Kirchenaustritte: Kentert die Kirche?

Die Evangelische Kirche hat ihre Mitgliedschaftszahlen für das Jahr 2023 veröffentlicht. Der Abwärtstrend beschleunigt sich. Geht die Kirche vielleicht sogar unter? Eine Analyse.

„Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt, fährt durch das Meer der Zeit“, singen evangelische Christ:innen nun schon seit bald 65 Jahren. Der Klassiker des Neuen Geistlichen Liedes (NGL) huscht mir bei der Betrachtung der neuen Kirchenmitgliedschaftszahlen der evangelischen Landeskirchen unweigerlich durch die Hirnwindungen: „Das Schiff, es fährt vom Sturm bedroht durch Angst, Not und Gefahr, Verzweiflung, Hoffnung, Kampf und Sieg, so fährt es Jahr um Jahr“.

Am Donnerstag hat die Evangelische Kirche ihre Mitgliedschaftszahlen für das zurückliegende Kalenderjahr veröffentlicht. Neben Weihnachten und Ostern sind die Veröffentlichungen der Statistiken von katholischer und evangelischer Kirche traditionelle Anlässe im (publizistischen) Kalender, um über Gegenwart und Zukunft der Kirche nachzudenken. Im Kalender der Kirchen sind die Veröffentlichungstermine als Trauertage angestrichen und werden gerne hinter positiveren Meldungen versteckt: Mal schauen, ob die fast 15.000 Bläser:innen, die am Wochenende im Hamburg zum Evangelischen Posaunentag zusammenkommen wollen, die schlechte Stimmung übertönen werden.

Unverständlich bleibt, warum beide großen Kirchen den Aufwasch nicht wenigstens gemeinsam erledigen, sondern sich das Missvergnügen gleich zwei Mal im Jahr gönnen. Die katholischen Zahlen werden erst in ein paar Wochen veröffentlicht. Vermutlich werden die katholischen Austritte im fünften Jahr in Folge wieder deutlich höher ausfallen als die evangelischen.

Für die evangelischen Landeskirchen als Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) stehen dieses Jahr zu Buche: 380.000 Kirchenaustritte, 340.000 Sterbefälle, 140.000 Taufen, 20.000 Aufnahmen (Wiedereintritte, Übertritte). Daraus ergibt sich ein Schwund von 560.000 Menschen oder rund 3 % der bisherigen Kirchenmitgliedschaft. Insgesamt sind ca. 18,56 Millionen Menschen Mitglied in einer der evangelischen Landeskirchen. Das macht die evangelische Kirche nach der katholischen Kirche (ca. 20 Millionen) zur zweitgrößten Religionsgemeinschaft des Landes.

Erst mit gewaltigem Abstand folgen den beiden großen Kirchen die weiteren christlichen Kirchen und Gemeindebünde sowie muslimische und jüdische Verbände. Keiner von ihnen versammelt mehr als ein paar hundertausend Menschen in seinen Reihen. Glaubt man den Islamverbänden, gibt es in Deutschland immerhin ca. 4,5 Millionen organisierte Muslime. Den größten Anteil an der Gesamtbevölkerung aber stellen seit 2022 „die“ Konfessionslosen mit gut 35 Millionen Menschen.

Multiple Krisen als Austrittsfaktoren

Religions- und Institutionenlandschaft in Deutschland sind im Wandel. Seit dem Herbst 2023 diskutiert man in beiden großen Kirchen anhand der neuesten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6), woran der Rückgang der Kirchenmitgliedschaft nun vornehmlich liegt: Am Rückgang der Religiosität (sog. Säkularisierungsthese) oder am Rückgang der Kirchlichkeit (sog. Individualisierungsthese). Beide Erklärmodelle haben Vor- und Nachteile, fassen also die komplexe Lage je nicht vollständig (mehr dazu hier in der Eule).

