geht immer um finanzielle und persönliche Ressourcen: Um Zeit und Kraft, um Unterstützung und Hilfsmittel aller Art, die oft nicht übernommen werden. Es geht um den Kampf für einen Rollstuhl, der für die pflegende Familie besser handhabbar wäre als das Standardmodell und so mehr Teilhabe ermöglichen würde. Den Kampf um Inkontinenzprodukte, die zur Größe und zum Körperbau passen, angenehm zu tragen sind und die Haut nicht schädigen – und deren Kosten ebenfalls nicht übernommen werden. Den Kampf um Schulbegleitung und Fahrdienste, um Verhinderungspflege und Treppenlifte, um einen Umbau des Badezimmers und ein gut verträgliches Medikament.

Es ist ein täglicher Kampf mit Behörden und Ämtern, mit Pflegekassen und Schulen, mit sozialen Diensten und dem nicht barrierefreien Zugang zu öffentlichen Gebäuden.

Es braucht echte Unterstützung

Doch pflegende Eltern erleben noch mehr: Sie kämpfen nicht nur für ihre Kinder, mit ihrem Alltag und gegen bürokratische Hürden. Nicht selten sind sie dabei auch noch sehr einsam. Isoliert, weil Freund:innen nach und nach von der Stange gehen, nicht nachvollziehen können, wie der Alltag der pflegenden Familie aussieht, warum Auszeiten oder mal ein Abend nur für Erwachsene nicht möglich ist. Pflegende Eltern stoßen auf Unverständnis, wenn sie irgendwo nicht dabei sein wollen oder können. Sie müssen sich rechtfertigen, mit Stigmatisierung leben, sich mitunter dumme und übergriffige Fragen gefallen lassen – und immer und immer und immer wieder erklären, warum sie leben, wie sie leben.

Zu Isolation, Unverständnis und Erschöpfung gesellen sich oft auch Unsicherheit und Zukunftsangst. Was passiert, wenn sie selbst krank werden? Wer übernimmt die Pflege? Was, wenn sie sich einmal eine Auszeit nehmen müssten? All diese Fragen bleiben oft unbeantwortet. Es gibt keine einfachen Lösungen, keine schnellen Antworten – und die meisten, die nicht in dieser Situation sind, zucken nur ratlos mit den Schultern.

Dabei wäre es so wichtig, dass diese Eltern Unterstützung bekommen – nicht nur finanziell, sondern auch menschlich. Eine stärkere Vernetzung, mehr Angebote für Entlastung und vor allem mehr Verständnis für ihre Situation wären ein erster Schritt. Denn das, was sie leisten, geht weit über das hinaus, was man als „normalen Elternalltag“ bezeichnen könnte. Sie sind rund um die Uhr im Einsatz, ohne echte Pausen, ohne Feierabend.

Es geht nicht nur um Geld, obwohl auch das eine große Rolle spielt. Es geht darum, dass pflegende Eltern oft das Gefühl haben, von der Gesellschaft vergessen zu werden. Sie stehen im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit, weil ihr Leben so sehr auf die Bedürfnisse ihrer Kinder ausgerichtet ist, dass für anderes kaum Raum bleibt. Sie verzichten nicht nur auf Freizeit oder soziale Kontakte, sondern auch auf ihre eigenen Träume und Wünsche. Alles dreht sich um das Wohl ihres Kindes.

Sie haben keine Wahl: Wir schon!

Vielleicht ist das – neben meiner freundschaftlichen Verbundenheit – einer der Gründe, warum ich die Geschichte meiner Freund:innen derzeit überall teile, selbst gespendet habe und immer wieder darüber grübele, was ich noch tun könnte. Ich möchte auch ein Zeichen setzen, ein Zeichen der Solidarität. Ein Zeichen dafür, dass wir diese Eltern nicht vergessen dürfen. Sie sind es, die in unserer Gesellschaft eine unschätzbare Arbeit leisten – eine Arbeit, die oft unbezahlt und ungesehen bleibt. Es ist Zeit, dass wir ihren Kampf sichtbar machen.

Denn eins ist klar: Gerade solche Schicksale zeigen uns auch, wer wir sind, was unsere Werte sind und worauf es uns im Leben ankommt. Sind Liebe, Fürsorge und die Fähigkeit, auch in schwierigen Momenten füreinander da zu sein, am Ende nur nette Phrasen, mit denen wir uns schmücken, solange es einfach ist oder leben wir sie wirklich? Pflegende Eltern wurden nicht gefragt, ob sie diese Art von Alltag leben und ihren Lebensschwerpunkt auf diese Werte setzen wollen – sie hatten keine andere Wahl.

Und es liegt an uns allen, sie darin zu unterstützen, wo wir können. Sei es durch eine Spende, durch ein offenes Ohr oder durch den Einsatz für bessere Bedingungen für pflegende Eltern in Deutschland. Es gibt vieles, was wir tun können – und es ist an der Zeit, damit anzufangen. Ich werde das Honorar, das ich für diese Kolumne erhalten, für den Assistenzhund der Familie spenden.


Alle Ausgaben der Familienkolumne „Gotteskind und Satansbraten“ von Daniela Albert in der Eule.


Eule-Podcast Q & R mit Daniela Albert

Wie können Kinder und Erwachsene gut miteinander Gottesdienst feiern? Wieviel Medienzeit ist für Kinder angemessen? Was sind Tradwifes und geraten Familien mit konservativen Werten ins Hintertreffen? Im „Eule-Podcast Q & R“ beantwortet Daniela Albert Fragen aus der Leser:innen- und Hörer:innenschaft der Eule.

Daniela schreibt seit 2020 die Familienkolumne „Gotteskind & Satansbraten“ in der Eule, die sich um Familien, Kinder, Jugendliche und ihre Bedürfnisse dreht. Dabei geht es mal um konkrete Erziehungsfragen, mal um das Miteinander in der Kirche und nicht selten um die Frage, was in Politik und Gesellschaft für Familien und junge Menschen geleistet oder versäumt wird.

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