Kirche

Joseph Ratzinger: Ein Freund der Sektierer?

Papst Benedikt XVI. träumte von einer entweltlichten Kirche. In den neuen geistlichen Gemeinschaften sah er dieses Ideal verwirklicht und war deshalb blind gegenüber deren Fundamentalismus und Verbrechen.

Während Gläubige und Besucher:innen im Petersdom an seinem Leichnam Abschied von Papst emeritus Benedikt XVI. nehmen, ist der Streit um sein theologisches und kirchenpolitisches Erbe erneut aufgeflammt. Der Abschied von Joseph Ratzinger gibt Anlass, sich seine Überzeugungen und die daraus resultierende Kirchenpolitik erneut vorzunehmen. Was meinte er mit „Entweltlichung der Kirche“ und welche charismatischen Gruppen konnten sich auch aufgrund dieser kirchenpolitischen Agenda im Herzen der katholischen Kirche etablieren?

Wer verstehen will, was Joseph Ratzinger mit „Entweltlichung der Kirche“ meinte, kommt an seiner Freiburger Rede vom 25. September 2011 nicht vorbei. Bei einer Begegnung mit engagierten Katholik:innen sprach der damalige Papst über die Sendung der Kirche, ihren Auftrag in unserer Zeit. Benedikt XVI. forderte: „Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muß die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von […] ihrer Verweltlichung zu lösen und wieder offen auf Gott hin zu werden.“

Idealbild einer armen Kirche

Wer Ent-Weltlichung im Sinne Ratzingers verstehen will, muss also nachvollziehen, was er mit Ver-Weltlichung meint. In der Freiburger Rede geht es ihm nicht um einen Abschied von der Welt oder einen Rückzug der Kirche oder ihrer Werke aus Öffentlichkeit und Gesellschaft, sondern um eine mit dem Evangelium und den Kirchenlehrern begründete Institutionenkritik.

Adressatin dieser Kritik Benedikts in der Freiburger Rede war sicher besonders die katholische Kirche in Deutschland: „[Die Kirche] gibt nicht selten Organisation und Institutionalisierung größeres Gewicht als ihrer Berufung zu der Offenheit auf Gott hin, zur Öffnung der Welt auf den Anderen hin“. In diesem Zusammenhang lobt Ratzinger sogar die Säkularisierungsbewegungen der vergangenen Jahrhunderte, weil sie zur „Läuterung und inneren Reform“ der Kirche „wesentlich beigetragen haben“.

Wie sein Nachfolger Papst Franziskus spricht Benedikt von einer armen Kirche, „die sich zur Welt geöffnet hat, um sich von ihren materiellen Bindungen zu lösen“ und deren „missionarisches Handeln wieder glaubhaft“ wird: „Die von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“ Die Freiburger Rede wurzelt in einem dialektischen Welt-Kirchen-Verständnis, das die von Christus erwählten Gläubigen im Gegenüber zur (und Streit mit) der Welt sieht. Aber sie könnte ebenso gut als Vorwort für zahlreiche Kirchenreformen und fresh expressions funktionieren, deren Anliegen es ist, den Glauben neu und anders in der Welt zu leben.

Ratzinger entwirft das Bild einer inkarnatorischen Kirche, die „sich immer neu den Sorgen der Welt [öffnet], zu der sie ja selber gehört“, weil sie Teil der „Hinwendung des Erlösers“ an die Welt ist. Sie soll jede „Taktik“ ablegen und „nach der totalen Redlichkeit suchen, die nichts von der Wahrheit unseres Heute ausklammert oder verdrängt“. Die Kirche muss den Glauben in der „Nüchternheit des Heute“ leben, erklärt Benedikt, und von ihm „abstreifen“ was nur „scheinbar Glaube, in Wahrheit aber Konvention und Gewohnheit ist“. Die altertümliche Sprache mag sich von der Diktion post-moderner Kirchendiskurse unterscheiden, das Ideengebäude aber gleicht sich. Und so neu sind seine Ideen, man denke an Dietrich Bonhoeffer, auch nicht.