Sicher ist: Unser Gemeinwesen verändert sich und mit ihm auch die Kirchen. Benjamin Lassiwe fragt in seinem Kommentar zu den aktuellen Austrittszahlen im Weser-Kurier darum zu Recht nach neuen Formen und Stufen der Kirchenmitgliedschaft, die zu diskutieren sich die Evangelischen schon seit Jahren vorgenommen haben. Sie könnten eine Reaktion darauf darstellen, dass viele Austretende die Höhe der Kirchensteuer als Anlass für ihren Abschied bekunden. Der Nutzen, den sie aus der Kirchenmitgliedschaft ziehen, steht für sie in keinem guten Verhältnis zu den Kosten. Auch das eine Folge des gesellschaftlichen Wandels, denn Geringverdienende, wirtschaftlich Schwache und Familien mit Kindern haben dieses Problem in aller Regel nicht.

Anders als jüngere Menschen, die ihrem Kirchenaustritt häufig eine sachlich-nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung zugrunde legen, verlassen ältere Menschen die Kirche zumeist wegen konkreter Entäuschungen und schlechten Erfahrungen. Deshalb wird die Evangelische Kirche gut beraten sein, weiter an der Qualität ihrer Gemeinde- und Verkündigungsarbeit sowie ihres Engagements für das Gemeinwesen zu arbeiten. Dass hier sehr hohe Erwartungen an die Kirchen formuliert werden, zeigt die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung.

Gelegentlich treten aus der evangelischen Kirche auch Menschen aus, die mit einzelnen politischen Positionierungen nicht einverstanden sind. In der jüngeren Vergangenheit zählen dazu vor allem die Unterstützung der Seenotrettung auf dem Mittelmeer im Bündnis #United4Rescue („Wir schicken ein Schiff“) und die klare Kritik am Rechtsradikalismus und -Extremismus in Gestalt der AfD. Im Jahr 2023 gab es mit der Kirchentagspredigt von Pastor Quinton Ceasar („Gott ist queer“, „Wir sind alle die Letzte Generation“) einen prominenten Anlass für rechtspopulistisch geneigte Personen, ihre Übereinkunft mit der evangelischen Kirche zu überdenken. Die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt jedoch, dass sich rund drei Viertel der evangelischen Christen und Konfessionslosen wünschen, dass sich die Kirchen „für Geflüchtete und die Aufnahme von Geflüchteten“ einsetzen. Umso religiöser die Kirchenmitglieder sind desto stärker wird diese Erwartungshaltung übrigens formuliert.

Dass die katholische Kirche die evangelischen Freunde seit einem halben Jahrzehnt bei den Austrittszahlen abgehängt hat, ist sicher eine Folge des massiven Vertrauensverlusts in die römisch-katholische Amtskirche in Folge der Missbrauchskrise. Darunter leiden auch jene katholischen Institutionen, wie zum Beispiel Frauen- und Jugendverbände, die mit dem Glaubensdikasterium im Vatikan und marodierenden Traditionalisten nichts am Hut haben. In die Kirchenaustrittszahlen für die Evangelische Kirche sind die Auswirkungen der evangelischen Missbrauchskrise bisher weniger deutlich sichtbar eingeflossen. Ob die Veröffentlichung der „ForuM-Studie“ über sexualisierte Gewalt in Kirche und Diakonie im Januar 2024 (wir berichteten) auf die Kirchenaustritte im aktuellen Kalenderjahr durchschlagen wird, werden wir erst noch sehen.

Direkt im Anschluss an „ForuM“ kam es zu einem wahrnehmbaren Spike an Kirchenaustrittserklärungen, hat die Eule aus mehreren Landeskirchen und von unterschiedlichen Ebenen der Kirche erfahren. Aber ob sich dies als Trend über das Jahr hinweg durchziehen wird, hat auch damit zu tun, ob die evangelischen Landeskirchen auf die Befunde der Studie konstruktiv und effektiv reagieren (wir berichteten).

„Das Ziel, das ihm die Richtung weist, heißt Gottes Ewigkeit“

„Im Schiff, das sich Gemeinde nennt, fragt man sich hin und her: Wie finden wir den rechten Kurs zur Fahrt im weiten Meer? Der rät wohl dies, der andre das, man redet lang und viel und kommt – kurzsichtig, wie man ist – nur weiter weg vom Ziel“, fasst das geistliche Liedgut des 20. Jahrhunderts die evangelische Orientierungslosigkeit in den 20ern des 21. Jahrhunderts gut zusammen. Die alljährliche Diskussion der Kirchenmitgliedschaftszahlen unter Zurhilfename be- und geliebter Erklärungen und Interpretamente ist inzwischen selbst zu einer „bürgerlichen Kasualie“ geworden, „die der Selbstversicherung darüber dient, den Verfall der abendländischen Kultur nicht nur miterlebt, sondern auch bezeugt zu haben“.

