Stolpersteine in Berlin mit Gedenkkerze und Rose (Foto: Christoph Strack)

9. November 2023

„Die unheimliche Aktualität des Gedenktags“: Wie gedenken wir der Novemberpogrome von 1938, währenddessen in Israel ein Pogrom noch immer nicht zu Ende gegangen ist?

Wie in jedem Jahr wird am 9. November der Pogrome des Jahres 1938 gedacht. In den Tagen vor und nach dem 9. November 1938, vor allem aber in der Nacht auf den 10. November wurden angeführt von der SA der NSDAP tausende jüdische Geschäfte und Privatwohnungen zerstört und geplündert, hunderte Synagogen und jüdische Einrichtungen demoliert und in Brand gesteckt, Friedhöfe geschändet. Mehrere hundert Jüdinnen und Juden wurden ermordet und nahmen sich das Leben, mindestens 30.000 wurden festgenommen und anschließend in Konzentrationslager deportiert. Die Novemberpogrome stellen einen Wendepunkt in der Judenverfolgung während des Nationalsozialismus dar: Aus einer Politik der systematischen Ausgrenzung wurde eine Politik der Vernichtung.

„Wehret den Anfängen!“ und „Nie wieder!“ wird heute bei Demonstrationen und Andachten wiederholt, auf Social-Media-Sharepics geteilt, hoffentlich auch bedacht. „Die unheimliche Aktualität des Gedenktags veranlasst uns, eine Selbstverständlichkeit zu betonen: Jüdisches Leben muss in Deutschland unbeschwert möglich sein“, schreibt die Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche (VELKD) zum Gedenken an die Novemberpogrome. Jüdisches Leben. Das sind zuerst lebendige Jüdinnen und Juden, Bürger:innen dieses Landes und internationale Gäste: „Es ist unerträglich, wenn mitten in deutschen Großstädten antisemitische Parolen gegrölt und plakatiert werden, wenn Synagogen, jüdische Friedhöfe und Mahnmale polizeilich beschützt werden müssen […]“. „Unerträglich“ ist es, sagt die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus, „dass 85 Jahre nach der Reichspogromnacht, Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Grund haben, den Gang auf die Straße zu fürchten, dass sie Sorge um ihre Kinder in Kindergärten und Schulen haben“.

Die Novemberpogrome und die Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden heute sind nicht unheimlich. Es geschah und geschieht in unseren Nachbarschaften, im Licht der Öffentlichkeit, unter Beteiligung Vieler und begleitet von Gejohle und stiller Zustimmung. „Antisemitismus, egal in welcher Form“, so die EKD-Ratsvorsitzende, „darf in Deutschland keinen Platz haben.“ Un-heimlich, nicht bei uns beheimatet, so hätten wir den Antisemitismus gerne. Aber er ist da. Stumpf deutsch, wie er es auch vor 85 Jahren war.

Christlicher Antisemitismus

Wie gedenken wir der Novemberpogrome von 1938, währenddessen in Israel ein Pogrom noch immer nicht zu Ende gegangen ist? „Gerade den Antisemitismus, der mit berechtigter wie überzogener Kritik an der Politik des Staates Israel verbunden ist, haben evangelische Christen lange nicht ausreichend sensibel wahrgenommen“, erklärte vor drei Jahren der Antisemitismusforscher Klaus Holz im Eule-Interview. Wer heute bei Demonstrationen, in und vor Synagogen und mit Jüdinnen und Juden der Novemberpogrome von 1938 gedenkt, der kommt an der Realität des Pogroms vom 7. Oktober 2023 nicht vorbei. Denn es ist noch nicht vorbei. Israelische Geiseln befinden sich weiter in der Gewalt der Hamas, die Toten und Verletzten sind noch nicht gezählt, die Re-Traumatisierung setzt sich weiter fort. Wer heute der Novemberpogrome von 1938 erinnert, wird vor dem israelbezogenen Antisemitismus in diesem Land warnen müssen: dem von Muslimen und dem von Christen.