Die Freiburger Rede aufmerksam zu lesen, könnte das interkonfessionelle Gespräch der Kirchen, die sich denselben Herausforderungen in einer zunehmend kirchendistanzierten Gesellschaft gegenüber gestellt sehen, allerdings tatsächlich weiterführen. Über die Diagnose des damaligen Papstes lässt sich ebenso trefflich diskutieren wie über seinen Lösungsvorschlag. Auch wenn man nicht jeder Spitze folgen mag, wie z.B. dass eine „vollwertige Zuwendung zum Mitmenschen“ nur durch eine „tiefe Beziehung zu Gott“ möglich wird. Die Freiburger Rede bleibt interessant für alle, die sich mit der Frage der Zeitgenossenschaft der Kirche befassen, also von der Kirche fordern, die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen.

Ratzinger als Suchender

Wie aber sieht die Realität dieses kirchenpolitischen (ekklesiologischen) Programms in Ratzingers Leben und Wirken aus? Zunächst wird man festhalten müssen, dass Ratzinger auf dem großen Spielfeld der Kirchenpolitik und erst recht als Papst wenig getan hat, um seine Kirche dem Idealbild einer armen Kirche anzunähern. Dazu war er selbst zu verliebt in die Schönheit elaborierter Liturgien, in Prunk und Protz, letzlich zu sehr gebunden an eine triumphalistische Christologie. Nicht das Bild des armen Wanderpredigers und am Kreuz erniedrigten Jesus, sondern das des auferstandenen Christus prägt die Theologie Ratzingers. Die Kirche soll in ihren Vollzügen einen Widerschein vom Glanz der Ewigkeit geben, der sich in Ratzingers Ästhetik aber nur schwer von Kitsch und Schwulst unterscheiden lässt.

Als Mensch war Joseph Ratzinger auf der Suche nach einer Kirche, die ihm ein Zuhause werden sollte, und unterschied sich darin nicht von Menschen, die auch heute nach einem authentischen Glaubensort suchen. Deshalb begeisterte er sich früh für die sog. neuen geistlichen Gemeinschaften (NGG). Wie Doris Reisinger und Christoph Röhl in ihrem Buch „Nur die Wahrheit rettet“ (Rezension in der Eule) erklären, lernte Ratzinger „eine ganze Reihe von ihnen in einer für ihn schwierigen Periode nach dem Konzil kennen“. Damals waren die Gemeinschaften, die heute in vielen katholischen Bistümern aktiv sind, noch „klein und unbedeutend“. Wachstum und Machtzuwachs dieser Gemeinschaften sind ohne Ratzingers ausgiebige Förderung nicht zu verstehen.

In den NGG fand Ratzinger das für ihn attraktive Zusammentreten einer der Welt entrückten Lebensgemeinschaft und einer emphatisch gelebten Frömmigkeit vor, die sich vorbehaltlos auf Christus als Sieger bezieht, der die so oft als feindlich wahrgenommene Welt „überwunden“ hat. Das Aggiornamento der Kirche hingegen, ihre Öffnung zur Welt hin, nahm Ratzinger direkt im Anschluss an das Konzil als Bedeutungsverlust der Kirche wahr: „Die Dynamik schien jetzt ganz woanders zu sein, wo Menschen unter Berufung auf ihre eigene Kraft – und ohne Bezug zu Gott – versuchten, eine bessere Welt für die Zukunft zu gestalten […].“ Im Rückblick deutete Ratzinger das Auftreten der NGG als Wirken des Heiligen Geistes, der „sich sozusagen selbst wieder zu Wort gemeldet“ hatte: „Gerade in jungen Menschen brach der Glaube neu auf, ohne Wenn und Aber, ohne Ausflüchte und Vorbehalte, sondern in seiner Totalität als kostbare, lebenspendende Gabe.“

Gemeinschaften wie der „Neokatechumenale Weg“ (NKW), „Comunione e Liberazione“ und die „Fokolar-Bewegung“ sind als geistliche Aufbrüche und erweckliche Gemeinschaften gleichwohl weder in der Kirchengeschichte singulär noch zeit-untypisch. Von Ende der 1950er bis in die 1970er Jahre hinein gab es in allen Religionen und Geistesströmungen geradezu einen Boom experimenteller Lebens- und Glaubensgemeinschaften. Verbindendes Charakteristikum dieser so unterschiedlichen progressiven oder regressiven Gruppen ist ihre Überzeugung, Teil einer irgendwie gearteten Gegenkultur (counterculture) zu sein.

