Kirchenaustritte: Gemeinsam abwärts

Die Statistiken der katholischen Kirche für das Jahr 2023 zeigen: Die Reformen kommen für viele Menschen zu spät. Eine Analyse der katholisch-evangelischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Krise der Kirchen in Deutschland.

Angesichts der neuesten Kirchenaustrittszahlen der katholischen Kirche scheint vieles vergeblich, vielleicht auch das Schreiben einer Analyse der neuesten Kirchenaustrittszahlen der katholischen Kirche. Erst Anfang Mai habe ich hier in der Eule anlässlich der Veröffentlichung der Statistiken für die evangelische Kirche die Gründe für den Rückgang der Kirchenmitgliedschaft beschrieben. Gibt es bezüglich der Kirchenaustritte überhaupt noch signifikante Unterschiede zwischen den beiden Kirchen?

Die aktuellen Zahlen zeigen, dass sich auch das Ausmaß der Austritte in beiden großen Kirchen auf ähnlichem Niveau einpendelt. Im vergangenen Jahr sind 402.694 Menschen aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten. Das sind 120.000 Menschen weniger als im Rekordjahr 2022 (522.821). Aus der evangelischen Kirche sind 2022 und 2023 je 380.000 Menschen ausgetreten. Aus beiden Kirchen treten also jährlich nun gut doppelt so viele Menschen aus wie noch vor zehn Jahren.

Der Wellenkamm der katholischen Austrittswelle, die ziemlich genau mit der Veröffentlichung der „MHG-Studie“ zum sexuellen Missbrauch in den katholischen (Erz-)Bistümern im Herbst 2018 einsetzte, scheint überschritten zu sein. Die neue Baseline für beide Kirchen ist aber nun nicht mehr die 200.000er-Marke, sondern die 400.000er-Schwelle.

Der Abbruch religiöser Bindungen (Säkularisierung) und die Entfremdung von der Amtskirche, die sich weitgehend reformunfähig und/oder in vielen Fällen unflexibel zeigt (Individualisierung), sind auch in der katholischen Welt die treibenden Kräfte hinter dem Bedeutungsschwund der Kirche und dem damit einhergehenden Schrumpfen der Kirchenmitgliedschaft.

Der Wandel der Religions- und Institutionenlandschaft in Deutschland macht auch vor der katholischen Kirche nicht halt. Die katholischen Milieus, die über Jahrzehnte hinweg die Kirche vor allem in ihren Hochburgen in Bayern und im Rheinland getragen haben, sind fast vollständig weggeschmolzen. Darauf haben sowohl Reform- als auch Restaurationsbemühungen in der Kirche nur einen geringen Einfluss. Trotzdem müssen Fragen nach der Qualität des kirchlichen Handelns in beiden Kirchen gestellt werden. Und nicht zuletzt ist die Kirchensteuer für Mitglieder beider Kirchen ein Auslöser für eine konkrete Austrittsentscheidung. Lohnt sich die Kirchenmitgliedschaft überhaupt noch?

Eine Katastrophe in Zahlen

Ein Blick auf die Zahlen für die Sakramentenspendung in den Kirchenstatistiken zeigt mehr Ähnlichkeit als Unterschiede der beiden großen Kirchen. In der evangelischen Kirche gab es 2023 im Vergleich zu 2022 einen Rückgang der Taufen von 15 % (140.000 statt 165.000). Der Schwund in der katholischen Kirche ist genauso groß (131.245 statt 155.173). Bei den anderen Sakramenten sieht es nicht besser aus: 8.000 weniger kirchliche Trauungen als im Vorjahr, über 10.000 weniger Erstkommunionen und 5.000 weniger Firmungen wurden verzeichnet. Die Zahl der katholischen Bestattungen nahm gar um 14.000 ab.

Nur der Gottesdienstbesuch ist im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2022 leicht gestiegen (2023: 6,2 %, 2022: 5,7 Prozent). Ein statistischer Effekt, der ein wenig den dramatischen Schwund in den vergangenen zehn Jahren verdeckt: 2014 waren es noch fast 11 % der Kirchenmitglieder, die zur Messe gingen, und die Zahl der Mitglieder der katholischen Kirche lag bei 24,2 Millionen, also gut 4 Millionen über der aktuellen Mitgliederzahl (20,34 Millionen).

Auch die Zahl der Priesterweihen hat erneut abgenommen (2023: 38, 2022: 45). Auch hier ist der Vergleich zum Jahr 2014 frappierend: Damals gab es noch 98 Neupriester für die (Erz-)Bistümer und insgesamt 14.490 Priester (2023: 11.702). Nur noch knapp 6.000 Priester sind in Deutschland als Pfarrseelsorger in den katholischen Pfarreien tätig.

Immer weiter abwärts

Seit fünf Jahren übersteigen die Austrittszahlen der katholischen Kirche die der evangelischen Kirche. Hauptursache dafür ist der Skandals des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, auf dem seit der Veröffentlichung der „MHG-Studie“ 2018 über das Missbrauchsgeschehen in den katholischen (Erz-)Bistümern nicht zuletzt der Schwerpunkt der Berichterstattung liegt. Seitdem wurden in einigen der 27 katholischen (Erz-)Bistümer weitere Studien veröffentlicht, weitere Missbrauchsverbrechen und deren flächendeckende und gewohnheitsmäßige Vertuschung bekannt.