Drei Befunde der aktuellen Veröffentlichung aber sollten der Evangelischen Kirche und den Menschen, die in ihr Betrieb machen, zu denken geben:

Erstens haben sich im „Jahr der Taufe“ 2023 gut 25.000 weniger Menschen evangelisch taufen lassen als noch im Jahr 2022 – trotz einer gleichlautenden EKD-Kampagne. Die Nachholeffekte nach den Pandemiejahren 2020 und 2021 hatten die Taufzahlen 2022 auf das Vor-Corona-Niveau von 160.000 – 170.000 anwachsen lassen. Davon ist die evangelische Kirche nun weit entfernt. Dass sich das Mühen um die Taufe aber lohnt, zeigt zum Beispiel die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), in der die Zahl der Taufen gegen den Trend zugenommen hat. 7,8 % mehr Taufen als im Vorjahr (2023: 4.968, 2022: 4.608) sind doch ein schöner Erfolg der vielfältigen Bemühungen mit Segensbüro, Kasualfortbildungen und Tauffesten (mehr dazu im Eule-Podcast „RE:“ April 2024). Wie können die evangelischen Kirchen kampagnenfähiger werden, damit sich solche Erfolge nicht nur lokal oder regional ereignen? Und wie kann das Personal in der Fläche sensibel und kompetent mit den (unentdeckten) Kasualbegehren der Leute umgehen?

Zweitens sinken zur Mitte des Jahrzehnts nun nicht mehr „nur“ die Kirchenmitgliedschaftszahlen, sondern auch die Einnahmen durch die Kirchensteuer (minus 5,3 % zum Vorjahr, jetzt 5,9 Milliarden Euro). Nach Jahren der wachsenden Einnahmen kehrt sich der Trend nun also um. Kirchenfinanzer:innen beklagen zwar bereits seit Jahren, dass von den nominell wachsenen Einnahmen nicht zugleich mehr zu kaufen gewesen sei, und die nun für die kommenden Jahre zu erwartenden Rückgänge wurden seit vielen Jahren prognostiziert: Trotzdem stellt der Kirchensteuer-Kipppunkt die Landeskirchen vor große Herausforderungen. Überall muss gespart werden. Rund 60 % des Haushaltes einer Landeskirche werden üblicherweise für Personalkosten aufgewendet. Jede kirchenpolitische Debatte – auch die zur Bewältigung der Missbrauchskrise – ist auch ein Kampf um die Verteilung der knapper werdenden Mittel.

Drittens ist die Kirchenaustritts-Welle mit Sicherheit nicht vorüber: Die Austritte pegeln sich vielmehr offenbar auf hohem Niveau ein. Im kommenden Jahr wird wohl die magische Grenze von 400.000 Kirchenaustritten gerissen, die noch nie überschritten wurde (auch Anfang der 1990er Jahre nicht). Wenn die evangelische Kirche nicht aufpasst, könnte ihr eine Krise wie den katholischen Geschwistern bevorstehen, die im vergangenen Jahr mit 522.000 einen absoluten Kirchenaustrittsrekord vermelden mussten.

Daran, dass die gealterte Kirchenmitgliedschaft – hoffentlich unter kirchlichem Geleit – aus diesem Leben abberufen wird und sich die Austritte auf einem hohen Sockelwert einpegeln, kann die Kirche vielleicht wenig ändern. Aber ihre Geschäfte professionell und verlässlich erledigen und vor allem die Missbrauchskrise mutig angehen, das kann sie wohl. Martin Gotthard Schneider, der Dichter von „Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt“, rät statt zu langem und vielem Reden und wider das Gelärm der Deutungskämpfer:innen: „Doch da, wo man das Laute flieht und lieber horcht und schweigt, bekommt von Gott man ganz gewiss den rechten Weg gezeigt“.


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