Für Orientierung suchende (junge) Menschen sind solche Gruppen bis heute genauso attraktiv wie für den nach dem Konzil enttäuschten Joseph Ratzinger: „In den neuen Gemeinschaften schien wieder ganz klar, was gut und falsch, was katholisch und nicht katholisch war, […] und diese völlige Klarheit brachte eine ebenso völlige Gefolgschaft mit sich“, analysieren Reisinger/Röhl, mit den NGG „kam genau die Totalität zurück, die die alten [auf dem Konzil] hinter sich gelassen hatten“. Sie entsprachen Ratzingers Idealbild der Kirche so sehr, „dass man ihn nicht nur als ihren langjährigen Freund und Förderer, sondern zugleich als einen ihrer wichtigsten Stichwortgeber und Inspiratoren bezeichnen kann“.

Nähe macht blind

In Kontakt mit Gruppen wie der „Katholischen Integrierten Gemeinde (KIG)“ kam Ratzinger schon als Theologieprofessor in Regensburg Ende der 1960er Jahre, als Erzbischof von München und Freising sorgte er für deren kirchenrechtliche Anerkennung. Zugleich vertieften sich die Beziehungen zum „Neokatechumenalen Weg“ und zur geistlichen Familie „Das Werk“. In engen Kontakt mit der italienischen Bewegung „Comunione e Liberazione“, einer erzkonservativen Gruppe mit politischen Ambitionen, trat er während seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation in den 1980er Jahren.

Ratzingers Aktivitäten in und zugunsten der neuen geistlichen Gemeinschaften zeichnen Reisinger/Röhl in einem eigenen Kapitel ihres Buches nach. Ihre Recherchen sind nicht allein deshalb bedeutsam, weil der Machtzuwachs dieser Gruppierungen in Vatikan und römisch-katholischer Weltkirche ohne die Unterstützung Ratzingers kaum zu erklären ist, sondern weil die NGG als Tatorte von Finanzskandalen sowie geistlichen und sexuellen Missbrauchs traurige Bedeutung erlangt haben. Für die Gefahren eines Gemeinschaftslebens „ohne Wenn und Aber“ blieb Joseph Ratzinger Zeit seines Lebens weitgehend blind. Wenn er sich doch distanzierte, wie zuletzt von der „Integrierten Gemeinde“, dann nur, weil es überhaupt nicht mehr anders ging und unter Verschleierung seiner tatkräftigen Mitarbeit in der Vergangenheit.

Ratzinger und die „Integrierte Gemeinde“

Der Gewaltgeschichte der „Katholischen Integrierten Gemeinde“ geht der Bayerische Rundfunk mit einem Dokumentarfilm (Mediathek) und einem siebenteiligen Podcast (Audiothek) ausführlich nach.

Den Recherchen zufolge wurde Kardinal Ratzinger 2003 in mehreren Briefen über schwerwiegende Fehlentwicklungen in der Gruppe ins Bild gesetzt, u.a. von seinem Nachfolger als Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter. Erzbischof Gänswein erklärte, Benedikt XVI. könne sich an dessen Brief nicht mehr erinnern. Erst im Herbst 2020 distanzierte sich der nun lange schon emeritierte Papst erstmals öffentlich von der „Integrierten Gemeinde“. Er sei über manches in ihrem Innenleben „nicht informiert oder gar getäuscht“ worden, was er bedaure.

Trotzdem Ratzinger über viele Jahre hinweg immer wieder vor den „sektiererischen und fundamentalistischen Tendenzen“ in den NGG gewarnt wurde und sich Betroffene geistlichen und sexuellen Missbrauchs oder deren Familien an die Glaubenskongregation und ihn persönlich wandten, hielt er stets an seiner Unterstützung der Gemeinschaften fest. Reisinger/Röhl zeichnen in ihrem Buch auch diese Geschichte des bewussten Ignorierens von Warnungen nach, selbst wenn diese von Seiten ehemaliger Schüler, wie dem Theologen Wolfgang Beinert, ausgesprochen wurden.