Die Kirchen in Deutschland sprechen sich seit der Shoah und verstärkt seit den 1980er Jahren deutlich gegen Judenfeindschaft und für die Solidarität mit Jüdinnen und Juden aus. Trotzdem sind unter Christen die Zustimmungsraten zu antisemitischen Äußerungen ähnlich hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt. „Wehret den Anfängen!“ bedeutet in den Worten von Klaus Holz, „eigene Glaubensgewissheiten und Überzeugungen in Frage zu stellen“: „Antisemitismus wahrzunehmen bedeutet, es sich nicht einfach zu machen.“ Viel zu einfach und billig ist es, den Antisemitismus vor allem bei jungen Muslimen in Deutschland zu sehen. Widersinnig obendrein: Antisemitische Vorurteile wurzeln tief in der christlich geprägten deutschen Gesellschaft, werden über Generationen hinweg weitergegeben, sind zudem bei älteren Menschen stärker verbreitet als bei jüngeren.

„Jüdisches Leben muss in Deutschland unbeschwert möglich sein“ – dieser Satz aus der sehr reflektierten und stimmigen Botschaft der VELKD-Bischofskonferenz stimmt mich nachdenklich: Zunächst, weil er die Floskel vom „jüdischen Leben“ enthält. Hinter ihr verschwindet allzu leicht, dass im „Gedächtnistheater“ der deutschen Erinnerungskultur die lebendigen Jüdinnen und Juden kaum vorkommen und ihnen von der (christlichen) Mehrheitsgesellschaft klar definierte Rollen zugewiesen werden. Aus der Perspektive der ostdeutschen Provinz, in der ich lebe, denke ich bei diesem Satz aber auch an die Orte, an denen kein jüdisches Leben mehr ist, und das Gedächtnis trotzdem und gerade deshalb wach gehalten werden muss.

Am Nachmittag des 9. November 1938 begannen die Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte und die Überfälle auf Jüdinnen und Juden in ihren Wohnungen in vielen kleinen Städtchen in der Mitte Deutschlands – in Hessen, Anhalt, Thüringen. Um 15 Uhr wurden die Synagoge und das Gemeindehaus der Jüdischen Gemeinde in Dessau angezündet. Vor wenigen Tagen erst wurde in der anhaltinischen Stadt eine neue Synagoge im Beisein des Bundeskanzlers eingeweiht.

Doch in vielen Städten und Ortschaften in der Mitte Deutschlands leben heute keine Jüdinnen und Juden mehr. Das Vernichtungswerk am europäischen Judentum, von den Deutschen und ihre europäischen Helfern unternommen, wirkt bis heute nach. Auch in der DDR waren die Juden nicht gut gelitten. Ihre Synagogen und Gemeindehäuser wurden abgerissen oder umgenutzt. Manche dienen heute als Gedenkstätten oder Museen, um die sich rührige Bürger:innen kümmern. Es leben keine Juden mehr in ihrer Nachbarschaft. Die Stolpersteine vor den Häusern, in denen sie einst lebten, bevor sie von ihren christlichen Nachbarn verraten wurden, sind Gedächtniszeichen wie auch die Andachten, die wenige Bürger:innen, Christen und Vertreter:innen von Kommunen an Denkmälern und auf Friedhöfen halten.

„Denn wir sind von gestern und erkennen nichts …“

Seit dem Jahr 2018 gehört der Tag des Gedenkens an die Novemberpogrome zu den offiziellen Gedenktagen der Evangelischen Kirchen in Deutschland. 80 Jahre brauchte es dafür. Zu einem staatlichen Gedenktag, an dem die Arbeit zu ruhen hat, ist der 9. November noch immer nicht erklärt worden, trotz seiner vielen unterschiedlichen Facetten – trotz der Rede vom „Schicksalstag der Deutschen“. Die Ausrufung der Deutschen Republik 1918, Hitler-Ludendorff-Putsch in München vor genau 100 Jahren, Novemberpogrome 1938, Mauerfall 1989. Marek Halter schreibt in seinem kleinen Büchlein „Alles beginnt mit Abraham – Das Judentum mit einfachen Worten erzählt“:

„Sage ich ‚Gedächtnis‘, dann denke ich dabei an die Geschichte. An die Geschichte, die uns die Vergangenheit enthüllt, welche ihrerseits wiederum die Gegenwart erhellt. ‚Denn befrage doch die vorige Generation‘, heißt es im Buch Hiob, ‚und habe acht auf das, was ihre Väter erforscht haben. Denn wir sind von gestern und erkennen nichts …‘ (Hiob 8, 8-9). Sich auf das Gedächtnis zu berufen, heißt die Geschichte zu denken. Die ganze Geschichte, mit allem Guten und Bösen als Quellen von Lehren und Bezügen.“

Marek Halter erklärt das Durchdenken der Geschichte am Beispiel des Tisha BʾAv, dem neunten Tag des Monats Aw des jüdischen Kalenders, an dem im Jahre 586 vor unserer Zeitrechnung der erste Tempel und im Jahre 70 der zweite Tempel in Jerusalem zerstört wurden. So habe es sich auch mit weiteren Katastrophen verhalten: „die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 sowie das von Kosaken veranstaltete Massaker im Jahre 1648, all das geschah jedesmal am neunten Tag des Monats Aw. Durch die Wiederholungen bildet dieses Schicksalsdatum für die Juden einen festen Markstein im Fluß der Zeit.“

Das Pogrom, das am 7. Oktober 2023 von der Hamas ins Werk gesetzt wurde, nahm mit dem Beginn des Jom-Kippur-Krieges von 1973 ein anderes historisches Datum zum Fixpunkt. Auch Terroristen lieben historische Analogien, wollen ihr Zerstörungswerk in die Geschichte einschreiben. Die Geschichte zu denken, heißt um die Existenz des Bösen zu wissen. Schicksalshaft ist das Böse trotz unheimlicher Wiederholungen nie: Es waren immer konkrete Menschen, die den Juden Gewalt antaten, Pogrome und Massaker veranstalteten, ihre Ausweisung oder Internierung dekretierten und treulich ausführten, ihre Asyl-Gesuche ablehnten, ihre Wohnungen und G’tteshäuser in Brand steckten, sie erschlugen, vergewaltigten, verschleppten und ermordeten.

Das Gesetz des Buches

„Geschichte ohne Erhellung durch das Gesetz hat keinen Sinn“, erklärt Marek Halter: „Mein Gedächtnis weiß um die Existenz des Bösen, das den Menschen heimsucht“ und „um die des Gesetzes, das ihm im ‚Buch‘ gegeben wurde, um ihn vor dem Bösen zu bewahren“. Am 9. November 2023 der Novemberpogrome vor 85 Jahren zu gedenken, geht nur im Angesicht Israels und in Solidarität mit Jüdinnen und Juden in Deutschland und Israel. Und dort wo es durch unsere deutsche und christliche Missetat kein lebendiges Leben von Jüdinnen und Juden mehr gibt, ist es an den Christen, das Gedächtnis wach zu halten. Die lutherische Bischofskonferenz schreibt:

„Wir sehen uns in besonderer Verantwortung, im Erinnern an die schreckliche Geschichte der Deutschen im Umgang mit Jüdinnen und Juden für ein Miteinander aller Menschen im Geist der Nächstenliebe zu werben – ein Gebot der Tora, das Jesus als ›höchstes Gebot‹ unterstreicht.“

Wie gedenken wir der Novemberpogrome, währenddessen ein Pogrom stattfindet? Wie kann ein christliches Gedenken ohne Übergriffigkeit aussehen? Und wie ein deutsches Bedenken der aktuellen Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, ohne die Schuld von Gestern auszulöschen? Stolpersteine putzen, auf Solidaritäts-Demos Gesicht zeigen, in stillem Gedenken die Leere und die Schuld aushalten, das Gesetz des Buches hochhalten:

„Angesagt hat mans dir, Mensch, was gut ist, und was fordert ER von dir sonst als Gerechtigkeit üben und in Holdschaft lieben und bescheiden gehen mit deinem Gott!“ (Micha 6,8)


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