Dass sich eine ähnliche Austrittswelle wie in der katholischen auch in der evangelischen Kirche in Folge der Veröffentlichung der „ForuM-Studie“ (Januar 2024) ereignet, ist wenig wahrscheinlich. Die Gründe dafür sind vielfältig (s. hier in der Eule). Ein wichtiger Unterschied: Die evangelische Kirche wurde bereits in den vergangenen zehn Jahren, in denen sie bei der Aufarbeitung hinter der katholischen Kirche rangierte, in „Mithaftung“ für die katholischen Skandale genommen.

Der Tausch an der Spitze der Austrittszahlen ist als historisches Novum jedoch immer noch bemerkenswert, auch wenn sich beide Kirchen nun auf hohem Niveau angleichen. In der gesamten Nachkriegszeit war dies nämlich genau andersherum. Ursächlich dafür waren die stabileren katholischen Milieus, die eine geordnete Weitergabe des Glaubens und der Kirchenbindung garantierten, und eine höhere emotionale Abhängigkeit von der Institution Kirche als Glaubens(ver)mittlerin. Wie stehen die Katholik:innen heute zu ihrer Kirche?

Reformen kommen zu spät

Auch heute noch hängen auch und besonders engagierte Reformer:innen, die mit Lehre und Struktur ihrer Kirche kaum mehr etwas anfangen können, doch noch an ihrer Kirche. 86 % der Katholischen sind der Meinung, ihre Kirche solle homosexuelle Partnerschaften segnen. 95 % meinen, die katholische Kirche sollte die Heirat von Priestern zulassen. 87 % der Katholik:innen wünschen sich demokratische Wahlen von Führungspersonen in ihrer Kirche. Warum in einer Kirche bleiben, in der diese Forderungen fromme Wünsche bleiben?

Extra ecclesiam nulla salus – außerhalb der Kirche kein Heil – das haben auch jene Katholik:innen tief verinnerlicht, die ihrer Kirche misstrauen, die deshalb trotzdem bleiben und insbesondere einen Übertritt in andere christliche Kirchen ausschließen, in denen ihre Forderungen und Wünsche längst Realität geworden sind. Die Katholik:innen handeln, wie es Udo Lindenberg und Apache 207 in ihrem Song „Komet“ besingen: „Vielleicht tut es weh, doch will auf Nummer sicher geh’n, dass ich für immer leb“.

Laut der neuen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6), die im vergangenen Jahr erstmals gemeinsam von der evangelischen und katholischen Kirche veröffentlicht wurde, sind viele Katholik:innen überzeugt, ihre Kirche müsse sich „grundlegend verändern, wenn sie eine Zukunft haben will“. 70 % aller Katholischen stimmen dieser Aussage zu, weitere 26 % stimmen eher zu. 96 % der Katholik:innen wünschen sich also Veränderungen in ihrer Kirche (evangelisch: 80 %).

Zugleich sind nur 7 % der Katholischen der Überzeugung, die Veränderungen der vergangenen Jahre „gingen schon in die richtige Richtung“. Weitere 42 % stimmen dieser Aussage eher zu. Nur die Hälfte der Katholik:innen ist mit den Fortschritten zufrieden, die zum Beispiel auf dem Synodalen Weg der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) beraten wurden. Zum Vergleich: 78 % der Evangelischen in Deutschland sind der Meinung, ihre Kirche entwickle sich in die „richtige Richtung“ (12 % stimmen zu, 66 % stimmen eher zu). Die Reformwünsche der Evangelischen sind obendrein wesentlich unspezifischer als die ihrer katholischen Geschwister und eher auf das praktische Handeln ihrer Kirche in Seelsorge und Gemeindearbeit gerichtet denn auf grundlegende Strukturfragen und theologisch-antropologische Kernpunkte der Verkündigung. Statt Enttäuschung herrscht bei den Austrittswilligen in der evangelischen Kirche Indifferenz gegenüber ihrer Kirche vor.

Die bleibend hohen Austrittszahlen aus der katholischen Kirche – auch nach dem Abebben der „MHG“- und Missbrauchsaustrittswelle – könnten als Zeichen dafür gewertet werden, dass die zaghaften Reformen in der Kirche zu spät kommen. Bei vielen Reformer:innen hat sich angesichts der Absagen aus dem Vatikan an weitreichende Veränderungen von Sexualmoral, Amtsverständnis und Demokratiekultur der Kirche und des Bremsens einiger Bischöfe eine massive Ernüchterung breitgemacht. Selbst als „Simulation“ von Beteiligung und Reformen (Norbert Lüdecke) hat der Synodale Weg offenbar nicht funktioniert. Die meisten Katholik:innen blicken sehr nüchtern auf die Ergebnisse dieses neuesten Dialogprozesses zwischen Laien-Verbänden und Bischöfen.

Es häufen sich die Geschichten von Menschen, die der Kirche hochverbunden sind, und trotzdem gehen. Nach der jüngsten Aufregung um die Pfadfinderin Viola Kohlberger (s. #LaTdH vom 28. April) bekannten viele junge Menschen, für sich keine Zukunft mehr in der Kirche zu sehen. Bei katholisch.de berichtet Winfried Wingert, der 40 Jahre lang als Pastoralreferent in der katholischen Kirche tätig war, von seinen Beweggründen für den Kirchenaustritt. „Ich bin weiter katholisch, das kann ich nicht abstreifen“, erklärt er trotz seines Abschieds. „Und wenn ich geh, dann so, wie ich gekommen bin“, singen Udo Lindenberg und Apache 207. Dass so viele Katholik:innen keine andere kirchliche Heimat finden, ist eine doppelte Tragik der Kirchenkrise in Deutschland.


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