Wenn Ratzinger gegen die schlimmsten Auswüchse des Missbrauchs in charismatischen Gruppen vorging, wie gegen den Gründer der Legionäre Christi Marcial Maciel, schützte er zugleich deren gewachsene Strukturen. Und wo Ortsbischöfe und konkurrierende Hierarchen im Vatikan dem Einfluss der NGG Riegel vorschoben, löste Ratzinger sie wieder. Hier wie auch beim Missbrauch durch „Weltpriester“ waren es für Ratzinger stets Einzeltäter, die durch den Missbrauch vor allem ihre eigentliche geistliche Berufung verrieten. In der Freiburger Rede beklagt Benedikt 2011, dass die Botschaft des Glaubens von den „Skandalen der Verkünder des Glaubens“ überdeckt würde, von der „Unbotmäßigkeit der Boten“. Das ist zweifelsohne schön formuliert, verdeckt aber die systemischen Ursachen von Missbrauchsverbrechen.

Zu ihnen gehören die geistliche Enge, das hierarchische Machtgefälle, die physische und psychische Abgeschiedenheit und Abhängigkeit in den NGG und ihr Elitismus gewiss genauso hinzu wie der in allen Gemeinschaften gelebte Führerkult um ihre GründerInnen – zu denen Ratzinger nicht selten in engem Kontakt stand oder gar bewundernd aufschaute.

Die heilige Familie

Probleme mit und Verbrechen in den Gemeinschaften sind seit Jahrzehnten gut dokumentiert. Wer sehen wollte, konnte es. Als Erzbischof und Präfekt der Glaubenskongregation war es zudem eigentlich eine der zentralen Pflichten Ratzingers, „Perversionen des Glaubens“ entgegenzutreten. Erzbischof Georg Gänswein, Ratzingers langjähriger Privatsekretär, bemüht immer wieder das Bild eines aufmerksamen Gärtners, um dessen Aufgabe als Präfekt und Glaubenslehrer zu beschreiben: „Mitunter muss Hand angelegt und das Baumwerk beschnitten werden, damit es nicht zum Wuchern kommt.“ Wenn es um den Wucher in den NGG ging, sah sich Joseph Ratzinger dazu fast immer außer Stande.

„Familie ist für Joseph Ratzinger / Papst Benedikt ein Schlüsselbegriff seiner Theologie, aber auch seines menschlichen Lebens“, erklärte Gänswein im Dokumentarfilm „Verteidiger des Glaubens“ von Christoph Röhl (Rezension in der Eule, ZDF-Mediathek). Weniger positiv, nämlich als „unreflektierte Kindheit“, deutet die Suche Ratzingers nach einer heilen Familienwelt der Theologe Hermann Häring. Nach dem Tod seiner Schwester Maria, die ihn als Professor, Bischof und Präfekten umsorgte, wurde die Haushaltsführung Ratzingers und später auch die Pflege des emeritierten Papstes bis zuletzt von Schwestern der Gemeinschaft „Memores Domini“ übernommen, die zur Bewegung „Comunione e Liberazione“ gehören. Seinen Schriftverkehr besorgte über Jahrzehnte Birgit Wansing, eine Schwester der Schönstatt-Gemeinschaft.

Bei Besuchen von NGG und in persönlichen Begegnungen mit ihren GründerInnen und Mitgliedern fühlte sich Ratzinger/Benedikt XVI. immer wieder wie im Kreise seiner Familie und konnte sich hinter verschlossenen Türen als ganzer Mensch öffnen, beschreiben Doris Reisinger und Christoph Röhl in „Nur die Wahrheit rettet“. Für menschliche Nähe und Zuwendung war Joseph Ratzinger ebenso empfänglich wie andere Menschen, aber vielleicht aufgrund seiner Disposition anfälliger dafür, ein Ausnutzen des einmal gewährten Vertrauensverhältnisses nicht zu erkennen.

Machtmissbrauch, Gewalt und Verbrechen in unmittelbarer Nähe wahrzunehmen, fällt Menschen viel schwerer als sie in unbestimmter Ferne zu erkennen und treffend einzuordnen. Gleichwohl gründen Joseph Ratzingers Nähe und Unterstützung für die NGG ganz sicher nicht allein in seiner Sehnsucht nach familiären Strukturen, sondern auch  – wie die Freiburger Rede eindrücklich zeigt – in seinen ekklesiologischen Überzeugungen, in seiner Vision von einer entweltlichten Kirche. Darum muss auch sie, trotz mancher progressiv anmutender Momente, gründlich auf ihre Gefahren hin überprüft werden.


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